Ein Jahr in Istanbul
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Ein Jahr in Istanbul

Reise in den Alltag

  1. 192 Seiten
  2. German
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Ein Jahr in Istanbul

Reise in den Alltag

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Über dieses Buch

"Sie wissen nicht, wie hier im Sommer die Winde wehen und den Leuten fast den Verstand rauben. Sie wissen nicht, wie sich die Stadt verändert, wenn Ramadan ist. Sie wissen nicht, wie unglaublich bürokratisch es hier ist - und dann wieder südländisch unkompliziert." Dann wendete sie sich wieder zu mir: "Sie sollten eine Zeitlang in Istanbul leben. Ein Jahr brauchen Sie, mindestens."

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783451802614

Juni
Komm, wir spielen Harem!
„Wenn du wüsstest, wie das Feuer der Trennung
in meinem Herzen brennt und zehrt und wie
meine Liebe zu dir, ohne den Tag und die Nacht
wahrzunehmen, hilflos dem Ertrinken nahe im
Meer der Sehnsucht treibt …“
(DIE HAREMSDAME ROXELANE AN SULTAN SÜLEYMAN)
GIZEM STARRT MICH AN, die Augen weit aufgerissen, so dass der Rand ihrer Kontaktlinsen so klar zu sehen ist wie in manchen Nächten die Korona um den Mond. Sie kann nicht glauben, was ich ihr gerade gesagt habe. Dabei hatte ich nur beiläufig erwähnt, dass der Makler mir geraten hatte, eine Katze anzuschaffen.
„Weißt du, was das bedeutet?“
Ich zucke mit den Achseln. Vielleicht hat sich ja inzwischen herumgesprochen, dass ich angeblich als Hellseherin mein Geld verdiene. Und haben die nicht gewöhnlich eine Katze auf dem Buckel? Ich liege völlig daneben.
„Das heißt, dass du höchstwahrscheinlich Kakerlaken in der Wohnung hast, meine Liebe. Man legt sich hier Katzen zu, damit die sie jagen.“
Ich schlucke. An Kakerlaken hatte ich überhaupt noch nicht gedacht. Jetzt, im Nachhinein, wundere ich mich über mich selbst, inspiziere ich doch sonst jedes Hotelzimmer zuallererst nach verdächtigen Löchern und Spuren, egal ob im Schwarzwald oder in New York, egal ob im Hostel oder im 5-Sterne-Hotel. Doch jetzt erst fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Wird die Kakerlake nicht auch „orientalische Schabe“ genannt? Und habe ich nicht letztens erst des Nachts sogar eine auf der Straße gesehen – tiefschwarz und rattengroß? Ein Schauer läuft mir über den Rücken.
Gizem stürzt den letzten Schluck Tee hinunter. Es ist der erste Tee, den ich wie eine echte Türkin in der typischen Doppelkanne gebraut habe, und der gar nicht so schlecht gelang, als dass man ihn jetzt einfach so hinunterstürzen müsste. Aber Gizem hat es plötzlich eilig. Die Vorstellung, dass gleich ein Heer von Kakerlaken durch das Zimmer marschieren könnte, hat ihr den Rest gegeben. Zuvor war sie naserümpfend durch meine Wohnung gelaufen, hatte sich über locker an die Wand genagelte Kabel mokiert, über Farbflecken auf den Fliesen und undichte Fenster – so dass ich mich schon fragte, wer von uns beiden eigentlich die pingelige Deutsche, wer die Provisorien-erprobte Türkin ist – und sich dann doch zu einem Lächeln durchgerungen. Schließlich ist sie der erste Gast in meiner neuen Wohnung. Ich möchte hören, dass sie ihr gefällt, dass ich eine gute Wahl getroffen habe und mich ganz bestimmt wohl fühlen werde in meinem Heim. Natürlich war es mutig von mir, ausgerechnet von Gizem so etwas wie Bestätigung zu erwarten. Verhält sich doch ihr 2000-Dollar-Apartment im Nobelviertel Erenköy zu meiner Wohnung in Kadıköys Altstadt in etwa so wie Schloss Bellevue zu einem Plattenbau in Marzahn. Eher hätte ich Helena aus ihrer schmuddeligen WG am Galataturm anrücken lassen sollen. Die bekommt schon angesichts trockener Wände ohne Schimmelpilz und Bröckelputz feuchte Augen vor Glück.
