Neo-Moslems
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Neo-Moslems

Porträt einer deutschen Generation

  1. 200 Seiten
  2. German
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Neo-Moslems

Porträt einer deutschen Generation

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Eren Güvercin erzählt witzig, klug und polemisch von einer Generation junger deutscher Muslime, die in der aufgeregten öffentlichen Debatte kaum wahrgenommen wird; eine Generation, die schon heute eine wichtige kulturelle und politische Rolle in Deutschland spielt, und das nicht trotz, sondern wegen ihres "Migrationshintergrunds"; ein Buch, das ernst und witzig zugleich erklärt, warum Güvercin ein mindestens so deutscher Name ist wie Podolski und Sarazzin, und warum die üblichen Abgrenzungsreflexe nicht mehr funktionieren.

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Information

1. Wer sind die Neo-Moslems?

Die goldene Generation

Die Integrationsdebatte hat in den vergangenen Jahren zum Teil schrille Formen angenommen. Jüngster Auslöser war das Buch von Thilo Sarrazin „Deutschland schafft sich ab“. Viele Experten haben im Laufe dieser Diskussionen immer wieder vor Pauschalisierungen und einer Ethnisierung sozialer Probleme gewarnt. Feridun Zaimoglu gab zu Protokoll, Sarrazin halte einer verunsicherten Mittelschicht den Muslim als ‚Vogelscheuche‘ hin, anstatt Einwanderung als europäische Normalität zu betrachten.
Zu dieser Normalität würde auch gehören, die Biografien der ersten Gastarbeitergeneration angemessen zu würdigen. Diese Generation kommt allerdings in den Debatten kaum vor. Was waren das überhaupt für Menschen? Was hat diese erste Generation veranlasst, als junge Menschen in ein fremdes Land, in eine fremde Kultur zu kommen? Was waren ihre Hoffnungen, ihre Ängste? Man kann sich gar nicht vorstellen, was es für ein Abenteuer für meinen Vater gewesen sein muss, als er in den 60er-Jahren aus seinem Dorf bei Gümüshane aus dem Nordosten der Türkei mit dem überfüllten Zug nach einer anstrengenden Reise in Deutschland ankam. Einige Verwandte waren schon seit einigen Jahren als Gastarbeiter in Deutschland, als er endlich auch einen der heiß begehrten Plätze ergatterte. Wie in einer Musterung wurden die Bewerber von Deutschen in der Türkei gesundheitlich mit deutscher Gründlichkeit überprüft. Erst nachdem sie als arbeitstauglich eingestuft wurden, bekamen sie die Erlaubnis als Gastarbeiter nach Deutschland einreisen zu dürfen. Diese jungen Männer hatten einen Traum. Sie wollten einige Jahre in Deutschland arbeiten, um mit den Ersparnissen in ihre Heimat zurückzukehren und eine eigene Existenz aufzubauen.
Diese Aufbruchstimmung der ersten Generation spürt man immer noch, wenn sie von dieser Zeit erzählen, von ihren ersten Erfahrungen in Deutschland. Sie sprechen trotz vieler negativer Erlebnisse am Arbeitsplatz oder auf der Straße immer mit sehr viel Respekt über ihr Deutschland, das damals für sie eine zutiefst fremde Kultur und eine vollkommen neue Umgebung war. Diese jungen Frauen und Männer waren sich nicht zu schade, auch die schwerste Arbeit zu verrichten. Mein Vater erzählt mit glänzenden Augen von seinen ersten Jahren in Deutschland. Mit einigen Verwandten aus seinem Heimatdorf hat er oft 15 Stunden am Tag hart gearbeitet und in Containern oder Arbeiterwohnheimen gelebt. Trotzdem erzählen alle mit Nostalgie über diese harte, aber glückliche Zeit.
