Die Kostbarkeit des Augenblicks
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Die Kostbarkeit des Augenblicks

Was der Tod für das Leben lehrt

  1. 176 Seiten
  2. German
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Die Kostbarkeit des Augenblicks

Was der Tod für das Leben lehrt

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Über dieses Buch

Warum haben wir so viel Angst, uns dem Tod zu stellen? Der Hauptgrund ist, dass wir die Vergänglichkeit ignorieren. Doch wer sich ihr stellt, für den bekommt die Gegenwart ein ganz neues Gewicht. Alles ist kostbar, nichts verdient, nachlässig behandelt zu werden. Dieser Morgen, dieser Vogelruf, diese Regentropfen am Fenster, diese Sonnenstrahlen – das Leben ist wertvoll, Stunde um Stunde. Das lehrt uns der Tod.

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Information

1.

»Es gibt für jeden Tag zwei Pläne – meinen und den des Geheimnisses.«
Sprichwort der Inuit

12. Januar. Die Nachricht

Es ist ein gewöhnlicher Wintertag. Ein wenig grau, aber nicht düster. Ich öffne das Fenster und schnuppere. Schnee liegt in der Luft. Ich überlege, wie ich diese Ahnung von Schnee, diese ganz bestimmte Luftqualität beschreiben würde. Mir fällt nur ein englisches Wort dafür ein: crisp. Scharf? Frisch? Knusprig? Das wohl kaum. Ich freue mich auf den Schnee und denke beiläufig, ich würde meinen Bruder fragen, ob er eine Luft, die crisp ist, dort unten im tropischen Georgia nicht vermisst. Immerhin hat er ein paar Jahre in der Schweiz gelebt, da wird er wissen, was ich meine. Aber gleich höre ich ihn lachen (sein tiefes glucksendes Lachen, ich höre es ganz deutlich) und weiß, er vermisst dort unten gar nichts, denn er ist so verfroren wie ich, seine Schwester, und seinen Wohnort hat er bewusst gewählt.
Ich habe den ganzen Vormittag an meinem Buchmanuskript gearbeitet und überlege, was ich mir zu Mittag koche. Es passt zu diesem ereignislosen Tag, dass mir nur das Übliche einfällt: Reis mit Gemüse. Aber bevor ich mich an den Herd stelle, will ich noch rasch meine E-Mails abrufen.
Über dem Schwarzwald färbt sich der Himmel dunkler. Wahrscheinlich schneit es dort oben schon. Vielleicht sollte ich heute Nachmittag in den Baumarkt fahren und eine neue Schneeschaufel besorgen; unsere alte ist mit Flügelmuttern notdürftig geflickt und das Blatt wackelt beim Schaufeln. Auf dem Rechner läuft der Virenscanner, das E-Mail-Programm braucht deshalb eine Weile, bis es sich öffnet. Im Posteingang eine Rechnung, zwei Newsletters und eine Mail meiner Schwägerin in Georgia mit dem Betreff »News«.
Dear family and friends, beginnt die Mail, die nur 3 Zeilen lang ist. Also ein Rundschreiben, das ist ungewöhnlich bei uns. Was schreibt sie da? Bei Ted habe man a primary liver tumor festgestellt, eine Operation sei nicht möglich, sie werde uns auf dem Laufenden halten, I will keep you posted.
Ich kann nicht genügend Englisch, ich verstehe das hier falsch. Ganz bestimmt verstehe ich das falsch, denn es kann nicht sein, dass mein Bruder, zwei Jahre jünger als ich, einen Tumor hat. Der nicht operiert werden kann. Und was überhaupt ist ein primary tumor? Ich schlage das Wörterbuch auf und sehe, dass ich das ganz richtig verstanden habe.
Mein Bruder hat Krebs.
Es gibt diese Momente unheimlicher Stille, bevor ein Gewitter losbricht. Die Welt scheint den Atem anzuhalten, kein Luftzug bewegt die Blätter, die Vögel sind verstummt. In solch einer Stille sitze ich am Schreibtisch. Mein Bruder hat Krebs …