Nun also muss Gizem ganz schnell weg. Sie schnappt ihr Handtäschchen, drückt mir die üblichen zwei Küsschen auf die Wange, murmelt etwas von „Salman, du weißt“, und verschwindet im Treppenhaus, allerdings nicht ohne sich noch einmal auf dem Absatz umzudrehen und zu rufen: „Aber vergiss nicht, Samstag! Du kommst doch?“
„Aber natürlich!“, rufe ich ihr hinterher und schließe die Tür, nicht sicher, ob Gizem meine Antwort noch gehört hat, so schnell, wie sie weg war.
Ich tätschle dem verwirrten Yoldan den Kopf, sage: „Du schaffst das schon!“, und setze mich mit meinen Lehrbüchern an den Tisch. Die türkische Grammatik soll mich die nächsten Stunden beschäftigen, und keine Gedanken an eklige Krabbeltiere. Doch zuvor schlage ich im Wörterbuch nach, was Kakerlake auf Türkisch heißt. Schließlich sollte man den Feind beim Namen nennen können. „Karafatma“ finde ich. Klingt das nicht wie eine Kampfansage? Na dann.
Drei Stunden lang übe ich, türkische Sätze zu bilden. Sie folgen einer Syntax, an die ich mich erst gewöhnen muss. Als das Telefon klingelt, glaube ich, es endlich draufzuhaben. Es ist Tom.
„Wie ist dein Tag?“
„Neue Wohnung in ersten Besuch empfangen habe ich. Und viel lerne ich. Katzen Kakerlaken fressen dass lerne ich. Und türkische Grammatik lerne ich.“
„Und das geht nur unter dem automatischen Verlust der deutschen Sprache?“
„Du was meinen?“
„O Gott. Es wird Zeit, dass ich dich endlich besuchen komme.“
„Allah allah!“
Nur fünf Tage später am Flughafen Atatürk, International Arrivals. Jeder, der hier landet, muss durch dieselbe Tür. Darüber hängt eine gewaltige Tafel, auf der alle erwarteten Flüge samt Flugnummer und Status – gelandet, verspätet, ausgefallen – angeschlagen sind. Davor wartet eine drängelnde Menge, ungeduldig die Hälse reckend, sobald die Tür aufgeht, nur durch eine meterlange Metallabsperrung davon abgehalten, den Ankommenden entgegenzurennen. An Groupies am roten Teppich erinnert die Szenerie, nur darf man hier die so sehnsüchtig Erwarteten mit nach Hause nehmen.
Mitten in der Meute stehe ich, fixiere abwechselnd Tür und Tafel und werde immer ungeduldiger. Nur noch wenige Minuten trennen mich von dem Wiedersehen mit Tom. Ich versuche mir vorzustellen, wie es ist, wenn er gleich vor mir steht, mich anlächelt und in die Arme nimmt. Doch es gelingt mir nicht. Zwar habe ich ein Bild von ihm vor Augen. Aber es ist statisch wie die Fotografie auf meinem Schreibtisch. Das Lächeln scheint in das Gesicht gemeißelt, die kleinen Fältchen unter den Augen auftätowiert, das Grübchen eingedrückt wie bei einer Knetfigur. Über die Monate haben meine Erinnerungen an Tom an Lebendigkeit verloren.
Endlich blinkt es auf hinter Toms Flugnummer und mein Herz macht einen kleinen Sprung. Doch keine Landung wird angezeigt, sondern eine Verspätung. 35 Minuten! Als ob ich nicht schon lange genug wartete.
Um mich abzulenken versuche ich, die Ankommenden ihren Herkunftsländern zuzuordnen. Die Japaner machen es mir leicht. Doch die blassen Männer in den schlecht geschnittenen Anzügen – kommen sie nun aus Moskau oder Liverpool? Die Frauen mit den roten aufgetürmten Haaren – sind es Irinnen oder Finninnen, oder womöglich Spanierinnen im Henna-Fieber?
