Kiffen und Kriminalität
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Kiffen und Kriminalität

Der Jugendrichter zieht Bilanz

  1. 240 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Kiffen und Kriminalität

Der Jugendrichter zieht Bilanz

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Ca. vier Millionen Menschen in Deutschland konsumieren regelmäßig Cannabis. Sie alle müssen mit der Angst vor strafrechtlicher Verfolgung und sozialer Stigmatisierung leben. Der landesweit bekannte Jugendrichter Andreas Müller legt dar, welche gravierenden Folgen das Verbot der Droge hat und warum damit endlich Schluss sein muss. Legalisierung heißt Schutz, besonders auch für Jugendliche, davon ist Müller überzeugt.

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Information

Kapitel 1
Cannabis und ich – Autobiografisches

Nachdem ich mein erstes Buch veröffentlicht hatte, fühlte ich mich wie leer geschrieben. Ich hatte so lange darüber nachgedacht, zu schreiben und meine Ansichten zum Jugendrecht einem größeren Publikum zu präsentieren, dass ich erst einmal sicher war, nicht noch einmal als Autor an die Öffentlichkeit treten zu wollen. Die zusätzliche zeitliche Belastung durch die Auftritte und Lesungen zum Buch neben meiner Richtertätigkeit führte mich an die Grenzen meiner Kraft.
Eine meiner ersten Lesungen brachte mich direkt mit meiner Vergangenheit in Berührung. Ich hatte in meiner Heimatstadt Meppen zu tun gehabt und brach von hier aus ins ostfriesische Leer auf, wo mein Co-Autor in Zusammenarbeit mit der örtlichen Tageszeitung eine Lesung organisiert hatte. Auf dem Weg dorthin fuhr ich an Börgermoor vorbei, wo sich die Jugendbesserungsanstalt Johannesburg befindet. In den Siebzigerjahren war das eine jener berüchtigten Einrichtungen, in die man die »schwer erziehbaren« Jugendlichen steckte, diejenigen, bei denen es, aus welchen Gründen auch immer, mit dem normalen bürgerlichen Leben und Aufwachsen nicht so recht klappte. In der Johannesburg war auch mein Bruder untergebracht gewesen, auch bei ihm war es mit dem angepassten und zielgerichteten Leben nichts geworden.
Die Fahrt rief viele Erinnerungen an meine Jugend wach. Ich nahm auf dem Rückweg nach Berlin intuitiv die nördliche Route über Hamburg, weil ich den inneren Drang verspürte, meinen dort lebenden Bruder zu besuchen. Aus Zeitgründen – ich war spät dran, und in Berlin wartete ein voller Schreibtisch auf mich – fuhr ich dann aber doch unverrichteter Dinge und ohne Besuch an Hamburg vorbei.
Drei Wochen später erreichten mich gleichzeitig zwei Anrufe ehemaliger Freundinnen meines Bruders: Er war tot.