Der Sturm bricht los in Form von hektischer Aktivität. Ich google »primäres Leber-Karzinom« und erfahre, dass dies ein besonders aggressiver Krebs sei: »In 80 % der Fälle können Leberkarzinome zum Zeitpunkt der Diagnose nicht mehr operiert werden«, sagt die Seite der Krebshilfe. »Falls der Leberkrebs aufgrund seiner Ausdehnung nicht vollständig durch eine Operation entfernt werden kann, zielt die Therapie nicht mehr auf eine Heilung ab.« Ich rufe einen Freund an, der Arzt ist. Er will gerade zum Essen gehen und ruft eilig in den Hörer, ja, eine sehr schlechte Prognose, in der Tat! Ein halbes Jahr geschätzte verbleibende Lebenszeit, würde er sagen. Um wen es ginge? Oh, das täte ihm leid.
Langsam lege ich den Hörer auf. Draußen beginnt es zu schneien. Große, flaumig weiche Flocken, wenige zuerst, die langsam niedersinken, dann immer mehr. Die Welt ist auf einmal so still, eingewickelt in dicke Flocken.
In Atlanta am Telefon nur das Band mit der Stimme meiner Schwägerin: Hello, please leave a message.
Ein gewöhnlicher, stiller Arbeitstag. Alltägliche Behaglichkeit. Das Leben ist in Ordnung, wie beruhigend. Du fühlst dich sorglos, fast schon von unsichtbaren Mächten beschützt, und dann, genau dann, geschieht etwas. Manchmal ist dies etwas eher Geringfügiges: die Lieblingstasse zerbricht, ein Brief geht verloren, der Plan fürs Wochenende wird durch äußere Umstände vereitelt. Kleine alltägliche Unannehmlichkeiten, die jeder kennt.
Ich sehe es inzwischen anders. Diese kleinen Verluste und Veränderungen sind viel wichtiger, als sie erscheinen: In ihnen hat der Tod eine Botschaft geschickt.
Die meisten Menschen sehen im Zerbrechen eines Stücks Geschirr eher nicht den Tod. Nun gut, sagen sie, Dinge gehen kaputt, wieder andere Dinge gehen verloren, Menschen ziehen weg und verschwinden aus unserem Kreis. Verluste und Veränderungen, sagen sie, gehören eben zum Leben.
Ja, weil der Tod zum Leben gehört.
Fast alle Menschen, die ich kenne, haben den Tod in Gedanken an das Ende ihres Lebens verbannt und ihr Ende liegt natürlich in weiter Ferne. So weit, dass sie den Tod, der dort angeblich geduldig auf sie wartet, gar nicht sehen können. Das Denken an den Tod halten sie grundsätzlich für morbide. Es ist ein sicherer Weg in die Depression, meinen sie, und deshalb stehen depressive Menschen in unserer Gesellschaft im Verdacht, ihr Leiden selbst verschuldet zu haben: Wahrscheinlich haben sie sich in Gedanken ständig mit dem Tod beschäftigt. In unserer Gesellschaft hat man leistungsfähig und tatkräftig zu sein, kreativ und motiviert, belastbar, begeistert, gesund, energiegeladen und erfolgreich.
Kein Ort für den Tod, nirgends.
Aber eines Tages, nach vielen alltäglichen Verlusten, schickt der Tod eine große Botschaft. Die Firma geht in Konkurs, der Arbeitsplatz wird wegrationalisiert, der Partner will die Scheidung, das Kind erkrankt schwer. Und in den tatkräftigen, belastbaren, energiegeladenen und erfolgreichen Menschen bricht das Chaos aus. Wenn sie jetzt einen Moment innehalten, erkennen sie vielleicht, dass sie mit all dem Lärm, den sie veranstaltet haben, und ihrem Voranstürmen die ganze Zeit nur ihre Angst überdeckt haben. Die Angst vor dem Tod.
Dann wird es sehr mühsam sein, diese Menschen davon zu überzeugen, dass an dieser Angst nichts falsch oder verwerflich ist, dass sie sich nicht dafür schämen müssen und dass diese Angst sie nicht umbringen wird, im Gegenteil: Sie könnte der Beginn eines neuen Lebens sein, eines Lebens, das sich seiner Endlichkeit in aller Klarheit bewusst ist.
Rainer Maria Rilke, in dessen Gedichten der Tod immer anwesend ist, schrieb:
»Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.«