Die Passagiere aus Berlin sind hingegen schnell auszumachen. Man könnte nämlich auf den Gedanken kommen, ein Inlandflug habe sich versehentlich in den internationalen Bereich des Flughafens verirrt. So viele Kopftücher fliegen wohl in keiner anderen Maschine mit. Und so viele Koffer vermutlich auch nicht. Mannshoch türmt sich das Gepäck auf den Wagen, die den Wartenden entgegenrollen, die oft bis zum Schluss rätseln müssen, ob hinter dem Kofferberg tatsächlich Onkel Yusuf aus Kreuzberg oder Tante Ayse aus Wedding klemmen. Um mich herum ist alles in heller Aufregung. Da wird gebrüllt und gelacht, der lang Entbehrte an große Brüste gedrückt und an stattliche Bierbäuche. Nur Tom ist nicht zu sehen. Stattdessen tritt eine Enttäuschung nach der anderen durch die Tür.
Dann, endlich, ist es so weit. Tom erscheint hinter zwei türkischen Großfamilien. Zieht zwei Rollkoffer hinter sich her wie unwillige Zwillinge. Sieht mich, lächelt wie auf dem Foto, mit dem ich mich viel zu lange begnügen musste, läuft auf mich zu, umarmt mich – und die Zwillinge plumpsen unsanft auf den Rücken.
„Da bist du.“
„Da bin ich.“
Ich schaue ihn an, als sähe ich ihn zum ersten Mal. Studiere das Braun seiner Augen, den Schwung seiner Fältchen, die Tiefe der Grübchen. Ich streiche über seine unrasierten Wangen, berühre mit meinen Lippen seinen Mund und ziehe dabei seinen Geruch so tief ein, wie ich es mit der frischen Meeresluft tue an meinem ersten Ferientag am Strand.
„Ja, da bist du.“ Endlich.
Wir steigen in den Bus, der schon vor dem Flughafengebäude wartet und Tom auf den Gedanken bringt, dass wir sogleich zu einer organisierten Gruppenreise durch die Türkei starten, so freundlich, wie der Fahrer das Gepäck verstaut, so weich, wie die Sitze sind – und sogar ein Fernseher hängt vorn über dem Fahrer. Ich erkläre ihm, dass es der normale Shuttle-Bus ist, der zwischen dem Flughafen und dem Stadtzentrum verkehrt, und nehme seinen erstaunten Blick zum Anlass für einen kleinen Exkurs über den Personennahverkehr Istanbuls.
„Der ist nämlich viel weniger chaotisch, als man denkt. Und auch sehr viel überschaubarer“, hebe ich an, froh, ein Thema gefunden zu haben, das mich für die nächsten Minuten davon ablenkt, dass da irgendetwas ist zwischen Tom und mir, etwas Fremdes, Unbekanntes, winzig zwar, aber dennoch beunruhigend. Die vertraute Nähe – sie will sich nicht einstellen. „Also: Es gibt genau eine Straßenbahnlinie und genau eine Metrolinie, daneben noch zwei unterirdische Seilbahnen, die aber jeweils nur zwischen zwei Stationen pendeln, und noch zwei kleine historische Straßenbahnen. Eine fährt die Haupt-Einkaufsstraße hoch, die andere macht eine Runde in Kadıköy, wo ich wohne, also auf der anderen Seite des Bosporus.“ Ich zeige rechts aus dem Fenster, wo nichts weiter zu sehen ist als das Meer und die vielen Frachter, die hier vor Anker liegen. Sie warten auf ihre Ladung – oder auf die Erlaubnis, den Bosporus zu durchqueren. Verloren schaukeln sie auf dem Wasser, wie vergessene Gummi-Enten in der Badewanne. Und auch ich schaukele gerade etwas verloren auf der Oberfläche.
„Und dann gibt es natürlich noch die Fähren“, fahre ich unbeirrt fort, „auch deren Routen sind überschaubar. Und den Rest erledigen die Busse. Davon gibt es Unzählige. Und das Tollste –“, jetzt lasse ich meinen Schlüsselbund vor Toms Augen pendeln, als wolle ich ihn hypnotisieren, und zeige auf meinen Anhänger, der ein wenig aussieht, als hätte jemand eine Knopfzelle, die normalerweise in eine Uhr gehört, in Plastik gegossen, „ist dieses kleine Ding. Akbil heißt er. Ein aufladbarer Chip. Du steckst ihn in das Drehkreuz bei den Fähren und der Straßenbahn oder in den Kasten vorn beim Busfahrer, und dann wird automatisch abgebucht, was die Fahrt kostet. Kein lästiges Anstehen nach Fahrkarten, kein ständiger Bedarf an Kleingeld, keine Fahrscheinkontrollen. Ohne meinen Akbil gehe ich gar nicht mehr aus dem Haus!“
