Der Staat und der Tod
Das Fallbeil
Alle vier Siegermächte, die Deutschland bei Kriegsende besetzten, hatten in ihrer heimischen Rechtsprechung die Todesstrafe vorgesehen. Deshalb galt nach dem Mai 1945 die Höchststrafe, die die Nazis praktiziert hatten, in den vier Besatzungszonen praktisch weiter. Dabei waren alle unter Hitler erlassenen Gesetze außer Kraft gesetzt worden. Doch durch diesen Generalakt galt wieder die Rechtspraxis von vor dem 30. Januar 1933. Nach dem Reichsstrafgesetzbuch von 1871 stand auf Mord ohne mildernde Umstände die Todesstrafe durch das Fallbeil.
Wahrscheinlich hätten die Siegermächte sie in Deutschland auch praktiziert, wenn sie sie zu Hause abgeschafft hätten (die UdSSR schaffte sie zwar 1947 als »Beispiel von wahrem sozialistischem Humanismus« ab, führte sie aber 1950 wieder ein, so wie schon zwei Mal zuvor). Schließlich stand Europa noch unter dem Eindruck des schrecklichsten Krieges der Geschichte – und, so hart das auch klingen mag, ein Menschenleben galt nicht viel, solange immer noch täglich viele starben und Tausende Leichen in den KZ gefunden wurden. Im Übrigen befürchteten die Besatzungsbehörden Aufstände und soziales Chaos mit allen kriminellen Begleitumständen. Also hielten sie die Beibehaltung der Todesstrafe in Deutschland schon aus Abschreckungsgründen für unabdingbar. Nicht nur für Mord und schweren Raub – auch für Sabotage, für unerlaubten Waffenbesitz, für Gefangenenbefreiung, für das unerlaubte Tragen von Uniformen der Siegermächte und für das Vernichten von Akten. Hier ging es also um die Sicherheitsinteressen der Besatzer.
Zwischen Kriegsende und der Gründung der beiden Staaten wurden zahlreiche Hinrichtungen vollzogen. Allein in der britischen Zone gab es in den ersten eineinhalb Jahren der Besatzung 166 Exekutionen. Dabei sind die Verurteilungen der Kriegsverbrecher noch gar nicht mitgezählt – es handelte sich bei diesen Delinquenten vor allem um Gewaltverbrecher und um Täter, die gegen das strenge Waffengesetz der Alliierten verstoßen hatten. Dieses Gesetz war zur Sicherheit der Besatzungstruppen erlassen worden und wurde deshalb konsequent ausgeführt.
Die zivilen Hinrichtungen der Nachkriegszeit wurden meistens mit der Guillotine durchgeführt – auch weil die Alliierten der Meinung waren, die Deutschen fänden diese Todesart weniger ehrlos als das Hängen. Im Übrigen war das Fallbeil die effektivste Exekutionsmethode. Guillotinen gab es noch genug. Hitler hatte gleich nach seinem Machtantritt 1933 den Bau von 30 Fallbeilen befohlen. Sie waren alle in der Schlosserei des Gefängnisses Berlin-Tegel hergestellt worden. Die meisten Guillotinen kamen später in den besetzten Gebieten in Einsatz, vor allem in Osteuropa. Die Franzosen verfügten über genügend eigene Fallbeile.
Die Siegermächte hatten nicht nur die Aburteilung der Kriegsverbrecher, sondern auch die gewöhnlicher Schwerkrimineller an sich gezogen. Wobei sich herausstellen sollte, dass sie in Bezug auf die Kriegsverbrecher damit richtig gehandelt hatten, denn sobald deren Fälle in deutsche Hände kamen, wurde die Strafen verwässert. Doch schon im Frühsommer 1946 mussten die Besatzer einsehen, dass sie mit der Behandlung Krimineller überfordert waren. So gaben sie diese Aufgabe an deutsche Gerichte weiter, sie beließen es aber bei der Todesstrafe.
Es gab – vor allem weil die strenge Kriegsjustiz der Nazis sie herangezogen hatte – noch viele deutsche Scharfrichter, die mit dem Fallbeil umgehen konnten. Sie wurden auch gebraucht. Die Verbrechensquoten schossen in die Höhe. Nicht nur weil die Menschen Hunger hatten, an fast allem Not litten und deshalb zu schwerem Raub neigten. Auch weil der Krieg sie verroht und bei vielen die Schwelle zum Töten gesenkt hatte. In der ehemaligen Hauptstadt geschahen zwischen August 1945 und Dezember 1946 insgesamt 641 Morde. In jüngerer Zeit schwankt diese Zahl sehr – aber sie liegt im Jahr bei durchschnittlich 120 Fällen, wobei auch die relativ häufigen Totschlagdelikte erfasst werden.
