Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei
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Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei

Eine deutsche Tragödie

  1. 200 Seiten
  2. German
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Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei

Eine deutsche Tragödie

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Über dieses Buch

Das tragische Schicksal einer deutschen Familie im Spannungsfeld zweier feindlicher Systeme. Ein Stasi-Spion in der Bundesrepublik, der jahrelang seine Familie belügt, dann enttarnt wird und überstürzt mit seiner Frau und zwei Söhnen in die DDR fliehen muss. Doch die Kinder weigern sich, das falsche Spiel mitzuspielen, verweigern sich der Einbürgerung in die DDR. So wird das Leben immer unerträglicher, bis der Vater ihre Flucht zurück in den Westen über Ungarn in die Wege leitet. Doch der Albtraum geht weiter...

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Information

Bautzen II

Plötzlich Licht, Bewegung. Die Augen schmerzten, die Knie. Einer der Wärter nahm mir die Handschellen ab. Wir standen in einem verwinkelten Innenhof, hinter uns ein großes Stahltor. Ich sah ein großes fünfstöckiges Haus aus der Zeit der Jahrhundertwende, grau wie die ganze DDR. Zwei Wärter übernahmen – einer rechts, einer links. Sie trugen blaue Uniformen. Also war ich nicht mehr bei der Stasi? Deren Uniform war ja grau. Blau war der normale Strafvollzug, Ministerium des Innern.
Rein ins Gebäude. Alles war älter, gammliger als in Berlin. Gleich hinter dem Eingang war eine Gedenkecke. Fast wie ein Altar. In der Mitte ein Relief. Ein Männerkopf. „Julius Fucˇik“ stand darunter. Später erfuhr ich, dass er ein tschechischer Widerstandskämpfer gegen die Nazis gewesen war und auch mal in Bautzen gesessen hatte.
Durch enge Gänge ging es sehr zügig weiter, mal nach links, mal nach rechts. Ein paar Treppen hinunter in den Keller. Ein muffiger Geruch stieg mir entgegen. In einem Raum waren Wäscheberge aufgetürmt. Dort stand ein Häftling, der Kalfaktor, der mir meine Häftlingsbekleidung aushändigen sollte. Völlig verwaschene Klamotten. Auf dem Rücken, an den Ärmeln und den Seiten der Hosen gelbe Streifen. So würde ich also die nächsten zwei Jahre rumlaufen müssen. Der Kalfaktor und ein anderer Häftling, der noch dazukam, waren sehr neugierig auf den Neuankömmling.
„Na was haben sie dir denn aufgebrummt?“
„Drei Jahre.“
„Da brauchst du doch gar nicht erst auspacken, die kurze Zeit kannst du hier in der Wäschekammer verbringen!“
Drei Jahre sollen kurz sein? Wo bin ich denn hier schon wieder rein geraten? Der Kalfaktor hatte 15 Jahre wegen Spionage, und der andere Häftling 12. Sie erzählten mir noch, dass wir im Gefängnis Bautzen II wären, dass sich im Haus etwa 120 Häftlinge befänden, nicht sehr viele. Fast ausschließlich politische Gefangene, einige Wirtschaftsstraftäter und vereinzelte sonstige Kriminelle. Auch Frauen und Westdeutsche seien hier. Das mit den Frauen wusste ich ja schon, da meine Mutter mit mir im Transporter gefahren war. Westdeutsche Gefangene waren wegen Fluchthilfe, Spionage und manche wegen Drogen hier in diesem Gefängnis.
Nach etwa einer viertel Stunde kam ein älterer Wärter. „Kommen Sie mit!“ Ich folgte ihm durch eine Blechtür in ein Treppenhaus mit vielen ausgetretenen Stufen. Im vierten Stock schloss er eine Gittertür auf, die das Treppenhaus vom Flur trennte. Rechts war wiederum eine Stahltür, weiß gestrichen; in großen Buchstaben stand „Krankenrevier“ darauf. Der Wärter sagte: „Gehen Sie da ruhig rein, Sie werden nicht lange dort bleiben müssen.“ Das Krankenrevier diene gelegentlich als Eingangszelle.
