Die drei Charaktertypen
»Suche nicht bei einem Menschen alle guten Eigenschaften.«
Konfuzius (Philosoph)
»Der Charakter ist weiter nichts als eine
langwierige Gewohnheit.«
Plutarch (Philosoph)
»Hat man Charakter, so hat man auch sein
typisches Erlebnis, das immer wiederkommt.«
Friedrich W. Nietzsche (Philosoph)
Im Laufe unserer Geschichte haben wir immer wieder versucht, uns selbst nach bestimmten Kriterien zu beschreiben und einzuordnen. Bereits sehr früh glaubte man entdeckt zu haben, dass bestimme Menschen in bestimmten Situationen die gleichen Handlungsmuster zeigen. Und so entstanden bereits ab dem 5. Jahrhundert vor Christus die ersten Charakterlehren. Seither werden sie aus unterschiedlichen wissenschaftlichen wie auch weltanschaulichen Perspektiven weiterentwickelt oder neu zusammengestellt.
Die Charakterologie, die ich auf unserem Spaziergang entwickeln möchte, besteht aus vielen bereits bekannten Elementen. Was vielleicht etwas neu anmutet, ist die Perspektive, aus der heraus ich Sie dazu einlade, sich zu betrachten. Meine kleine Hoffnung besteht darin, dass Sie aus dieser Perspektive heraus, die etwas unüberschaubar gewordene Landschaft der Coaching-Methoden, wie auch der Achtsamkeitsübungen, etwas klarer werden sehen können, um die geeignete für das anstehende Coaching zu nehmen.
Der »Aktive«
»Es stört mich nicht, was meine Minister sagen,
solange sie tun, was ich ihnen sage.«
Margaret Thatcher (Premierministerin)
»Zum Handeln gehört wesentlich Charakter, und ein Mensch von Charakter ist ein anständiger Mensch, der als solcher bestimmte Ziele vor Augen hat und diese mit Festigkeit verfolgt.«
G. F. W. Hegel (Philosoph)
»Eines der traurigsten Dinge im Leben ist, dass ein Mensch viele gute Taten tun muss, um zu beweisen, dass er tüchtig ist, aber nur einen Fehler zu begehen braucht, um zu beweisen, dass er nichts taugt.« George B. Shaw (Dramatiker)
Ein Charakter entsteht dann, wenn sich eine beträchtliche Anzahl genetischer Informationen innerhalb einer ganzen Reihe von komplexen Beziehungen aktivieren. Ich weiß, dass für manche von Ihnen diese Einteilung als zu nüchtern und reduktionistisch erscheint. Und Sie haben Recht, denn das will sie auch sein, um einfach mal unsere Wahrnehmung von der bisherigen Betrachtungsweise und Kategorisierung wegzulocken. Also bitte ich Sie, für die Dauer folgender drei Kapitel unseres Spaziergangs Abschied von folgenden Glaubenssätzen zu nehmen:
- dass unser »Ich« unabhängig von seinem Charakter existiert
- dass unser »Ich« statisch oder fix wäre
- dass unser »Ich« eine unsterbliche Komponente hat, etwa eine unsterbliche Seele, oder selber unsterblich ist, denn sonst wären die beiden vorangegangenen Glaubenssätze richtig
Nach dieser grundsätzlichen Vorbemerkung betreten wir jetzt die Landschaft der drei Charaktere.