Die Jahre vergingen, einige schafften den Absprung, wie mein Onkel, der wirklich nach wenigen Jahren in die Türkei zurückkehrte, aber viele, wie auch mein Vater, konnten sich nicht von Deutschland lösen. Stattdessen holten sie ihre Ehefrauen nach und lebten sich immer mehr ein. Lange Jahre hatten sie immer noch im Hinterkopf zurückzukehren. Sie füllten die Fabrik- und Montagehallen, standen am Fließband, putzten Böden blank oder arbeiteten bei der Müllabfuhr. Sie nahmen diese Arbeiten an, ohne sich an dem Mangel an Ansehen zu stoßen, der mit der Art ihrer Beschäftigung einherging. Diese Gastarbeiter waren Pioniere und sich für keine Arbeit zu schade. Ihren Kindern lebten sie vor, dass ehrlich verdientes Geld einen hohen Stellenwert hat. Diese Gastarbeitergeneration wurde von außen oft leichtfertig als homogener Block wahrgenommen. Feridun Zaimoglu verweist in diesem Zusammenhang auf die „Binsenweisheit“, „dass kein Mensch mit einer strengen, linearen Biographie aufwarten kann“. Der Versuch, Einzelne wie Kollektive zugunsten vermeintlicher Erkenntnisgewinne zu vereinheitlichen, müsse in eine Art „Küchenethnologie“ enden, so Zaimoglu. Denn die Konfliktlinien verlaufen eben nicht zwischen den Kulturblöcken, sondern innerhalb der Kulturkreise: „Eine Schafherde bleibt zusammen, weil die Hirtenhunde sie zusammentreiben. Menschen haben es an sich, dass sie die angestammten Schollen verlassen und neue Siedlungen aufsuchen. Wer in so einer Klimazone der Unterschichtenkräfte aufwächst, hat sich für sein späteres Leben eins vorgenommen: Er will nicht auf halber Strecke verrecken. Um Gottes Willen: Nein!
Das ist die Realität von Tausenden Gastarbeiterhaushalten der ersten Stunde, von den verschimmelten Arbeiterbaracken, von den Hinterhausbuchten und den Elendkabuffs, in denen wir groß geworden sind. Wir, das sind die Zuwandererkinder.“
Die Realität von uns ‚Gastarbeiterkindern‘ war eine gute Lebensschule. Die Armut, die Verhältnisse, in denen wir aufwuchsen, gaben uns etwas mit, was kein staatlich verordnetes Integrationsprogramm leisten konnte. Die Verhältnisse waren nicht kuschelig, aber dafür waren die Legenden und Erzählungen der Väter und Mütter reich. Besonders die Mütter, die immer noch oft als unmündige, uniforme Masse von Frauen dargestellt werden, spielten eine immense Rolle mit ihrem großen Sprachschatz und ihrem hellwachen Geist. Viele von ihnen waren nach westlich-moderner Vorstellung ungebildet, meine Mutter etwa war Analphabetin und hatte keine Schule besucht. Nach modernen Bildungs- und Familienvorstellungen hatten wir eine ziemlich miserable Ausgangsposition im Vergleich zu unseren Altersgenossen.
Diese großen Frauen der ersten Einwanderergeneration beherrschten vielleicht nicht das enzyklopädische Alphabet, aber sie sind Meisterinnen des Lebensalphabets, wie es die Schauspielerin Renan Demirkan mir in einem sehr emotionalen Interview beschrieb: „Meine Mutter erspürte das Leben besser, als jeder Wissenschaftler es zu analysieren vermag. Eine Unbelesene, die wesentlich wissender war über die Dinge des Alltags, als ein Belesener es jemals sein wird. Diese Leute, die hierher kommen, laufen wirklich mit offenen Augen und Armen in dieser Gesellschaft herum. Auch wenn sie nicht vieles begreifen, so stellen sie doch Fragen. Auch wenn sie nicht alle Antworten verstehen, so bleiben sie da und suchen weiter. Sie werden nur nicht so sichtbar wie all die, die hier laut von sich reden, weil es nicht ihre Kultur ist und sie haben es nie gelernt, sich sichtbar zu machen.“
Es wird in der zum Teil absurden Integrationsdebatte gar nicht vor Augen geführt, wie sich fast über Nacht Hunderttausende Anatolier bäuerlicher Tradition in das Heer des zugewanderten Industrieproletariats verwandelten. Und viele ihrer Kinder und Kindeskinder, also Bauernarbeiterkinder, verlassen die Rolle der Deklassierten und wollen sich nicht mit dem Gang durch die Institutionen begnügen, wie es der deutsche bürgerliche Nachwuchs bis zur Perfektion betreibt. Dabei stoßen sie auf ein wirkliches Kulturvakuum und suchen es auszufüllen.