Er ließ mich allein und schloss ab. Ich konnte meine neue Umgebung betrachten. Die Zellen waren kleiner als in der U-Haft. Alles sah etwas älter und heruntergekommener aus. Immerhin war das Bett keine harte Holzpritsche, sondern ein Armeebett mit Federn, die aber ziemlich ausgeleiert waren. Die Matratze hing ganz schön durch. Auch hier eine Toilette in der Ecke. An die Wand war ein Tisch angeschraubt, darüber hing eine Neonröhre an der Wand. Die Wände waren noch dicker als in der U-Haft. Das kleine Fenster an der Stirnseite war sehr weit oben, aber immerhin: Keine Glasbausteine! Ich konnte den Himmel sehen. Ein Trost. Neben der Tür hing die Hausordnung an der Wand. Wieder Gebote und Verbote. Interessant war aber, dass der Ort draufstand. „Hausordnung der StVE II Bautzen“. Ich war also wirklich in Bautzen II gelandet. Davon hatte ich schon einmal vor vielen Jahren, noch in Hannover, gelesen, im SPIEGEL. Ich wusste nicht mehr genau, was es mit diesem Gefängnis auf sich hatte; nur, dass es etwas Besonderes war.
Die Tür ging auf, der Wärter brachte eine Blechkanne und einen Teller mit zwei Scheiben Brot, einem Stück Butter und Wurst mit. Dazu Besteck aus Metall! Worüber man sich alles freuen kann! In der Kanne war aber der gleiche widerliche Muckefuck, den es schon in der U-Haft gegeben hatte. Ich brachte wie immer nur einen winzigen Schluck runter.
Nachmittags spielte plötzlich Radio. Das erste Mal seit 14 Monaten! Wo kam das her? Da, über der Tür war ein Lautsprecher mit einem kleinen Knopf. Den Sender konnte ich nicht verstellen, aber die Lautstärke. Ein Dreh am Regler und schon wurde es lauter: Getragene Trauermusik, nichts anderes. Sie hörte gar nicht auf. Was war das für ein Sender? Was war passiert? Die Nachrichten klärten mich auf: Der Staats- und Parteichef der Sowjetunion, Leonid Breschnew, war gestorben. Es war der 10. November 1982.
Der Abend kam, das Gebäude wurde von außen mit Scheinwerfern angestrahlt. Das Gitter vor dem Fenster warf seinen Schatten an meine Decke. Die Geräusche waren andere als in Berlin. Das Knallen der Riegel, das mich in Hohenschönhausen immer so erschreckt hatte, gab es hier nicht. Die Türen besaßen neben den Schlössern zur weiteren Sicherung nur kleine Haken und wurden im Allgemeinen leise auf- und zugeschlossen. Immer wieder hörte ich Schritte auf dem Flur. Allerdings schauten die Wärter hier nicht ständig durch den Spion. Draußen vor dem Fenster waren Stimmen von anderen Gefangenen zu hören. Offensichtlich konnten sie sich von Fenster zu Fenster unterhalten. Die erste Nacht verlief sehr unruhig: Unbekannte Geräusche, die Stimmen durch das Fenster und die Ungewissheit, wie hier alles werden würde, ließen mich nur schlecht einschlafen.
Morgens hörte ich in kurzen Abständen typische Schließgeräusche der Türen. Etwas später wurde der kleine Haken, der die Tür noch zuhielt, betätigt und ein Wachmann schaute kurz hinein, sagte „Guten Morgen!“ und schloss die Tür wieder. Ich war so verdutzt, dass ich nichts weiter sagen konnte als ebenfalls „Guten Morgen!“. Dann fiel mir ein, dass ich ja laut Hausordnung „Meldung machen“ sollte. Das wurde wohl hier nicht so genau genommen. Kurz nach der Zählung erschien ein Häftling, der weiße Kleidung trug, die ebenfalls mit gelben Streifen versehen war. Er stellte sich als „Sani-Horst“ vor, brachte aber keine Medikamente, sondern das Frühstück. Dabei schaute er sich um und stellte fest:
„Du brauchst noch ein paar Sachen als Grundausstattung. Ich werde mal sehen, was ich dir besorgen kann.“
Als Sanitäter konnte er sich relativ frei im gesamten Haus bewegen. Aber auch er kam nicht überall hin. Nicht zu den Frauen und nicht in den Isolationstrakt, wo sich immer nur wenige Gefangene befanden, die von den anderen abgesondert werden sollten. Dort befand sich auch mein Vater, wie ich später erfahren sollte.