13. Januar. Nachtwache

Es ist kalt in der Wohnung, die Heizung läuft auf Nachtschaltung. Ich sitze im Bademantel auf dem Sofa und denke, ganz ruhig und vernünftig: Ich werde ihn verlieren. Und das, bevor ich ihn überhaupt richtig kennengelernt habe. Wir haben uns erst vor dreieinhalb Jahren gefunden, mein kleiner Bruder und ich; wir sind doch mit dem Kennenlernen erst am Anfang.
An einem sonnigen Herbsttag in Stuttgart, in einem italienischen Restaurant in einer stillen Seitenstraße, hat er sich über seinen Pastateller gebeugt und gesagt: »Jetzt wird alles gut.« Noch nie hatte jemand zu mir gesagt, dass alles gut wird. Es war immer ich, die das sagen musste, zu Menschen, deren Überzeugung es war, dass alles nur furchtbar enden kann.
An einem sonnigen Herbsttag vor dreieinhalb Jahren lag eine leuchtende Zukunft vor uns, als Bruder und Schwester. Jetzt glaube auch ich, dass es nicht gut enden wird.
Diese Stille nachts um drei. Kein Auto fährt, kein Hund bellt, nirgendwo rauscht die Wasserleitung. Draußen ist die Welt in Eis und Kälte erstarrt. Ich halte Nachtwache. Die Nachtwache ist ja ein Dienst an der Gemeinschaft: Damit alle anderen ruhig schlafen können, muss einer da sein, der wacht. Falls ein Feuer ausbricht, das Dach einstürzt, ein Dieb einsteigt, jemand plötzlich aufwacht und vor Schmerz und Entsetzen nicht mehr denken und sprechen kann. Dann muss jemand da sein, der aufmerksam und schnell ist und weiß, wie man Hilfe leistet.
Ich habe eine große Gemeinschaft zu bewachen: meine eigenen Gedanken und Gefühle. Weil meine Gedanken und Gefühle in Windeseile eine Zeitreise machen, wenn das Leben mir einen Verlust ankündigt. Sie werden dann nämlich fünf Jahre alt und Fünfjährige müssen tief und behütet schlafen dürfen. Das ist ihr Recht als Kinder, das steht ihnen zu.
In einer Nacht wie dieser also sitze ich im Geist ganz schnell auf einem anderen Sofa; der Bezug ist dünn gerieben, die Spiralfedern quietschen, das Ding gehört eigentlich auf den Sperrmüll, aber von dort haben wir es ja vor ein paar Wochen nach Hause getragen und schätzen uns glücklich, jetzt ein Sofa zu haben. Wenn eine Fünfjährige auf einem Sofa sitzt, baumelt sie meistens mit den Beinen, aber diese Fünfjährige (ich sehe sie vor mir, sie hat lange dünne Zöpfe und trägt ein blau-rot kariertes Kleid) baumelt nicht (sie wirkt erstarrt auf mich, völlig reglos). Die Mutter hat schon ihren Mantel angezogen, greift jetzt nach dem Schlüssel, wendet sich noch einmal um und sagt etwas, was dieses Kind aus dem Geborgenheitsgefühl des Kindseins schleudert, und zwar für immer. Die Mutter sagt es kalt, öffnet die Tür, schließt sie hinter sich ab und geht. Das Kind wirft sich an die Tür, trommelt an das Holz (doch, jetzt schreit es, endlich!), drückt die Klinke vergeblich nieder. Es stürzt ans Fenster und sieht die Mutter gerade noch um die Ecke biegen, aus dem Blickfeld des Kindes. Weg. Für immer weg. Weil das Kind, hat sie gesagt, ein böses, böses Kind ist, das sie nie wieder sehen will.
Hinter der verschlossenen Tür sind nun beruhigende Stimmen zu hören von wohlmeinenden, aber völlig ahnungslosen Nachbarn, die dem Kind versichern, die Mami käme schon wieder, sie sei nur einkaufen gegangen. Das Kind aber weiß, dass das nicht stimmt. Die Mutter, der es vertraut hat, ist für immer weg. Zurückgekommen ist dann eine veränderte Mutter. Sie zerstreut das Grüppchen Nachbarn vor der Tür mit den Worten »Dieses Kind ist unerträglich empfindlich«. Als sie die Tür von innen verschlossen hat, fragt sie, die selbst mutterlos aufwuchs und in ihrem Kind die Mutter sucht, mit verzweifelter Trostbedürftigkeit in der Stimme: »Wirst du mich jetzt endlich lieben?«
Ich halte Nachtwache über meine Gefühle. Sie sollen ruhig bleiben dürfen, sie sind so verletzlich und zart. Auch meine Gedanken sollen ruhen, bevor sie morgen dazu benötigt werden, Nützliches und Kluges zur Zukunft meines Bruders und zu meiner eigenen Zukunft beizutragen.
Und wer ist das »Ich«, das hier wacht über das andere »Ich«, die Fünfjährige, die ich ja auch immer noch bin, irgendwo tief verborgen in Körper und Geist? Ist es das, was das Zen den Zeugen nennt, was in anderen spirituellen Traditionen »das Bewusstsein, das sich selbst erkennt« genannt wird?