Das heißt: In der Nachkriegszeit war die Mordrate etwa fünf Mal höher als in unseren Tagen. Gleichzeitig herrschte in der Justiz ein dem Ernst der Lage unangemessenes Durcheinander. So sollte im Frühjahr 1948 in Berlin Hermann Friedrich Jung hingerichtet werden. Er hatte 1946 eine Mutter und ihre beiden Kinder bestialisch ermordet und war im Jahr darauf zum Tod verurteilt worden. Nachdem die Alliierte Kommandantur das Todesurteil im März 1948 bestätigt hatte, wurde die Hinrichtung vorbereitet: Der Scharfrichter fand sich ein, die gerichtlichen Zeugen waren herbeizitiert worden. Aber der Delinquent fehlte noch. Erst nach längerem Nachforschen wurde festgestellt, dass der verurteilte Dreifachmörder Jung schon im November 1947 in der Haft gestorben war.
Am 28. April 1947 fand ein Bauer in der Nähe von Wusterhausen (Prignitz) beim Pflügen eine weibliche Leiche. Die Tote war fast nackt und gefesselt. Sie mochte etwa 60 Jahre alt geworden sein. Ihr Körper wies zahlreiche Blutergüsse auf. Es wurden keine Papiere gefunden, auch gab es keinerlei andere Hinweise auf ihre Identität. In der Manteltasche der Toten aber entdeckten die Ermittler eine Kinokarte: »Biophon-Lichtspiele, Schönhauser Allee, Reihe 5«. Die Polizei nahm an, dass das Mordopfer in der Prignitz auf Hamstertour gewesen war – so wie viele damals aus den Städten aufs Land gingen, um bei den Bauern Lebensmittel einzutauschen.
Wenig später werden in Berlin-Steglitz zwei Männer festgenommen: Berthold Wehmeyer (21) und Hans Wagner (27). Sie werden beschuldigt, die als Eva Kusserow aus Weißensee identifizierte Frau in der Prignitz ermordet zu haben. Der Tatverlauf ergibt sich bei den Vernehmungen recht schnell: Wehmeyer und Wagner waren ebenfalls auf Hamstertour. Während Wagner 25 Kilo Kartoffeln getauscht hatte, war Wehmeyer leer ausgegangen. Auch Frau Kusserow, auf die sie abends trafen, hatte 20 Kilo Kartoffeln ergattern können.
Wehmeyer ist frustriert. Die beiden beschließen, Eva Kusserow zu töten, um an ihre Kartoffeln zu kommen. Sie vergewaltigen die Frau, die in ihrer Gesellschaft Schutz suchte, in einem Heuschober, töten sie und verscharren die Leiche auf dem Feld.
Berthold Wehmeyer hatte aus der Zeitung erfahren, dass die Tote gefunden worden war. Er wollte das Land verlassen, aber das war damals nicht so einfach – vor allem für einen mittellosen Kleinganoven wie ihn. Dann ging er der Polizei ins Netz.
Darüber, wer den Mord begangen hat, streiten sich die beiden Beschuldigten. Sie schieben sich gegenseitig den schwarzen Peter zu. Ein Gutachter wird hinzugezogen, der zu einem sehr seltsam klingenden Schluss kommt: Da Wagner mit einer jungen Frau verheiratet ist und alle Anzeichen eines normalen Sexualverhaltens aufweist, während man von Wehmeyer beides nicht sagen kann, muss er die viel ältere Frau vergewaltigt und auch umgebracht haben. Berthold Wehmeyer lebt mit seiner Mutter und dem kleinen Bruder in Berlin-Wittenau in einem ausrangierten S-Bahn-Wagen. Nach dem Tod des Vaters, der 1945 aus russischer Gefangenschaft kam und wenig später starb, ist Berthold Wehmeyer der Ernährer der Familie. Nach der abgebrochenen Lehre (er wurde wegen Diebstahls gefeuert) hält er sich und die Seinen mit Hilfsarbeiten in Theatern und bei der BVG (Berliner Verkehrs-Betriebe) über Wasser. Die Vernehmer notieren in die Akten, er sei »sehr unbeholfen« und leide an einem »sprachlichen Gebrechen« – er stottert.
Der medizinische Gutachter bezeichnet ihn als »grobschlächtigen Gewaltverbrecher, der von einem ungewöhnlichen Sexualtrieb beherrscht wird«, er bescheinigt Wehmeyer »Gefühlskälte und Rücksichtslosigkeit«. Mit 16 Jahren hat Wehmeyer eine Frau in der S-Bahn beraubt und wollte sie danach aus dem Waggon stoßen. Er wurde dafür zu neun Jahren Haft verurteilt, kam aber bereits 1944 frei, weil das Gefängnis, in dem er saß, wegen der Kriegshandlungen geräumt werden musste. Trotz seiner Defizite will der Gutachter bei dem Probanden »nicht von Schwachsinn reden«. Damit ist der Weg für die Todesstrafe frei.