Wenig später kam Sani-Horst wieder, um die Reste vom Frühstück mitzunehmen. Bei der Gelegenheit brachte er mir eine kleine Kaffekanne, eine Tasse mit Untertasse, einen Metallbecher sowie einen kleinen Tauchsieder mit. Er sagte: „Diese Sachen wirst du hier gut gebrauchen können, sie haben bis vor kurzem einem anderen Häftling gehört, der entlassen worden ist.“ Ein Mensch, der ganz normal mit mir redet, der mir etwas Kostbares schenkt! Im Knast, in dieser grauen Einöde aus Tagen, Wänden und Gedanken wird man empfänglich für jedes Bisschen Zuwendung. Endlich Geschirr aus Porzellan! Anscheinend konnte man hier auch selbst Kaffee oder Tee kochen. Das sah alles schon ein bisschen freundlicher aus als in Hohenschönhausen. Man wird ja anspruchsloser.
Am Vormittag wurde ich dann auch in den „Freigang“ geführt. Ich folgte dem Wachmann. Er ging die Treppe bis zum Erdgeschoss hinunter und in einen großen Hof hinaus. Wir überquerten ihn, und der Wärter wies mich in ein etwas kleineres ummauertes dreieckiges Gehege ein, wo ich etwa eine Stunde lang meine Kreise ziehen konnte. Immerhin war im Gegensatz zu Hohenschönhausen ein klein wenig Grün zu sehen, außerdem war er fast so groß wie alle Freihöfe Hohenschönhausens zusammen genommen. An der Spitze des Freihofs saß ein gelangweilter Wachposten in einem kleinen verglasten Turm zur Bewachung. Es war ganz schön kühl für meine etwas dünne Bekleidung, aber ich war froh, mal wieder frische Luft zu bekommen und weiter zu laufen als von der Zellentür bis zum Fenster.
Nach der Freistunde bekam ich schon wieder „Besuch“ von einem Häftling. Knut brachte einen Aktenordner mit. Er betreute die Anstalts-Bibliothek. Auf Karteikarten konnte ich Bücher bestellen. Bei der Gelegenheit erzählte er mir noch so einiges über Bautzen II. Es sei ein besonders geheimes Gefängnis mit Fällen, die nicht an die Öffentlichkeit dringen sollten. Nur im Heizhaus gäbe es „normale“ Kriminelle, die sie aus anderen Haftanstalten hergeholt hatten. In den anderen „Kommandos“, so wurden die Gefangenen-Gruppen, die zusammen arbeiteten, genannt, waren fast nur Politische, Wirtschaftskriminelle und ein paar ehemalige hohe Bonzen, die abtrünnig oder straffällig geworden waren. Kaum welche mit einfach kriminellen Delikten. Er selbst sei hier wegen Totschlags, er hätte seinen versoffenen Vater im Streit mit einer abgebrochenen Flasche erschlagen. Nette Gesellschaft. Warum war er nun gerade hier und nicht in einer anderen Haftanstalt?
„Ich war bei der Armee, im Wach-Regiment Dzierżyński! Da nehmen sie nicht jeden.“
„Dann bist du wohl kein Staatsfeind?“
„Nein, trotz allem stehe ich fest zum Sozialismus. Ich will auch nicht nach meiner Entlassung in die BRD wie die meisten, sondern in die DDR.“
Oh oh, Vorsicht ist geboten! Ein Funktionsgefangener mit dem Hintergrund – wenn das mal kein Spitzel ist! Dieses Misstrauen vergiftet im Knast jede Begegnung.
„Oh, Mecki wird mich schon suchen.“
„Wer ist Mecki, auch ein Häftling?“
„Nein, ist ein Wärter, der Alte von heute Morgen. Wir kennen die richtigen Namen der Polizisten doch nicht. Jeder hat seinen Spitznamen. Es gibt „Mecki“, den „Italiener“, den „Huster“, „Komplexi“ und „Latschenpaule“ usw. Nicht zu vergessen den Stasi-Offizier, der „Onkel“ genannt wird.“ Die Stasi habe hier überhaupt das Sagen, auch wenn uns offiziell Strafvollzugsbeamte bewachten.