Deutsch-deutsche Muslime

Skurrile Konvertiten wie Pierre Vogel prägen durch ihre öffentlichen Auftritte das Bild vom muslimischen Deutschen, der seine deutsche Identität abgelegt und eine sogenannte ‚islamische Identität‘ angenommen hat. Diese angebliche islamische Identität besteht aber bei diesen Akteuren oft aus einer bloßen Nachahmung der arabischen Kultur und einem ideologischen Islam, der im Fall Pierre Vogel eine wahhabitische Färbung hat. Selten kommen deutsche Muslime in der Öffentlichkeit vor, die eben keinen Widerspruch sehen zwischen ihrer deutschen Kultur und dem Islam. Die Neo-Moslems, deren Eltern aus der Türkei oder der arabischen Welt stammen und als Gastarbeiter nach Deutschland kamen, profitieren von den Erfahrungen der deutschen Muslime, die sich im Laufe ihres Lebens für den Islam entschieden haben, denn sie sind oft eher in der Lage, kritisch über bestimmte unheilvolle Entwicklungen in der islamischen Welt zu reflektieren. So wie Andreas Abu Bakr Rieger, Rechtsanwalt und deutsch-muslimischer Intellektueller. Der in Freiburg geborene Jurist studierte schon in jungen Jahren die Werke Martin Heideggers, vor allem seine Technikkritik. Rieger ist der Ansicht, dass die deutschen Muslime auch der islamischen Welt aus ihrem Schatz etwas mitgeben können. Neben der Gelassenheit gegenüber der Technik, statt der Technikgläubigkeit, die in der islamischen Welt sehr verbreitet ist, könnten geschichtsbewusste deutsche Muslime der islamischen Welt auch eine natürliche Skepsis gegenüber jeder ideologischen Verblendung, die den Feind nötiger brauche als etwa das Gebet, mitgeben. Rieger, der auch Herausgeber der Islamischen Zeitung ist, versucht den Islam zwischen Technik und Ideologie zu denken, und leistet mit seiner Zeitung einen wichtigen Beitrag zur innermuslimischen Debatte über Grundsatzfragen unserer Zeit. „Unsere allgemeine Verachtung, als rechtstreue Bürger, gegenüber Selbstmordattentätern kann man ja auch in dieser Zeitung nachlesen. Ein deutscher Muslim wird aber auch Rainer Maria Rilke zitieren und dessen Erschütterung teilen, dass ‚die Erde dem Menschen in die Hände gefallen ist‘“, so Rieger.
Er betont die prophetische Tradition, jegliche Form des Extremen zu meiden und den Mittelweg einzuschlagen. „Deutsche Muslime revoltieren nicht etwa gegen unser deutsches Erbe, im Guten wie im Schlechten, sie ziehen einfach nur eine andere Quintessenz daraus. Für deutsche Groß-Intellektuelle, die sich gerne gegen „Kopftuchmädchen“ und „Extremfälle aus dem Milieu“ positionieren, sind wir deutschen Muslime ernstzunehmendere Sparringspartner.“ Vielleicht ist das eben auch der Grund, wieso Freidenker wie Rieger aus der öffentlichen Islamdebatte ausgeschlossen werden. Rieger betont, dass er in der islamischen Tradition, in der Muslime denken und leben, bisher kein islamisches Wissen gefunden habe, dass seinem von Deutschland geprägten Intellekt oder seinen europäischen Erfahrungen überhaupt widerspreche. „Vielleicht auch, weil uns die Identitätskrisen der Immigration erspart geblieben sind, praktizieren wir unseren Islam durch alle Aufregungen hindurch eigentlich ruhig. Es ist der gerade Weg. Deutsche Muslime bleiben den neuen Extremen der Esoterik oder des Extremismus fern, unter deren Eindruck so viele Muslime heute leider stehen.“
Die Realität von weit über einer Milliarde Muslime bringt mit sich, dass es muslimische Otto-Normal-Verbraucher wie auch muslimische Kriminelle gibt. Rieger warnt davor, in die Falle zu laufen, dass man nun als Muslim aus einer Art Solidaritätsverpflichtung jeden aberwitzigen Irrweg irgendeiner muslimischen Gruppe vertreten oder gar verteidigen müsse. „Es mag muslimische Bankräuber geben, aber keinen islamischen Bankraub. Das ist die Linie, um die es zunächst geht.“
In der ganzen Sarrazin-Debatte kamen bisher die deutschen Muslime, die gerade das Bild vom Islam, das Sarrazin erfolgreich in der Bevölkerung geschaffen hat, durchbrechen würden, viel zu wenig vor. Die Aussagen Sarrazins, dass der Islam kulturell vom „Westen“ verschieden sei, dass er Ideologie befördere und der Gewalt nahestehe, würden durch ein Streitgespräch etwa zwischen Rieger und Sarrazin bei Anne Will oder einer anderen Talkshow ad absurdum geführt werden. Ist es Zufall, dass die Medien daran kein Interesse haben?
Nur durch diese gewollte oder ungewollte Unterstützung der Medien konnte Sarrazin seine billigen Polemiken aufrechterhalten. Sarrazin beschreibt den Islam als eine „abgeschlossene Religion und Kultur, deren Anhänger sich für das umgebende westliche Abendland kaum interessieren – es sei denn als Quelle materieller Leistungen.“ Für Rieger, der aus Liebe zu Goethe einige Jahre mit seiner Familie in Weimar lebte und Ausflüge für junge Muslime nach Weimar organisierte, findet bei dem Hobby-Genforscher Sarrazin die versöhnliche Maxime Goethes, dass die Natur kein System sei, jedenfalls keine Anwendung, soweit die Natur der Muslime betroffen ist.