Tom schaut mich so interessiert an, wie man eine Deutsche, die eine Lobeshymne auf den öffentlichen Personennahverkehr im Orient singt, wohl anschauen muss. Irgendwann unterbricht er mich, drückt meine Hand und sagt: „Keine Panik. Lass uns Zeit. Wir müssen uns erst wieder aneinander gewöhnen.“
Ich halte den Mund und schmiege mich an ihn. Draußen auf der Promenade, einem schmalen Grünstreifen zwischen Meer und Schnellstraße, packen ein paar Familien ihr Picknick aus. Eine dicke, alte Frau döst in einer Hängematte zwischen zwei sehr dünnen Bäumen, die das hoffentlich noch eine Weile mitmachen.
„Was machen wir denn heute Abend?“
„Ich dachte, wir spielen ein bisschen Harem“, antworte ich, und meine Stimme wird süß und weich wie Turkish Delight.
Tom lacht, als würde ich einen Scherz machen. „Dann lerne ich also gleich alle deine neuen Freundinnen kennen?“
Meine Stimme wird noch süßer und weicher. „Ich dachte, wir beide üben erst mal allein. Vielleicht können wir das mit den anderen dann später spielen. Du bist ja vier volle Tage da.“
Jetzt wiederum schaut Tom mich an, als sähe er mich zum allerersten Mal.
Ich hätte nicht gedacht, was für intensive Gefühle der Anblick einer Dose Wiener Würstchen bei mir auslösen kann. „Tom, ich liebe dich!“, rufe ich dem Mann zu, der etwas steif auf der Kante meines improvisierten Diwans sitzt, auf dessen Mitte der halbohrige Kater thront, den Fremden misstrauisch beäugt und ab und an die Krallen ausfährt, um sie in das Polster zu pressen. Dass er nicht das einzige Lebewesen in diesem Haus ist, das mit dem Mann in meiner Wohnung Probleme hat, ahne ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Wie auch? Ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, den Koffer zu inspizieren, den Tom für mich in Deutschland gepackt hat.
Meine Schuhe sind vollzählig mitgekommen. Ich lasse sie in einer Reihe paarweise antreten und freue mich an ihrem Anblick. Herrliche, große Schuhe, allesamt in stattlichen 41 – und damit eine Rarität auf dem Pflaster am Bosporus. Ich befehle ihnen, stark zu sein, sich nicht fertigmachen zu lassen vom Istanbuler Kopfstein, von schmierglatten Schiffsplanken der Fähren und vom Matsch in den Parks. Zäh müssen sie sein, durchhalten, im besten Fall ein ganzes Jahr lang.1 Neue Schuhe dürfte ich in Istanbul nämlich kaum finden. Ab Schuhgröße 40 werden die hiesigen Regale leer.
Zwischen den Sandalen entdecke ich ein in Silberpapier eingeschlagenes Etwas, so groß wie eine Schuhsohle. Ich packe es aus – und wieder rufe ich eine entzückte Liebeserklärung Richtung Tom. Gebratene Schnitzel! Sogar an Senf hat Tom gedacht! Ich kann nicht widerstehen, genussvoll beiße ich in das kalte Schweinefleisch. Es ist das erste Schwein, das ich zwischen die Zähne bekomme, seit jenem Tag, an dem ich in Berlin die Maschine von Turkish Airlines bestieg. Damals dachte ich mir nicht viel dabei, als ich diesen unscheinbaren Zettel bei meinem Essen fand. Ich habe mich sogar amüsiert: Darauf war ein Schwein in einem Kreis durchgestrichen wie die Zigarette auf den gängigen Rauchen-verboten-Schildern. Ich hatte es