Manche Gefangenen wurden öfter zum „Onkel“ gebracht, was natürlich sehr verdächtig war. Unter den Gefangenen gab es viele Spitzel, ihre Berichte liefen über diesen Stasi-Mann. Angeblich sollte jeder einmal von ihm zu einem Gespräch geholt werden, mir ist es allerdings erspart geblieben. Vielleicht haben sie sich gedacht, dass es nichts bringt, mich als Spitzel anwerben zu wollen.
Der Erzieher „Neckermann“ war sozusagen der Betreuer der Strafgefangenen. Er verteilte die Post; ihn konnte man ansprechen, wenn man Probleme hatte. „Neckermann macht’s möglich!“ hieß es unter uns. Außerdem achtete er auf die Einhaltung der Hausordnung und sprach Disziplinarmaßnahmen aus.
Die nächsten Tage waren sehr eintönig. Morgendliche Zählung, Freistunde, Sani-Horst bringt das Essen, Mittagessen, abendliche Zählung, Nachtruhe. Jeder Tag so eintönig wie der andere. Drei Tage später, gegen Abend, musste ich alle meine Sachen zusammenpacken. „Sie kommen jetzt in das Arbeitskommando I. Ab morgen wird gearbeitet!“ Endlich passierte irgendetwas. Hauptsache, die Langeweile würde beendet werden.
Es ging zunächst ein Stockwerk höher. Gleich schräg gegenüber vom Treppenhaus stand eine Zelle offen, die Nummer 30. Beim Eintreten schlug mir dicker Qualm entgegen. Raucher! Das hat mir ja gerade noch gefehlt. Zwei Doppelstockbetten standen drin, eine Vierer-Zelle. Ich wurde mit mehr oder weniger großem Hallo empfangen. Die beiden unteren Betten waren belegt, eines der oberen könnte ich mir aussuchen. Unter mir lag Wolfgang, ein ziemlich großer Kerl, der eine Zigarre nach der anderen rauchte. Dabei redete er immer sehr laut; er war in der Zelle Wortführer und der „Stubenälteste“. Er hatte acht Jahre erhalten wegen des Sammelns und Verkaufs von verbotenen Orden, Ehrenzeichen und anderen fragwürdigen Souvenirs aus dem „Dritten Reich“. Die Polizei hatte bei ihm zwei Barkas B 1000 voll davon gefunden. Seine Reden passten zu seinen Geschäften. Eine tolle Gesellschaft! Der andere war auch nicht viel besser. Horst war wegen irgendwelcher undurchsichtigen Geschäfte inhaftiert. Später wurde ich vor ihm gewarnt, da er wohl öfter mal zu Besuch beim „Onkel“ wäre. Aber schon vom ersten Moment kam er mir sehr verdächtig vor. Er hatte eine Sonderfunktion als Hausarbeiter, er reinigte den Flur auf unserer Etage. Deshalb war unsere Zelle immer offen, was ungewöhnlich war, denn im Allgemeinen wurden alle Zellen während der Freizeit verriegelt. Keiner sollte auf eigene Faust von einer Zelle in die andere gehen können. Horst war aber ständig unterwegs. Besonders intensiv soll er immer in der Nähe der Zellentüren geputzt haben, um alles mitzukriegen, was in der jeweiligen Zelle gesprochen wurde. Hoffentlich gibt es hier auch noch andere als diese komischen Vögel!
Jeder Gefangene hatte einen schmalen Spind, um seine persönlichen Sachen unterzubringen. In meinem war noch viel Platz. Ich staunte aber nicht schlecht, was die anderen alles so besaßen: Kaffee, Zigaretten, Schokolade und Lebensmittel stapelten sich in deren Schränken.