Der Entschluss

Wenn geliebte Menschen uns verlassen, ist das immer eine Zäsur in unserem Leben. Das habe ich mehrmals selbst erlebt. So nach dem Tod meines Vaters, der als Kriegsheimkehrer seine Erinnerungen in Alkohol ertränkt hatte. Er hat den Kampf gegen den Feind aus der Flasche irgendwann verloren, woraufhin ich mir schwor, nicht so zu enden. Und auch nach dem Tod meiner Mutter, die dem Krebs nicht mehr standhalten konnte und mir auf dem Sterbebett das Versprechen abnahm, die Richterlaufbahn einzuschlagen.
Der Tod meines Bruders nun, nach seiner langen »Karriere« als Junkie, änderte meine Einstellung im Hinblick auf meine bereits beendet geglaubte Autorenlaufbahn. Ich ordnete seinen Nachlass, las mich in alten Unterlagen fest und fand unter anderem ein 2008 ergangenes Urteil des Hamburger Amtsgerichtes. Man hatte ihn mit zwei Gramm Cannabis am Bahnhof festgenommen, zusätzlich warf ihm die Anklage Widerstand gegen die Staatsgewalt vor, weil er sich angeblich der Festnahme entziehen wollte.
Jonas, der in seiner Jugend Hans gerufen wurde, war zu jener Zeit bereits seit zehn Jahren im Methadonprogramm der Stadt Hamburg. Im Alter von 30 Jahren hatte er erstmals Heroin genommen und war süchtig geworden, hatte diverse Entzüge hinter sich. Er wurde also vom Staat mit Ersatzdrogen vollgepumpt und traf auf eine Justiz, die die Gelegenheit nutzte, dem Junkie, den sie anscheinend verachtete, noch einen mitzugeben. Juristisch wäre es möglich gewesen, sich auf die Anklage wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt zu beschränken. In anderen Bereichen wird dies gemacht, etwa wenn bei Gewaltverbrechen nach § 154 der Strafprozessordnung die Tat mit der niedrigeren Straferwartung nicht weiter verfolgt wird. Statt sich auf die eine Anklage zu beschränken und das Verfahren wegen des Cannabisfundes einzustellen, wurde aber die Gelegenheit genutzt, wegen zwei Gramm Gras aus der ganzen Sache eine Bewährungsstrafe von sechs Monaten zu machen. Angesichts des offensichtlichen Zustandes meines Bruders und seiner Geschichte ist das aus meiner Sicht ein menschenverachtendes Urteil, entstanden nicht zuletzt aus einer undifferenzierten Interpretation des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG).
Die Lektüre dieses Urteils machte mich wütend, weil es die konsequente Fortführung all der Fehler dokumentierte, die in Jonas’ Leben passiert waren und die ihn zu dem gemacht hatten, was er war und woran er letztlich zugrunde ging. Ich spürte eine Verantwortung gegenüber meinem Bruder und eine Verpflichtung, dieses große Thema doch noch ein letztes Mal in all seinen Facetten anzugehen, um endlich öffentlich klarzumachen, warum die Legalisierung von Cannabis nicht einfach nur irgendeine marginale juristische Frage ist, sondern die Lebenswirklichkeit von Millionen Menschen in Deutschland positiv beeinflussen würde. Und nicht nur das: Sie würde dem Staat Ausgaben in Milliardenhöhe ersparen, die derzeit Jahr für Jahr durch überflüssige Verfahren nach dem Betäubungsmittelgesetz entstehen. Darüber hinaus könnten Steuereinnahmen in Milliardenhöhe für viele sinnvollere Dinge – von der Bildungs- bis zur Gesundheitspolitik – genutzt werden.