„Wie alle Finanztechniker ist Thilo Sarrazin grundsätzlich blind gegenüber dem abgründigen Beitrag des entfesselten Kapitalismus, der ganzheitliche und religiöse Maßstäbe annimmt und heute im globalen Maßstab zur Entwicklung, besser gesagt zur Degenerierung von Kultur, Familie und all den Werten, die er vorgibt zu verteidigen, beiträgt“, so Rieger. Sarrazin selbst werde nicht zufällig zur Ikone in einem bekannten deutschen Leitmedium, das sich aus Verkaufsgründen neben Politik in aller Kürze und (dem natürlich besten) Sportteil eben auch alltäglich der „Ausbildung“, also Verblödung und Verrohung einer ganzen Unterschicht, widme.
Damit Sarrazin die unsinnige These von der kulturellen Unvereinbarkeit des Islam mit dem „Westen“ grundsätzlich durchhalten könne, müsse er, wie viele Autoren vor ihm, die europäisch-bosnischen Muslime (die Opfer des letzten Religionskrieges in Europa) genauso verschweigen wie die neuen Generationen deutscher Muslime, die er polemisch nur als potenzielle Gewalttäter fassen kann. „Hier herrscht die Art von Ignoranz, die Sarrazin auch behaupten lässt, qur’anische Suren rechtfertigten den Terrorismus – natürlich in völliger Unkenntnis tausender Schriften muslimischer Juristen aller Epochen zu diesem Thema.“ Gerade als Herausgeber der Islamischen Zeitung hat Rieger schon weit vor dem 11. September 2001 dem angeblich islamisch legitimierten Terrorismus aus der islamischen Tradition heraus argumentierend widersprochen.
Intellektuell schwach aufgestellt ist das Buch für Rieger insbesondere bei der Analyse der größten muslimischen Minderheit in Deutschland: der Türken. Dies liegt für Rieger auch daran, dass der Autor beinahe ausschließlich eine einzige Autorin als Quelle für seine Türkeiexpertise heranzieht. So unterschlage Sarrazin, dass der Vorwurf der Bildungsferne vieler Türken natürlich auch für ihre Bildung im Islam selbst gälte!
Rieger und die Islamische Zeitung gehen auch kritisch mit den Muslimen und ihrer Geistesvergessenheit um. Die sei kein großes Wunder, sei doch der größte Teil des geistig-muslimischen Erbes der Türkei, in Form hunderttausender Bücher, in einer Sprache – der Osmanischen – geschrieben, welche die Türken heute gar nicht mehr beherrschten. „Die Türkei ist ja in den letzten Jahrzehnten geistig nicht nur durch den Islam, sondern auch durch einen bürgerlichen Säkularismus, der übrigens auch ideologische und militante Formen annimmt, durch Nationalismus und Kapitalismus geprägt. Eine große Zahl muslimischer, aber übrigens auch eine große Zahl türkisch geprägter Verbände, spiegeln heute diese Mischformen wider.“
Wie komme Sarrazin nur darauf, dass der Islam per se grundsätzlich an allen negativen Phänomenen muslimischer Einwanderer schuld sein soll? Rieger fordert gerade aufgrund dieser Debatte der letzten Zeit die Muslime zur Selbstkritik auf. „Natürlich haben Muslime – und damit sind nicht nur die orientierungslosen Ghettokinder Neuköllns gemeint – selbst auch beigetragen zu der heute so verbreiteten mangelnden Differenzierung und Unterscheidung zwischen der Alltagsrealität der Muslime und dem Islam.“ Die türkischen Verbände seien nicht wirklich multi-kulturell verfasst, hin- und hergerissen zwischen Beflaggung, ethnischen Trennlinien und religiöser Verantwortung. Daher müssten die muslimischen Verbände sich einige kritische Fragen anhören: „Welcher türkische Verband hat – wie es der Islam ja eigentlich fordert – aktiv andere Ethnien im Lande zur Mitgliedschaft aufgefordert? Will man an diesen Trennlinien allen Ernstes dauerhaft festhalten? Fürchtet man ohne die ethnische Differenzierung, vielleicht auch mangels eines gemeinnützigen, offenen Programms, eine Identitätskrise?“
Die „deutsch-deutschen“ Muslime spielen eine wichtige Rolle, um in der Integrationspolitik nicht in ein Schwarz-Weiß-Denken zu verfallen. Trotz seiner inhaltlichen Kritik an vielen polemischen Aussagen Sarrazins scheut sich Rieger auch nicht davor, ihm in einigen Punkten Recht zu geben: „Ich stimme, schon als Herausgeber einer deutschsprachigen Zeitung, Sarrazin zu, dass in muslimischen Kreisen, um mal das Klavier anders anzufassen, tatsächlich zu wenig gelesen und zu viel ferngesehen wird. Ich finde auch, dass man an dem Ort, an dem man ehrlich lebt, auch kulturell ankommen muss. Ich denke nicht, dass eine einheimische muslimische Identität in abgeschotteten Gewerbegebieten angesiedelt werden kann. Ich würde auch gerne mehr Muslime Weimar, den Ort deutscher und europäischer Geistesgeschichte, besuchen sehen.“
Aber im Gegenzug würde er auch gerne sehen, dass mehr Deutsche den Islam als Alternative zu dem ökonomisch-technischen Weltbild Sarrazins und seinen Idealen, bis hin zur Züchtung ökonomisch nutzbaren Lebens, begreifen würden. „Bekennen, Fasten, Pilgern, Beten und die Zakat zahlen sind faszinierende Stolpersteine jenseits einer allein ökonomisch durchplanten Zukunft. Die Zweifel an diesem ökonomischen Modell wachsen ohnehin bei allen denkenden Menschen“.