„Hier unten in der Kantine gibt es einen kleinen Laden. Da kann man das nötigste einkaufen. Zahnpasta, Shampoo, Kaffee, Zigaretten, Kekse, Lebensmittel und so was.“
„Verdient man denn hier genügend Geld?“
„Das kommt darauf an, wo man eingesetzt wird. Manche verdienen nur 20 oder 30 Mark, andere 150 bis 200. Das sind die, die am Leistungsband eingesetzt werden. Vielleicht kommst du auch da hin. Von dem ganzen Verdienst, den die Firma hier zahlen muss, gehen schon mal drei Viertel für Kost und Logis in diesem Luxushotel drauf. Der Rest wird noch mal aufgeteilt. Ein Teil geht in die Rücklage; das ist das Geld, das man bei der Entlassung aus der Haft bekommt. Das, was übrig bleibt, ist hier für den Eigenverbrauch bestimmt.“
Abends erfolgte die letzte Zählung. Wolfgang als Stubenältester machte die Meldung exakt nach Hausordnung, er fühlte sich dabei wohl wie ein alter Landser im Feld. Dabei reichte ein „Guten Morgen“ meist völlig aus; das konnte sich aber von Fall zu Fall plötzlich verändern. Um 9 Uhr wurde das Licht gelöscht. Das war sehr früh, unser Tagesablauf war aber auch zeitlich etwas verschoben.
Wenn man Frühschicht hatte, wurde man um halb 4 Uhr morgens geweckt. Aufschluss der Türen, Licht an. Man hörte schon frühzeitig das Drehen der Schlüssel immer näher kommen. Die Türhaken blieben noch zu. Anziehen, frühstücken, dichter Zigarrenqualm. Zur Zählung wieder die Meldung des Stubenältesten. Danach lief jemand herum, machte alle Haken der Türen auf.
„Raustreten zur Arbeit!“
Auf dem Flur versammelten sich immer mehr Gefangene mit den gleichen verwaschenen Klamotten, wie ich sie anhatte. Ein durchtrainierter Mitgefangener trat an mich ran und stellte sich kurz vor.
„Ich heiße Walter und bin hier der Brigadier. Du bist also einer der Neuen. Geh einfach mit runter, ich komme dann zu dir und zeige dir deinen Arbeitsplatz.“
Laut in die Runde sagte er: „Stellt euch alle auf, damit ich Euch zählen kann.“
Ständig wurde durchgezählt. Wie sollte denn hier jemand abhandenkommen? Das Gefängnis war völlig abgeschottet, selbst zur Arbeit hat man nicht das Haus verlassen, denn die Arbeitsräume lagen im Keller.
Walter zählte und machte eine entsprechende Meldung. Der Obermeister zählte noch mal nach, ob alles stimmte. Dann ging es im Gänsemarsch viele Treppen hinunter in den Keller.
Ich folgte Walter und der Mehrheit in eine sehr große Halle. Im oberen Drittel befanden sich große Fenster zum Innenhof. Zu sehen waren draußen aber nichts als Mauern. Drin, im Keller, diverse Geräte, Materialkisten, zwei große Tische. In den Kisten lagerten viele verschiedene Teile, deren Bedeutung sich mir nicht sofort offenbarte. Plastikteile, Schrauben, Metallkontakte… Am hinteren Tisch, der in den nächsten Monaten mein Arbeitsplatz sein sollte, waren acht Arbeitsplätze. Es war das „Leistungsband“, das Wolfgang erwähnt hatte. An vier Plätzen hingen elektrische Schrauber, die absolut vorsintflutlich aussahen. Walter schickte mich in die hintere Ecke. Ich sollte zunächst bei einem anderen Gefangenen mitmachen, um zu lernen, was zu tun war und dann dessen Platz übernehmen. Wir schraubten elektrische Schaltschütze für die Firma „VEB Oppach“ zusammen, das waren so eine Art große Relais, also elektrische Schalter. Sie wirkten ziemlich veraltet. Die anderen Tische lieferten unserem „Band“ zu. Das „Band“ waren kleine Bahnen, die durch auf den Tisch geschraubte Holzleisten gebildet wurden. Auf diesen Bahnen wurde die Schaltschütze weiter geschoben. Eine altertümliche Form des „Fließbands“ am Ende des 20. Jahrhunderts!
Inzwischen hatten alle Leute ihre Arbeitsplätze eingenommen. Als die Arbeit losging, hob ein so schrilles und lautes Kreischen an, wie ich es selbst in der Werkstatt vom „VEB AutoTrans“ nicht erlebt hatte. Die Schrauber lärmten in so hohen Frequenzen, dass es kaum auszuhalten war. Es waren die unmodernsten, lautesten und störanfälligsten Geräte, die ich je gesehen und gehört habe. Wenn man das monate- oder sogar jahrelang aushalten soll, würde das bestimmt bleibende Schäden nach sich ziehen. Arbeitsschutz? Gehörschutz? Fehlanzeige!