Eigene Cannabiserfahrungen

Ich spreche oft und gerne über das Thema Cannabislegalisierung, nicht zuletzt war es mir deshalb auch ein Anliegen, in meinem ersten Buch aufzuzeigen, wie die konservative Sozialromantik in diesem Land das Thema instrumentalisiert und ideologisch auflädt. Eine Frage, die häufig auftaucht, ist die nach meinen eigenen Cannabiserfahrungen. Habe ich selbst überhaupt schon einmal gekifft? Sollte mich nicht das Schicksal meines Bruders frühzeitig davon abgehalten haben? Wie stehe ich heute als arrivierter Richter dazu? Müsste ich die Frage nach meinen eigenen Erfahrungen nicht mit aller Vorsicht beantworten, so wie der USamerikanische Politikprofessor Mark Kleiman das im Februar 2014 in einem Interview mit dem Magazin NEON gemacht hat? Kleiman, der als Vordenker einer fortschrittlichen Drogenpolitik gilt, antwortete auf die Frage nach seinen Drogenerfahrungen:
Ich bin ein Kind der Sechzigerjahre und halte mich für einen relativ liberalen Menschen. Aber wenn man als Berater für Drogenpolitik arbeitet und gefragt wird, ob man Drogen konsumiert, hat man zwei Möglichkeiten. Entweder sagt man: »Ja, ich bin ein Gesetzesbrecher. Bitte kommt doch vorbei, verhaftet mich und ignoriert alles, was ich sage.« Oder man sagt: »Nein, ich habe keine Ahnung, über was ich verdammt noch mal spreche.« Da beide Möglichkeiten für mich wenig vorteilhaft sind, beantworte ich die Frage nicht.
Die ältere Generation, zu der ich mich mittlerweile wohl auch zählen muss, hat die Pflicht, die Lehren aus den eigenen Erfahrungen vor allem auch zum Schutz der Jugend einzusetzen. Das funktioniert in allen denkbaren Bereichen: Wir können frei über unser Sexualleben berichten, über unsere Alkoholexzesse, können von dem Mist erzählen, den wir in unserer Jugend gebaut haben, von allen möglichen Fehlern, die wir gemacht haben. Wir können Außenminister werden, obwohl wir in der Jugend auf Polizisten eingeschlagen haben. Joschka Fischer ist der beste Beweis. Und wir können all das sogar in der Öffentlichkeit preisgeben.
Geht es aber um Cannabiskonsum in der Jugend, während des Studiums und auch im Erwachsenenleben, so hat sich unsere Gesellschaft eine Art Schweigegelübde auferlegt. Die meisten Erwachsenen meiden Fragen nach eigenen Cannabiserfahrungen wie die sprichwörtliche Pest. Und wenn sie antworten, dann in aller Regel möglichst ausweichend, etwa so, dass sie mal am Joint gezogen haben (aber niemals inhaliert, wie es etwa der ehemalige US-Präsident Bill Clinton zugab), es ihnen aber gar nichts gebracht habe. Rechtfertigung: Man sei halt jung gewesen. Über aktuellen Konsum höre ich ganz selten Menschen reden.
In der Vorbereitungsphase für dieses Buch habe ich möglichst alles, was im Zusammenhang mit der aktuell aufgeflammten Legalisierungsdebatte stand, sehr genau verfolgt. So ehrlich wie Barack Obama, der öffentlich über seine Kiffervergangenheit als Mitglied einer Bande namens Choom-Gang berichtete, ist kaum ein Deutscher gewesen. Hinter den Kulissen erzählen aber viele Leute oft und gerne von ihren Kifferfahrungen. Sobald jedoch die Kameras angehen, wird nicht mehr darüber geredet.