Zunächst der »Aktive«: Es gibt Menschen, die einfach nicht nichts tun können. Das ist die auf den Punkt gebrachte Beschreibung des ersten Charaktertyps, den ich den »Aktiven« nenne. Der »Aktive« ist nahezu dauerhaft, sei es gedanklich oder physisch, aktiv. Wichtig dabei ist, dass er den Gedanken nicht etwa ihren freien Lauf lassen kann, sondern sowohl die Gedanken wie auch seine Taten an Ziele ausrichtet, oder genauer formuliert: Die Aktiven lassen sich von den Zielen und Ergebnissen her inspirieren. Auch wenn es zunächst so aussieht, als wollten sie das eine oder andere Ziel aus dem jetzigen Augenblick heraus erreichen, so trügt der Schein. Die Ziele sind für sie nicht wirklich die Ergebnisse ihrer jetzigen Handlungen, sondern genau umgekehrt, die Handlungen werden durch gut ausgesuchte Ziele gerechtfertigt. Sie kennen sicher den Spruch »Der Zweck heiligt die Mittel«. Komischerweise glauben wir, dass es in diesem Spruch um die besonders wichtigen Ziele geht. Schauen Sie bitte genauer hin. Was wird geheiligt? Der Zweck oder die Mittel? Nun ja, eben die Mittel und nicht der Zweck. Und die Mittel sind die Aktivitäten der Aktiven, sowohl praktischer als auch theoretischer Natur. Der Aktive will aktiv bleiben. Das »Machen« muss geheiligt werden, und die Ziele scheinen eher vorgeschoben zu sein.
Ich: Was ist Ihr Anliegen?
Coachee: Ehrlich gesagt, möchte ich ruhiger meine Ziele verfolgen können.
Ich: Und was hindert Sie daran?
Coachee: Eigentlich geht mir alles nicht schnell genug.
Ich: Spüren Sie bitte genauer nach: Wo wollen Sie denn eigentlich hin?
Coachee: Na ja, wenn ich genauer schaue, dann möchte ich eigentlich mit dem nächsten Projekt beginnen, denn das jetzige ist nur so eine Art Vorstufe.
Ich: O.k., ist das nächste Projekt das endgültige?
Coachee: So kann man es auch nicht bezeichnen. Wenn mein Unternehmen den Umsatz verdoppelt, dann zähle ich zu den Marktführern …
Ich (lachend): Sie zählen zu den Markführern?
Coachee: Natürlich mein Unternehmen. Aber wissen Sie, im bestimmten Sinne ich auch, weil es meinen Namen trägt …
Ich: O.k., und was erhoffen Sie sich danach?
Coachee: Dann kann es so richtig losgehen!
Ich: Und wenn Sie es nicht tun?
Coachee: Ich kann es nicht einfach lassen. Jetzt schon gar nicht. Dann wäre die Arbeit von Jahren weg, und die anderen würden sich vor Freude die Hände reiben.
Schauen wir uns diese Dynamik noch etwas genauer an. Die Ziele können individuell sehr unterschiedlich sein, haben aber alle einen gemeinsamen Nenner: Aus der Perspektive des Aktiven gesehen, erscheinen sie immer als sinnvoll, richtig oder unausweichlich. Außerdem vertragen die Ziele keinen Aufschub, sodass der Aktive nicht nur durch den richtigen Inhalt der Ziele aktiviert wird, sondern vor allem durch ihre Dringlichkeit und Unausweichlichkeit. Beide zusammen ergeben für den Aktiven die Aktivität. Und jetzt ein wichtiger Schritt, den wir sehr genau betrachten müssen, weil er sich so schnell ereignet, dass wir ihn übersehen und deswegen fast immer direkt die sogenannten Ziele fokussieren können.
Wenn unsere Beobachtung stimmt und für den Aktiven heiligt der Zweck die Mittel, dann »ereignet« sich der Aktive nur in Aktion. Das wiederum bedeutet, dass er nicht nur so einen Charakter hat, sondern dass er dieser Charakter ist. Und so gesehen kann der Aktive vollen Ernstes von sich sagen: Ich handle, also bin ich.
Nun werden einige unter Ihnen einwenden, dass Sie sich sehr gut ein Leben ohne die viele Arbeit vorstellen können, denn die ist ja phasenweise kaum mehr zu ertragen. Ja, das stimmt, ohne »diese« konkrete Arbeit, die Ihnen vielleicht gerade nicht gefällt oder sie zu stark mit Ihren Ängsten konfrontiert, ja. Aber wenn Sie ein »Aktiver« sind, dann werden Sie mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit eine Vorstellung davon haben, was Sie stattdessen machen möchten. Und selbst dann, wenn es bereits der Ruhestand werden sollte, so werden Sie ihn mit ehrenamtlichem Engagement verknüpfen oder zumindest in einem gut ausgestatteten Wohnmobil unterwegs sein wollen. Haben Sie im Falle einer plötzlichen Arbeitslosigkeit solche Ersatzjobs in Ihren Gedanken nicht parat, dann sind Sie einfach nicht der aktive Charakter. Oder aber sehr stark erleuchtet.