Ich hatte immerhin zunächst das Glück, nicht direkt an einem der lärmenden Schrauber eingesetzt zu werden. Ich musste Plastikteile mit Kontakten in Gestelle mit elektrischen Spulen einhängen. Und das in einem Höllentempo. Zuerst konnte ich mir nicht vorstellen, da mitzukommen, immer staute sich bei mir der Fluss; aber mit der Zeit ging es. Die Arbeit war so eingerichtet, dass jeder fast roboterhaft mehr oder weniger einfache Handgriffe zu erledigen hatte. Relativ schnell konnte man dann ein unglaubliches Tempo vorlegen. Mir war das recht; Hauptsache, ich hatte etwas zu tun; die Zeit verging dann schneller.
Der Brigadier Walter war ein ganz schöner Antreiber. Fast immer, wenn er in den Arbeitsraum kam, rief er allen zu: „Los, los, ran! Wackeln! Leute! Wackeln! Ihr seid nicht zu Eurem Spaß hier! Wackeln! Oppach wartet! Bewegt Euch!“ Ich weiß nicht, ob er das vielleicht ironisch meinte. Ich glaube aber eher nicht. Mir machten diese Sprüche nichts aus, ich tat meine Arbeit. Mit der Zeit wurde ich so geübt im Splinte stecken und Kappen auflegen, dass ich immer schneller war als mein Nachbar, der die Kappen festschrauben musste. Einerseits konnte ich mich so ein bisschen auspowern, es aber andererseits danach auch mal etwas ruhiger angehen lassen. Natürlich war der Lärm lästig, aber man gewöhnt sich ja an vieles.
So plötzlich, wie der Lärm losging, verstummte er auch am Ende der Schicht. In einer unglaublichen Hektik räumten wir auf, fegten, wischten. An den drei Waschbecken im Vorraum herrschte Hochbetrieb. Drei Waschbecken für ca. 40 Leute. Es gab in diesem Arbeitsbereich auch nur eine einzige Toilette für alle. Entsprechend sah sie aus. Seinen Ekel musste man irgendwie wegdrücken. Immerhin war es hier möglich, eine kleine Holztür zu schließen; man musste nicht – wie in der Zelle – in aller Öffentlichkeit auf der Toilette sitzen. Nach über einem Jahr öffentlichem Toilettengang war das eine Form von „Hafterleichterung“.
Walter zählt. Dann ruft er: „Ablauf!“ Im Gänsemarsch ging es los. Es war nicht weit, eine Treppe hoch ins Erdgeschoss. Hier sah ich auch einmal direkt den gesamten Zellentrakt mit Durchblick vom Erdgeschoß bis in den fünften Stock. Das hatte ich bisher nur in Knastfilmen gesehen. Genauso sah es aus. Es war nicht weit bis zur Kantine. Einige Tische und Hocker, an der Seite eine Luke, an der wir uns anstellten. Hinter der Luke stand ein Gefangener mit weißer Jacke und Mütze. Mit einer Kelle hievte er ein kleines Stück Fleisch, eine undefinierbare Soße und ein Berg Kartoffeln auf die Teller. Bald war mir klar: Das Essen hier war noch schlechter als in der Untersuchungshaft. Bloß gut, dass man die Möglichkeit hatte, et...

Inhaltsverzeichnis

  1. Ein überstürzter Aufbruch
  2. Rückblick I
  3. Seitenwechsel
  4. Hintergründe
  5. Die ersten Wochen
  6. Rückblick II
  7. Schule und Ausbildung
  8. Neue „Heimat“
  9. Die Lehre
  10. Rückblick III
  11. Vater beginnt zu zweifeln
  12. Wir wollen raus
  13. Es geht los
  14. Der legale Weg
  15. Konfrontation und Hoffnung
  16. Die Lage spitzt sich zu
  17. Untersuchungshaft I
  18. Das richtige Leben im Falschen
  19. Untersuchungshaft II
  20. Mithäftlinge
  21. Die Prozesse
  22. Bautzen II
  23. Zwischenzeit
  24. Zurück im Leben
  25. Was bleibt?