Ich habe unzählige Sendungen gesehen, die das Thema Cannabis zum Gegenstand hatten. Sofern Künstler oder Musiker zum Thema befragt werden, gehört es fast schon zum guten Ton, zuzugeben, zumindest in der Jugend regelmäßig gekifft zu haben. Politiker allerdings oder andere Personen des öffentlichen Lebens räumen bestenfalls ein, mal an einem Joint gezogen zu haben, oder sie sagen gar nichts dazu. So habe ich noch keinen Politiker im Deutschen Bundestag über seine Cannabiserfahrungen berichten gehört – geschweige denn, dass es ihm auch noch Spaß gemacht hätte.
Kaum einer hat den Mut, über die eigene Kiffervergangenheit zu erzählen. Dabei wäre das genauso nötig, wie es in der großen Abtreibungsdebatte in den Siebzigern nötig war, öffentlich im stern zu bekunden: »Ja, ich habe abgetrieben.«
Ich sehe es an mir selbst. Wie oft schon wurde mir die Frage nach meiner eigenen Kifferzeit gestellt. Ich war eigentlich immer gezwungen, zu lügen, musste einen Teil meines eigenen Lebens verleugnen im Interesse der Absicherung meines gutbürgerlichen Daseins und weil man als Jugendrichter eben mit gutem Beispiel vorangehen sollte. Worin dieses »gute« Beispiel besteht, wird meistens nicht hinterfragt. Ich, der ich eigentlich ganz schlecht im Lügen bin und als katholisch sozialisierter Mensch auch gar nicht lügen darf, musste mich immer wieder herausreden oder Hilfsbeispiele bringen wie: »Ein Richter muss ja auch keinen Raub begangen haben, um über Bankräuber zu richten.« Am besten kommt man in der Regel davon, wenn man einfach sagt: »Na ja, ich war auch mal jung«, und damit alles im Ungefähren belässt.
Wie oft hätte ich gerne mit den mir anvertrauten jungen Menschen über meine eigenen Erfahrungen geredet, und wie oft hätte ich dadurch auch als Richter ein gutes Stück glaubwürdiger sein können. Wie oft hätte ich durch so ein Gespräch vielleicht früher erkennen können, ob die Jugendlichen tatsächlich ein Suchtproblem haben oder einfach nur aus Lust und Freude konsumieren. Dieses mir und anderen durch die Gesellschaft auferlegte Schweigen, das eine Verlogenheit der ganzen Gesellschaft ist, gilt es zu durchbrechen. Menschen, die wie ich für eine Legalisierung eintreten, müssen und sollen offen zumindest über ihre eigene Jugend berichten dürfen. Das ist Teil eines ehrlichen Umgangs und trägt dazu bei, Suchtverhalten früher erkennen zu können.
Also werde ich mich nicht hundertprozentig an die Devise Kleimans halten, auch wenn er natürlich prinzipiell recht mit seiner Aussage hat. So wie er als Berater laufe auch ich als Richter schnell Gefahr, mich mit entsprechenden Ausführungen aufs Glatteis zu begeben. Einige, insbesondere aus der christlich-konservativen Ecke, werden wohl meinen Kopf fordern und mich als Gefahr für unserer Kinder darstellen. Vor 500 Jahren, als es noch um die Frage ging, ob die Erde eine Scheibe oder eine Kugel ist, hätte man mich, zumal ich auch noch rothaarig bin, vielleicht als Ketzer verbrannt. Trotzdem möchte ich in diesem Buch anhand einiger Geschichten aus meinem Leben auf das Thema eingehen. Nur so erschließt sich mein überdurchschnittliches Engagement auf diesem Gebiet vollständig. Außerdem kann ich so mit meiner eigenen Verlogenheit zumindest ein wenig aufhören.