Ich brauche keinen Begriff dafür. Was immer es ist, es existiert. Es ist eine hellwache Gegenwärtigkeit, die einfach nur wahrnimmt, was sie umgibt. Die brennende Kerze, das weiche Sofa, das indische Kissen mit den eingewebten Spiegelsplittern, den Atem, der ein- und ausströmt. Die Kirchturmuhr schlägt vier Mal. Die Nacht ist kalt und still.
Die amerikanische buddhistische Nonne Pema Chödrön fragte einmal den Zen-Meister Kobun Chino, wie er mit Angst umginge. Kobun sagte: »Ich bin mit ihr einverstanden.« Das ist eine wunderbare Anweisung für alle, die meinen, sie müssten nur »richtig« meditieren oder beten, um nie wieder Angst zu haben. Angst erscheint im Geist, wie alle anderen geistigen Phänomene erscheinen, und der Körper antwortet darauf mit den bekannten Symptomen. Und obwohl Geist und Körper von der Angst vollkommen überschwemmt werden, sind wir nicht die Angst. Es gibt eine Instanz in uns, die diesen ganzen Prozess beobachten und die schlichte Tatsache feststellen kann: Aha, da ist Angst. Sieh an. Gestern Morgen war da Freude, vor zwei Stunden war Hunger, jetzt ist da Angst.
Wenn ein Kind Angst hat, muss jemand da sein, der es in den Arm nimmt und tröstet. Jemand, der ihm sagt, dass es keine Gespenster gibt, die ihm etwas antun wollen. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass es in unserem Leben als Erwachsene nur einen Menschen gibt, der bereit ist, das für uns zu tun: Wir selbst.
Man redet einem Kind, das Angst hat, sein Gefühl nicht aus, erklärt es nicht zur Einbildung und verunsichert damit die Wahrnehmung des Kindes. Ein Kind, das Angst vor Wasser hat, schickt man nicht zur Angstbewältigung ins Meer und wenn es Angst vor Hunden hat, sperrt man es nicht in den Hundezwinger. Aber auch Ablenkung wäre schlechte Pädagogik: Dem Kind schnell ein Eis in die Hand zu drücken, damit es uns nicht weiter mit seiner Angst belästigt.
Wir müssen lernen, das ängstliche Kind in uns zu behüten und zu beruhigen. Das Zauberwort dafür ist Innehalten. »Nichtstun ist auch ein Tun«, pflegt mein Lehrer, der Zen-Meister Thich Nhat Hanh, zu sagen. Entscheidungen, die im Zustand der Angst getroffen werden, erweisen sich hinterher immer als falsch. Handlungen, die von Angst motiviert sind, müssen später fast immer korrigiert werden. Angst ist zuerst einmal Aufruhr im Geist: Die Gedanken überschlagen sich, der Intellekt versucht, Lösungen zu präsentieren, der Geist versetzt das Körpersystem in Alarm, das Herz rast, der Atem beschleunigt sich. Warum also setzen wir uns nicht still in den Lieblingssessel mit einer Tasse Tee und atmen erst einmal zehn Minuten ganz bewusst ein und aus?
Wir nehmen wahr, wie wir einatmen: Der Atem strömt an den Nasenflügeln hinein, fühlt sich etwas kühl an, strömt durch die Luftröhre, hebt die Brust, den Bauch und dann strömt er wieder aus. Wir bleiben mit unserer Wahrnehmung einfach bei dieser Bewegung, dem unendlichen Ein und Aus. Unser ängstliches Kind wird von unserem Atem gewiegt und vielleicht fällt es sogar in einen heilsamen Schlaf.
Das bewusste Atmen beruhigt in allen Lebenslagen, weil wir nicht gleichzeitig den Atem in seiner ganzen Länge wahrnehmen und denken können. Atem schafft also Raum in uns, Bewusstseinsraum. Und er verbindet uns mit einer Kraft, die größer ist als unser kleines Ich, wie immer wir diese Kraft nennen möchten.
Atem wurde seit jeher mit Geist gleichgesetzt, denn Atem ist formlos. Wir können ihn nicht sehen, nicht greifen und doch können wir uns des Atems bewusst sein. Das westgermanische Wort Atem ist verwandt mit Atman, das der Duden als »Hauch, Seele« definiert, und Atman bedeutet im Hinduistischen »der innere Gott, das innerste Göttliche«. Und in Genesis 2,7 lesen wir: »Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.«
Wenn uns der Tod also eine große Botschaft geschickt hat und wir darauf antworten, indem wir im Lieblingssessel bewusst ein- und ausatmen, kann das eine zutiefst spirituelle Handlung sein.