Die neue kulturelle Avantgarde

Auch wenn in der Öffentlichkeit lange Zeit Migranten nur als „Gastarbeiter“ angesehen wurden, gibt es bereits seit drei Generationen Kulturschaffende unter ihnen. Lange wurde das lediglich als ein Randphänomen betrachtet und etwa als „Gastarbeiterliteratur“ kategorisiert. Anfangs wurde etwa der Star-Regisseur Fatih Akin, der in seinen ersten Filmen verschiedene Fragen der Einwanderer in Deutschland thematisierte, als „Meister des Migranten- und Nischenkinos“ (Georg Jansen) bezeichnet. Spätestens aber mit seinem großen Erfolg Gegen die Wand emanzipierte Akin sich vom Gastarbeiterstatus der Elterngeneration und stieg endgültig in die Riege der großen deutschen Regisseure auf. Der Literaturwissenschaftler Georg Jansen konstatiert, dass Fatih Akins neuere Filme keine Filme mehr über Minderheiten seien, bei denen letztlich alles auf die Entscheid...

Inhaltsverzeichnis

  1. [Titelinformationen]
  2. [Impressum]
  3. Der Glaube ist nicht der Haschkeks für den Sinnsucher
  4. Einführung
  5. Notiz zu den verwendeten Zitaten
  6. 1. Wer sind die Neo-Moslems?
  7. 2. Wer spricht bisher über die Muslime?
  8. 3. Was denken die Neo-Moslems?
  9. Literatur
  10. [Informationen zum Buch]
  11. [Informationen zum Autor]