Drogenparadies Emsland

Ich stamme gebürtig aus dem Emsland, einem flächenmäßig recht großen Gebiet im Nordwesten Deutschlands. Diese Region ist bekannt für ihre bodenständige norddeutsche Mentalität, sie ist aber auch bekannt für die Trinkfestigkeit ihrer Bewohner. Es mag Gegenden im Bundesgebiet geben, in denen Saufgelage ebenfalls an der Tagesordnung sind. Die Alkoholgewöhnung der Menschen in meiner Heimat war für mein Leben leider früh von Bedeutung. Als ich elf Jahre alt war, starb mein Vater. Er hatte sich im wahrsten Sinne des Wortes totgesoffen. Seinen letzten Rückfall überlebte er nicht und starb nur sechs Monate nach der scheinbar erfolgreichen Rückkehr aus einer Trinkerheilanstalt, wie man das damals nannte.
Mein Bruder, der fast fünf Jahre älter war als ich, versuchte sich dem Drama daheim mit dem ständig angetrunkenen Vater, der leidenden Mutter sowie dem jüngeren Bruder bisweilen zu entziehen. Im Emsland gab es damals eine große amerikanische Garnison in Sögel, und vor allem über die GIs kamen die emsländischen Jugendlichen in den Discos der Umgebung leicht mit Cannabis in Berührung. Zu diesem Zeitpunkt, es war Anfang der Siebzigerjahre, hatte sich auch bei uns in der Provinz eine lebhafte Hippieszene herausgebildet, die ihrem amerikanischen Vorbild nicht nur im Look und in den politischen Ansichten nacheiferte, sondern auch dem Umgang mit Drogen eher neugierig und positiv gegenüberstand. So kifften mein Bruder und seine Freunde eben.
Doch nicht nur das, mein Bruder entwickelte schnell ein Gespür dafür, dass er mit dem Verkauf kleiner Mengen Cannabis sowohl seine Stellung im Freundeskreis festigen als auch ein wenig Geld verdienen konnte. Bald war er dem Reiz des Verbotenen so sehr erlegen, dass er kleinere Diebstähle tätigte, um neues Haschisch zu besorgen, und darüber hinaus bald als Kiffer stadtbekannt war. Schließlich flog er vom städtischen Gymnasium und sorgte damit unfreiwillig für meine eigene erste Bekanntschaft mit dem Thema. Denn ich war trotz einer Lese-Rechtschreibschwäche einige Wochen später auf das Maristenkloster umgeschult worden, ein durch Pater geleitetes, privates Gymnasium. Dort wurde ich von einem Lehrer, der gleichzeitig vom städtischen Gymnasium zum Maristenkloster gewechselt war, auf dessen ganz eigene Art und Weise begrüßt. Als er registrierte, wer ich war, titulierte er mich als »den Bruder des stadtbekannten Haschers« und verpasste mir zur Einstimmung und im Rahmen des noch geltenden Züchtigungsrechtes gleich mal zwei heftige Ohrfeigen. Das war vierzehn Tage, nachdem mein Vater sich endgültig zu Tode gesoffen hatte.
So lernte ich den Zusammenhang zwischen Cannabis und Strafe sehr direkt und schmerzhaft kennen und lernte, dass Cannabisgegner keine Argumente brauchten, weil sie sich ohnehin auf der Seite der Guten und Gerechten fühlten. Das ist heute leider häufig noch genauso.
Ich, der weinende Fünftklässler, verstand das alles nicht, wurde aber in den nächsten Jahren immer wieder mit der Thematik konfrontiert. Bis mein Bruder irgendwann den Hauptschulabschluss schaffte und schließlich in die Jugendbesserungsanstalt geschickt wurde, standen bei uns regelmäßig Autos vor dem Haus, deren Bedeutung ich bald kannte: Es fand mal wieder eine Hausdurchsuchung statt, und jedes Mal wurde auch mein Kinderzimmer durchsucht, in dem Glauben, mein Bruder könne dort Cannabis deponiert haben. Dies und auch die zeitweilige Abwesenheit meines Bruders, der in irgendwelchen Kifferwohnungen Unterschlupf fand, gehörten bald zu einer etwas seltsamen »Normalität« für meine vaterlose Familie.
Trotz seiner laufenden »Drogenkarriere« absolvierte mein Bruder dann eine Schriftsetzerlehre in der Johannesburg. Gleichzeitig dealte er von dort aus. Nun handelte es sich oft auch nicht mehr nur um geringe Mengen für ein paar Freunde, sondern um sogenannte »Hecks«, also 100-Gramm-Pakete (bisweilen sogar Kilos) Cannabis. Da sowohl er als auch die Kumpels, die ihm halfen, blutige Amateure waren, ging das nicht lange gut. Man schnappte sie, mein Bruder wurde eine Zeitlang per Haftbefehl gesucht. Als er dann vor dem Richter stand, kam es zu einer ersten Bewährungsstrafe, der weitere folgten. Schließlich wurde er Jahre später zu drei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt, weil das Landesgericht Osnabrück die Urteile früherer Prozesse aufsummierte. So wurde er lange Zeit zwar als Krimineller be- und verurteilt, spürte davon aber kaum etwas. Bis es sich aufgrund der langen Strafe dann plötzlich wie Schwerstkriminalität anfühlen musste.