19. Januar. Die Schamanen

Vier E-Mails. Zwei von mir, zwei von ihnen. Nichts Neues. We keep you posted.
Ich war auf Pauls Vernissage. Die Bilder hätten mir genügt; mit den einhundert Menschen war ich überfordert. Paul schien das bemerkt zu haben und stellte mir Maik und Nina vor. Er hat einen Vollbart und sie trägt bunte Bänder im Haar. »Sie sind Schamanen«, sagte Paul. »Für so was interessierst du dich doch.« Ic...

Inhaltsverzeichnis

  1. [Titelinformationen]
  2. [Impressum]
  3. 1. »Es gibt für jeden Tag zwei Pläne – meinen und den des Geheimnisses.« (Sprichwort der Inuit)
  4. 2. »Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit.« (Kohelet 3,1)
  5. 3. »Wenn dein Bogen zerbrochen ist – schieße!« (Zen-Koan)
  6. 4. »Ihr müsst von Neuem geboren werden.« (Johannes 3,7)
  7. 5. »Die längste Reise, die du jemals machst, ist die vom Kopf zu deinem Herzen.« (Weisheit der nordamerikanischen Indianer)
  8. 6. »Gam tse jaawor – Auch dies wird vorübergehen.« (Inschrift im Ring des Salomo)
  9. 7. »Die Wunden, die du erhalten hast, sind die Hülle für das Gold, das du in dir trägst.« (Der Schamane Malidoma Somé aus Burkina Faso)
  10. 8. »Trag jederzeit frische Kleider, und nie fehle duftendes Öl auf deinem Haupt.« (Kohelet 9,7)
  11. 9. »In meine Welt ist jetzt der Frühling gekommen: Lebt wohl!« (Sterbegedicht des Haiku-Dichters Bainen)
  12. 10. »Was wir im Leben getan haben, formt uns zu dem, der wir sind, wenn wir sterben. Und alles, wirklich alles, zählt.« (Der tibetische Meditationslehrer Sogyal Rinpoche)
  13. Bücher, die mich damals begleiteten – und weitere zum Thema, die ich gern empfehle: