Ein Jahr in Barcelona
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Ein Jahr in Barcelona

Auswandern auf Zeit

  1. 192 Seiten
  2. German
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Ein Jahr in Barcelona

Auswandern auf Zeit

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Über dieses Buch

Als sie an einem Januarabend ankommt, ist die ganze Stadt auf den Beinen: Alte, Junge, Verliebte schlendern durch die Straßen, Milchbars und CafĂ©s sind hell erleuchtet: Barbara Baumgartner erlebt den Alltag einer Stadt, die die Menschen zum TrĂ€umen bringt. Es geht um EnglĂ€nder und Deutsche, Andalusier und SĂŒdamerikaner, um die beiden HĂ€lften der Stadt, das glitzernde Meer und das wunderbare Licht.

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Information

Jahr
2017
ISBN
9783451811524

September

DANN IST DER SOMMERSCHLAF BEENDET. Es gibt kein langsames Erwachen: Über Nacht kommt das Leben zurĂŒck. Eines Morgens tritt man auf die Straße – und hat das vertraute Autobrausen wieder in den Ohren, das Knattern der MotorrĂ€der, die PresslufthĂ€mmer.
Metallene RollĂ€den rattern nach oben, und MĂ€nner in AnzĂŒgen steuern zielstrebig den Eingang zur U-Bahn an. In den folgenden Tagen beschĂ€ftigen sich Radioprogramme hĂ€ufig mit dem „Trauma“, das nach vier Wochen Ferien „die Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess“ bedeute.
Die Kinder haben noch frei – braungebrannt, die Haare gebleicht von Salzwasser und Sonne, spielen sie auf dem Platz um die Ecke Fußball, im goldenen Licht des Nachmittags, und die Luft ist erfĂŒllt von ihren hellen Rufen und dem Geschnatter der alten Damen, die in großen Runden unter den Markisen der CafĂ©s orxata trinken, kĂŒhle Erdmandelmilch, ein beliebtes SommergetrĂ€nk.
Einzig die Fliegen mindern ein wenig das VergnĂŒgen, hier zu sitzen: Monatelang war von ihrer Existenz nichts zu bemerken, jetzt, wo ihr Ende naht, machen sie sich plötzlich lĂ€stig. Am Nebentisch rĂŒhrt die Kellnerin einem zusammengesunkenen alten Mann fĂŒrsorglich Zucker in den Kaffee, „so, mein Liebes“, ihm zittern zu sehr die HĂ€nde; er fĂŒhrt die Tasse jedoch zum Mund, ohne etwas zu verschĂŒtten, und mit sichtbarem VergnĂŒgen verspeist er ein Schokoladencroissant. Eine Stimme in meinem RĂŒcken sagt herausfordernd: „Niemand in Spanien mag die Katalanen – nicht einmal in Valencia mag man die Katalanen, nicht einmal auf den Balearen. Hast du dich je gefragt, warum?“ Ich drehe mich um, kann aber nicht erkennen, woher der Satz kam, denn niemand erwidert etwas.
Und ich?, frage ich mich, wĂ€hrend ich trĂ€ge die Fliegen verscheuche: Mag ich die Katalanen? Ich ĂŒberlege, wer von meinen Bekannten denn dazu zu zĂ€hlen wĂ€re. Mit Sicherheit Elvira, die gesprĂ€chige Pharmazeutin aus 3. 1. Aber Beth, die in der Rioja auf die Welt kam, ihre Kindheit im katalanischen Tarragona verbrachte, danach ein paar Jahre in Navarra lebte und nun seit langem in Barcelona zu Hause ist, verheiratet mit einem Valencianer? Die Kinder des Zeitungsmanns Antonio, die hier geboren wurden, aber andalusische Eltern haben? Oder gar der Argentinier Mauricio, der aus Barcelona nie mehr weg will? Immerhin betonen nationalistische Politiker gern, Katalane sei, wer es sein möchte (– und Katalanisch lernt. Ich halte solche Umarmungen jedoch fĂŒr KalkĂŒl – angesichts der kinderreicheren Immigranten wĂŒrde „die Nation“ andernfalls auf lange Sicht verschwinden –, zumindest dann, wenn diese Politiker gleichzeitig die „Essenzen“ der katalanischen Nation beschwören: WĂ€re ein perfekt catalĂ  sprechender, mit Inbrunst sardana tanzender Senegalese essentiell katalanisch?). Mir fĂ€llt der deutsche Fotograf ein, der in Barcelona lebt und mir mit Nachdruck erklĂ€rte, er liebe die katalanische Kultur: Auf meine Nachfrage, was genau er damit meine, zögerte er kurz – und nannte dann die espardenyes, jene Leinenschuhe mit geflochtener Sohle, die ursprĂŒnglich die Bauern der PyrenĂ€en trugen und die in Katalonien zur Nationaltracht gehören. Geradezu surrealistisch aber mutet die Aussage einer in Barcelona ansĂ€ssigen EnglĂ€nderin an, die der Autor Matthew Tree gehört und mir im Tres Tombs erzĂ€hlt hat: „Ich habe nichts gegen die Katalanen – ich wĂŒnschte nur, sie wĂŒrden uns AuslĂ€nder in Ruhe in Spanien leben lassen.“