Mein Bruder wäre der klassische Fall für einen effizienten Warnschussarrest gewesen. Dies darf nicht mit einer Inhaftierung im Sinne von Jugendgefängnis verwechselt werden, sondern hätte ihm für eine begrenzte Arrestzeit aufgezeigt, wie sich Freiheitsentzug anfühlt und wie ernst die Lage ist. Für das in weiten Kreisen verpönte juristische Mittel des Warnschusses habe ich schon in »Schluss mit der Sozialromantik« plädiert. Und ich bin bis heute davon überzeugt, dass meinem Bruder die dramatischen Verschlimmerungen seiner Drogenkarriere dadurch erspart geblieben wären. Stattdessen tat der Staat das, was er heute leider immer noch tut. Er scherte alle Rauschmittel jenseits von Nikotin und Alkohol über einen Kamm und machte aus harmlosen Kiffern, die Anleitung und Hilfe gebraucht hätten, Straftäter.
Und ich selbst? Hätte ich nicht auch fast automatisch diesen Weg gehen müssen, allein schon aufgrund der Drogenkarrieren in meinem engsten Umfeld?
Ich kann nicht leugnen, dass die Gefahr durchaus bestand. Als ich ins Teenageralter kam, hatten auch bei uns in der Provinz längst diverse Discos aufgemacht, die zum Teil heftige Kifferschuppen waren. Unweit unseres Wohnhauses lag die Top-Disco, ein damals bei der Meppener Jugend äußerst beliebter Laden. In ihm sahen wir alles verwirklicht, was uns junge Menschen damals bewegte: andere Musik, Rock statt Schlager, lange Haare statt ordentlich-militärischer Kurzhaarschnitte, ein anderes Leben als das der Eltern. Und dazu gehörten eben auch Drogen.
Mit 14 Jahren schaffte ich es zum ersten Mal, mit älteren Freunden Einlass in die Top-Disco zu bekommen. Die Inhaberin schaute nicht so genau hin, der Umsatz war ihr wichtiger. Und so stand ich dort auf der Tanzfläche, hörte Uriah Heep und war stolz wie Bolle. In den folgenden Jahren wurde die Top-Disco für mich zu einem zentralen Ort der Freizeitgestaltung, drogentechnisch hielt ich mich allerdings zunächst an Alkohol. Als ich 15 oder 16 war, kiffte jedoch schon etwa die Hälfte meiner Freunde. Ich selbst trank nur Wein, süßen Wein, niemals Bier. Psychologisch lässt sich das im Nachhinein leicht erklären: Ich kiffte nicht, weil ich das angesichts der Geschichten meines Bruders meiner Mutter nicht antun wollte, und ich trank kein Bier, weil ich meinen Vater immer nur Bier hatte trinken sehen.
Lange Zeit sahen die Wochenenden also so aus: Meine Freunde waren bekifft, ich war betrunken. Im Alter von 18 Jahren entschied ich mich dann doch, gelegentlich mitzukiffen. Ich wollte nicht betrunken sein, während die anderen vom Cannabis lustig wurden und diesen anderen Rausch erlebten. Schließlich näherte ich mich dem Thema Cannabis doch auf der praktischen Ebene. Allerdings war das gar nicht so einfach, da ich es nicht schaffte, zu inhalieren. Der Wirkstoff kam dadurch gar nicht erst in meine Lunge, und ich merkte gar nichts. Um Abhilfe zu schaffen, kaufte ich mir meine erste Schachtel Zigaretten und begann das Rauchen zu üben. Und dies, obwohl ich zuvor als Schülersprecher auf geradezu militante Weise versucht hatte, in der Schule die Raucherecken abzuschaffen. Als ich endlich inhalieren konnte, brauchte ich allerdings noch einige Versuche, bis ich endlich meinen ersten Cannabisrausch erleben durfte. Für mich hieß das: Ich hatte nun endlich die Möglichkeit, zwischen Alkohol und Cannabis zu wählen. Übrigens war es aus heutiger Sicht falsch, es so zu machen wie beschrieben. Ich hätte mit Haschtee oder Cannabiskeksen beginnen sollen oder pur rauchen, dann wäre mir die lebenslängliche Abhängigkeit von Nikotin erspart geblieben.
In der Folge rauchte ich während meiner Abiturzeit gelegentlich den einen oder anderen Joint. Allerdings nie allein, sondern immer zusammen mit Freunden. Und irgendwann spürte ich auch intensiv die gewünschte Wirkung. Das Kiffen entspannte, machte nicht aggressiv, wie es bei Alkohol schon mal vorkommen konnte, und ich war innerhalb meines Bekanntenkreises (heute würde man von Peergroup sprechen) beim Thema Cannabis nicht länger außen vor.
An Haschisch, das damals überwiegend konsumiert wurde, zu kommen, war übrigens nicht schwer. Die niederländische Grenze war so nah, dass man notfalls mit dem Fahrrad rüberfahren konnte. Dort war Cannabis seit ich denken konnte immer frei verkäuflich. Wir nannten die Besorgungsfahrten damals »Ameisenverkehr«, weil jeder einzelne immer kleine Mengen, meist zwei oder drei Gramm, transportierte. Bevorzugtes Versteck für den Schmuggel: die Mundhöhle. Dort wurde entweder nicht kontrolliert,...

Inhaltsverzeichnis

  1. [Titelinformationen]
  2. [Impressum]
  3. Das Bewusstsein erweitern und verändern – Warum dieses Buch notwendig ist
  4. Kapitel 1 Cannabis und ich – Autobiografisches
  5. Kapitel 2 Kiffen ist nicht kriminell – die konfuse Rechtslage
  6. Kapitel 3 Schluss mit den Dogmen – die Legalisierungsdiskussion
  7. Kapitel 4 Kiffen – Klischees und Realität
  8. Kapitel 5 Obama und Merkel kiffen – ein Ausblick
  9. Nachwort
  10. Dank
  11. Anhang
  12. Anmerkungen
  13. [Informationen zum Autor]