Eine dritte Alternative existiert in diesem Falle nicht. Ich meine es ernst. Freuen Sie sich also ein wenig darüber, dass Sie sich in diesem Charaktertyp nicht wiedererkennen. Aber wie gesagt, nur ein wenig, bis Sie sich in einem der anderen zwei Typen wiedererkennen werden.
Das klingt bislang alles andere als erfreulich. Ich weiß es und bin froh, dass Sie bis hierher durchgehalten haben. Mir ist auch bewusst, dass sich schöne Aussichten viel besser lesen oder verkaufen als die etwas düsteren. Aber die Morgenröte kommt nun mal nach einer dunklen Nacht, und alle Lichter, die vor ihr aufleuchten, sind zwar hilfreich, werden aber von uns gemacht. Je nach Stimmungslage sind es Glühbirnen oder Kerzen, die wirklich ihre Berechtigung haben, trotzdem können sie es mit dem Lichtspiel der Morgenröte und dem, was danach als Licht noch folgt, nicht wirklich aufnehmen. Deswegen vertiefen wir uns weiter in den Charaktertyp des Aktiven und schauen nach dem, was als durchaus positiv bezeichnet werden könnte.
Die Sonnenseite des Aktiven
»Ich will, dass sich Angestellte fragen, ob sie willens sind,
dass jegliche erwogene Handlung am kommenden Tag auf der ersten Seite ihrer Lokalzeitung erscheint, gelesen von ihren Ehepartnern … und recherchiert von den Journalisten.«
Warren Buffet (Investor)
»Jede Tat muss das Unterpfand einer noch größeren sein, und im Beifall der ersten schon die Erwartung der folgenden liegen.«
Baltasar Gracian (Jesuit)
Der Aktive ist fleißig. Sehr sogar. Er ist diejenige Person, die sich für anfallende Überstunden entweder freiwillig melden wird oder gar nicht erst bemerkt, dass er welche macht. Er ist auch die Person, die bei jedem Bewerbungsgespräch die besten Chancen hat, genommen zu werden. Da sich der Aktive durch Arbeit definiert, verfügt er normalerweise bereits in jungen Jahren über einen bemerkenswerten Lebenslauf mit vielen praktischen Einsätzen und ernst zu nehmenden Erfolgen. Sollte der berufliche Werdegang doch noch Lücken und deswegen Fragen aufwerfen, so können Sie sicher sein, dass der Aktive für alles eine wasserdichte Erklärung parat haben wird, die meistens auf unverschuldete äußere Ereignisse oder auch Schicksalsschläge zurückgeführt werden kann.
Der Aktive ist ein guter Organisator. Er oder sie ist sehr zielstrebig und diszipliniert. Deswegen kann er sein Team sehr gut disziplinieren und auf die einstehende Aufgabe ausrichten. Er ist ein unermüdlicher Treiber, was nicht zu verwechseln ist mit einem Motivator. Natürlich ist der Aktive erfolgsorientiert. Das ist eine seiner Hauptmotivationen. Diese Eigenschaften machen aus ihm den »Macher« schlechthin. Was nichts anderes ist als die ziemlich genaue deutsche Übersetzung des angloamerikanischen Wortes »Manager«, der zu werden ein weitverbreitetes Ziel der Aktiven dieser Welt ist.