So wird Wehmeyer am 5. Juli 1948 vom Berliner Schwurgericht wegen Mordes zum Tode verurteilt. Sein Kumpan Wagner bekommt wegen Beihilfe zum Mord fünf Jahre Haft. Wehmeyers Anwalt geht sofort in Revision. Doch die Chancen auf eine Herabmilderung auf lebenslange Freiheitsstrafe stehen schlecht. Die Mutter richtet ein Gnadengesuch an die alliierten Behörden, die die Exekution genehmigen müssen: »Ich glaube Ihnen als Mutter sagen zu können, dass Berthold kein derart schlechter Mensch ist, wie er hingestellt wird.«
Wenige Tage später, im August 1948, beginnt der Verfassungskonvent auf der Insel Herrenchiemsee damit, einen Entwurf für das Grundgesetz zu erarbeiten. Im Zuge dieser Veranstaltung wird auch über die Abschaffung der Todesstrafe diskutiert. Es gibt zwei Lager: Sozialdemokraten und Kommunisten sind meist für die Abschaffung. Konservative und einige Liberale aber wollen die Todesstrafe im neuen deutschen Staat beibehalten. Die beiden Lager können sich nicht einigen. Also wird im Herrenchiemseer Entwurf für die neue Verfassung die Todesstrafe einfach beibehalten. Wie gesagt: Man nahm diese Dinge noch nicht so ernst, und es gab Wichtigeres zu tun.
Im September 1948 scheiterte ein Ausbruchsversuch Wehmeyers. Mit drei anderen Häftlingen wollte er durch die Gefängnisgärtnerei entweichen. Sie hatten Abdrücke der Schlösser mit Fensterkitt genommen und Nachschlüssel gefertigt – die aber fanden die Wärter. Wehmeyer kam in Einzelhaft und durfte nur noch in Handschellen zum Hofgang.
Im September 1948 geht die Beratung des Grundgesetzes an den Parlamentarischen Rat über. Auch die Todesstrafe steht plötzlich wieder zur Debatte. Angestoßen wurde das Thema ausgerechnet von Hans-Christoph Seebohm von der rechten Deutschen Partei DP. Diese Partei kämpft normalerweise dafür, dass die Bundesrepublik »Deutsches Reich« heißt und dass Angehörige der Waffen-SS rechtlich behandelt werden wie alle anderen Kriegsteilnehmer.
Beide Abgeordnete der DP beantragen am 7. Dezember, die Todesstrafe zu verbieten, obwohl ihre Partei sich bisher als Befürworterin gezeigt hat. Das Kalkül der beiden Einzelgänger: Wenn sie bei der Todesstrafe Nachsicht zeigen, können sie sich umso militanter für eine strengere Bestrafung der Abtreibung und für Milde im Umgang mit NS-Kriegsverbrechern einsetzen. Die Abstimmung über die Abschaffung der Todesstrafe im Parlamentarischen Rat findet am 6. Mai 1949 statt. Von der winzigen DP-Fraktion wachgerüttelt und verunsichert, stimmen die Hälfte der CDU/CSU-Mitglieder und die kleine Zentrumsfraktion mit der SPD und den Kommunisten gegen die Todesstrafe. Zwei Tage später, am 8. Mai 1949, geht das Grundgesetz durch den Rat – ohne die Todesstrafe. Im Artikel 102 heißt es lapidar: »Die Todesstrafe ist abgeschafft.«
Konrad Adenauer, der künftige Kanzler und die wichtigste Kraft im neuen Staat, hat für eine Beibehaltung der Todesstrafe gestimmt. Wie immer steht er da, wo die breite Mehrheit steht. Eine Umfrage von Allensbach ergab damals, dass 80 Prozent der Deutschen für die Todesstrafe waren. Erst im Jahr 1971 fand sich bei den regelmäßigen Umfragen zum Thema eine Mehrheit dagegen.
Die Enthauptung Wehmeyers wurde auf den 10. Mai um 6 Uhr 30 angesetzt. Die Revision war, wie erwartet, ohne Erfolg.
Ab dem 7. Mai laufen die Vorbereitungen für die Hinrichtung. Zwölf Zeugen aus dem Bezirk Tiergarten werden ausgesucht. Es müssen extra Lebensmittelkarten für eine Henkersmahlzeit beantragt werden. Das Gericht lässt 300 blutrote Zettel drucken, auf denen der Öffentlichkeit die Hinrichtung des Mörders angekündigt wird.
Wehmeyers Anwalt versucht alles, um die Exekution im letzten Moment zu verhindern. Er präsentiert dem Gericht sogar einen neuen Zeugen und erreicht so, dass die Hinrichtung um...