zuerst nicht verstanden. Heißt es, man solle sich beim Essen nicht benehmen wie ein Schwein? Oder seine Haus- und Nutztiere nicht an Bord mitnehmen, wie es in anderen östlichen Ländern ja durchaus üblich ist? Aber ich musste nicht lange rätseln: Unter dem Schwein war zu lesen, dass die Passagiere sicher sein können, an Bord dieser Fluglinie auf keinen Fall Schweinefleisch serviert zu bekommen. Ich ahnte damals nicht, dass dies nach der Landung weiter uneingeschränkt gelten würde. Dass ich in einem Land leben würde, in dem „Winnieh, the Pooh“ wegen des viel zu freundlichen Ferkels verboten ist. Und dass die Redewendung „Schwein gehabt“ bald für mich eine völlig neue Dimension bekommen sollte.
Ich schiebe mir den letzten Bissen in den Mund, zerknülle das Silberpapier und werfe es dem Kater vor die Pfoten, der sogleich darauf anspringt. Er spitzt das übrig gebliebene Ohr, verpasst dem Ball mit der Kralle einen so ordentlichen Hieb, dass er einmal quer durch das Zimmer schießt – und saust mindestens genauso schnell hinterher. Hat er den Ball, wiederholt sich das Spiel. Hin und her jagt der Kater durch die Wohnung – und qualifiziert sich damit immer mehr zum natürlichen Kammerjäger, der es mit einem Insekt, das 1,5 Meter pro Sekunde zurücklegt, doch locker aufnehmen kann. Vielleicht, so denke ich, inzwischen schon ganz Oberfeldwebel in meinen vier Wänden, sollten wir ein bisschen härter trainieren.
„Wollten wir nicht Harem spielen?“, fragt Tom, der es sich jetzt, da der Kater ihn nicht mehr in Schach hält, endlich bequem gemacht hat und auf dem Diwan wie ein Sultan posiert.
„Stimmt“, pflichte ich ihm bei, immer noch Schnitzel kauend, laufe ins Schlafzimmer und komme mit einem Schuhkarton zurück.
„Was ist das?“
„Das Haremspiel“, erkläre ich feierlich, falte eine große, bunte Pappe auseinander und packe Spielfiguren, Würfel und Kärtchen vor ihm aus.
„Ich verstehe nicht.“
Also erkläre ich es ihm. In den letzten Wochen habe ich mich ein wenig mit der Geschichte und der Struktur des Harems befasst und festgestellt, dass sich dieses Thema bestens für ein Gesellschaftsspiel eignet. „Das hier“, ich mache eine ausladende Armbewegung über mein Werk, „ist dabei herausgekommen.“
Belustigt registriere ich, wie in Toms Gesicht die Enttäuschung versucht, einen interessierten Eindruck zu machen. Natürlich hatte er sich unser Haremspiel anders vorgestellt.
„Hier rechts siehst du den Selamlık“, erkläre ich und tippe auf mein bunt beklebtes und bemaltes Spielfeld. „Das ist der Bereich eines traditionellen muslimischen Hauses, der den Männern vorbehalten ist, in diesem Fall dem Sultan und seinen Dienern. Hier empfing er seinen Besuch, hier traf er sich mit seinen Beamten, hier wurde die Politik gemacht. Und das hier links ist der Haremlik, der Bereich, in dem die Frauen wohnten. Der Harem also.“
Ich gebe Tom eine Spielfigur, eine etwa zehn Zentimeter hohe Miniatur von Sultan Sü...

Inhaltsverzeichnis

  1. [Titelinformationen]
  2. [Impressum]
  3. März: Die schönste Bardame der Welt
  4. April: Über Nacht gelandet
  5. Mai: Einmal Konstantinopel und zurück
  6. Juni: Komm, wir spielen Harem!
  7. Juli: Die Kunst der Improvisation
  8. August: Verwirrung am Weltwunder
  9. September: Es brennt!
  10. Oktober: Eigenartige Vorlieben
  11. November: Unentschieden
  12. Dezember: Der Silvesterbaum
  13. Januar: Unbestimmtes Präteritum
  14. Februar: Die Henna-Nacht
  15. Anmerkungen
  16. [Informationen zum Buch]
  17. [Informationen zur Autorin]