Es gibt aber auch ein urdeutsches Wort, das dem des »Managers« in seiner positiven Dimension durchaus gleichkommt, ja es sogar noch zuspitzt, und auf welches viele Aktive sehr stolz sind, sodass sie sich gerne selber durch seinen Gebrauch definieren. Es ist das Wort »Leistung«. Für die deutschsprachigen Aktiven ist das Wort »Leistung« derart selbstverständlich, dass sie sich vermutlich jetzt wundern, wenn es explizit genannt wird. Aber in vielen anderen Sprachen ist das Wort »Leistung« keinesfalls im Bezug auf menschliches Handeln im Gebrauch. Zur Erinnerung: Der Begriff »Leistung« stammt aus der Physik, genauer aus dem Maschinenbau, einer urdeutschen Domäne. Er bezeichnet das Verhältnis von Arbeit und Zeit, also wie viel eine Maschine in einer bestimmten Zeiteinheit bewerkstelligen kann. Dass wir dieses Wort auf uns Menschen übertragen haben, ist schon etwas verwunderlich. Dass man es nur in bestimmten Ländern getan hat, ist schon wieder interessant, und wir werden darauf später noch zurückkommen.
Ich glaube, dass es die Aktiven waren, die die Übertragung dieser Maßeinheit auf uns selbst vollzogen haben. Denn es war und ist durchaus in ihrem eigenen Interesse, den Erfolg der Handlungen und der Taten messen zu können. Und was eignet sich dafür besser als die maschinelle Definition der Leistung? Sie ist in der Regel leicht berechenbar, gut und schnell kommunizierbar und dadurch von allen direkt nachvollziehbar.
Nachdem diese Maßeinheit eingeführt worden war, hat es nicht mehr lange gedauert und es folgten aus ihr eine ganze Reihe neuer Begrifflichkeiten, die von den Aktiven gerne benutzt werden. Dazu zählen vor allem: der Leistungsträger für den angelsächsischen »Manager« sowie der leistungsorientierte Mensch für einen guten Mitarbeiter. Weil die Aktiven wohl oft der Meinung wären, ihre Sichtweise sei die einzig richtige, sprechen sie gerne im Kollektivmodus von sich und definieren uns alle als eine Leistungsgesellschaft, die es sich eben leisten kann, andersdenkende und weniger leistungsbereite Mitmenschen in sich aufzunehmen und mitzutragen.
Der zunächst auf Ziel, Sieg und Erfolg ausgerichtete Charakter ist eine hervorragende Führungspersönlichkeit, was eine weitere positive Eigenschaft des Aktiven ausmacht. Diese Qualität jedoch ist dem Aktiven nicht in die Wiege gelegt worden, sondern zeigt sich am besten dann, wenn es um Kämpfe, Eroberungen, Verteidigungen, Strategien aller Art geht, mithin wenn er sich im Krieg befindet. Denn dann kann er am besten seine Kräfte freisetzen, und weil er selbst engagiert ist, geht er mit gutem Beispiel voran und wird ganz zu Recht als Anführer respektiert. Das Problem sind dann eher die Friedenszeiten, denn was macht ein arbeitsloser Aktiver dann? Nun befindet sich unsere Wirtschaft, vermutlich nicht zuletzt dank der Aktiven, in einem Dauerkriegszustand, sodass sie in ihrer Führungsrolle eher selten infrage gestellt werden.
Im privaten Leben ist sie oder er stets bemüht, die jeweiligen Rollen, die das Leben so anbietet, »richtig« auszufüllen. Die aktive Mutter wird eben alles daransetzen, ihre Kinder »richtig« zu erziehen, und das ab dem Zeitpunkt der Schwangerschaft. So sind Schwangerschaftskurse ein »Muss« und entsprechende Lektüre ein Standard. Das wird sich dann über die ganze Erziehungszeit wie ein roter Faden durchziehen. Der aktive Vater wird, wenn die Familie noch das klassische Modell lebt, also er für den Unterhalt verantwortlich ist, dieses natürlich zielgerichtet verfolgen, sodass es der Familie an nichts fehlen wird oder an nichts fehlen sollte. Er wird für die Familie, die Frau oder die Kinder feste Zeiten einplanen – Ausnahmen sind ungeplante und daher von ihm unverschuldete Schicksalsschläge oder Eingriffe einer höheren Macht, wie die des Vorstandes, des ...