Antonios Tochter ist ĂŒbrigens im August nach Andalusien gefahren. Sie hat das Dorf des Vaters besucht, in dem sie noch nie gewesen war, und das alte Haus der Familie. Es wohnen inzwischen fremde Leute darin, doch sie baten die junge Frau herein und fĂŒhrten sie auch in den Hof, wo es noch den Brunnen aus Antonios Kindheit gibt, nicht aber den Olivenbaum und die HĂŒhner.
Antonio ist von dieser Reise zu den Wurzeln gerĂŒhrt. Die RĂŒhrung lĂ€sst ihn sogar verschmerzen, dass seine 26-jĂ€hrige Tochter mit ihrem Verlobten verreiste, was ihm eigentlich ganz und gar nicht gefĂ€llt: In seiner Vorstellung gibt es ein Leben vor der Hochzeit und eines danach, und in welches ein gemeinsames Hotelzimmer gehört, darĂŒber besteht kein Zweifel.
Er selbst kam braungebrannt, noch ein bisschen rundlicher und voller Zufriedenheit ĂŒber harmonisch im Familienkreis verbrachte Wochen von der KĂŒste zurĂŒck. Er fand Blanes, wo er die Ferienwohnung besitzt, dieses Jahr aber entsetzlich ĂŒberlaufen. Die incivisme-Debatte verfolgte er in der Zeitung. „Die werden das nicht mehr in den Griff bekommen“, bemerkt er in dem bekĂŒmmert-verĂ€chtlichen Ton, mit dem er meistens ĂŒber die Linke redet – das ist betrĂŒblich, sagt dieser Ton, aber es bestĂ€tigt nur, was ich immer schon wusste, nĂ€mlich dass diese Leute nichts taugen (weshalb ich bei aller BetrĂŒbtheit auch ganz zufrieden bin). Antonio steht mit dieser MentalitĂ€t nicht alleine da: Wenn man die Zeitungen liest oder Radio hört, hat man manchmal den Eindruck, das Land teile sich in zwei Clubs mit lebenslanger Mitgliedschaft, und je nachdem, zu welchem Lager sich jemand zĂ€hlt, wird er politische Entscheidungen loben oder verdammen – in diesem Urteil erstaunlich unbeeintrĂ€chtigt von der RealitĂ€t. Nicht was entschieden wird, scheint von Bedeutung, sondern ausschließlich wer es entscheidet: Steht er auf meiner oder auf der anderen Seite?
So ist Antonio etwa davon ĂŒberzeugt, dass die Wirtschaft schlecht lĂ€uft, seit die Sozialisten regieren. Es gibt dafĂŒr kein objektives Anzeichen: aber er spĂŒrt es.
***
Der 11. September ist die Diada, der katalanische Nationalfeiertag. Er erinnert an eine schicksalsschwere Niederlage: Am 11. September 1714 kapitulierte Barcelona nach vierzehnmonatiger Belagerung bedingungslos vor den Bourbonen. Katalonien hatte damit den Krieg um die spanische Thronfolge verloren, und unter anderem wurde als Strafe fĂŒr den Widerstand, wie spĂ€ter unter Franco, der Gebrauch des Katalanischen gebannt. Auch die Diada war unter Franco natĂŒrlich verboten, erst seit der Diktator tot ist, wird der Tag wieder feierlich begangen. Alex hat zugesagt, Claire und mich zum Festakt im Ciutadella-Park zu begleiten.
Im Herbst, wenn das einzige unverkennbare Zeichen, dass die Jahreszeit gewechselt hat, die Schulkinder sind, die ihre kleinen bunten Ranzen auf RĂ€dern hinter sich herziehen wie GeschĂ€ftsreisende ihre Koffer – die vertrockneten braunen BlĂ€tter liegen auch schon im Juli und August auf der Straße –, vermisst Claire Paris. Der Herbst sei dort Herbst, sagt sie, nicht nur ein verlĂ€ngerter, angenehmerer Sommer. Das bunte Laub, das einem um die FĂŒĂŸe raschelt, der herbe Geruch in der feuchten, klaren Luft: Sie seufzt. Wir sind auf dem Weg zum Arc de Triomf, um Alex zu treffen. Von Balkonen und unter Fenstern hĂ€ngt die katalanische Flagge, die Senyera, vier rote Streifen auf gelbem Grund. Alex wird uns spĂ€ter eine Geschichte ĂŒber den Ursprung dieser Fahne erzĂ€hlen, eine Legende aus einer mittelalterlichen Schlacht, ich vergesse im Augenblick, aus welcher; doch die Episode, die die Fahne betrifft, behalte ich: Graf Wilfried der Haarige, der mythenumrankte GrĂŒnder Kataloniens, liegt nach siegreichem Kampf verwundet im Zelt, als der dankbare König an sein Lager tritt, vier Finger in das Blut der Wunde taucht und sie ĂŒber Wilfrieds goldenen, noch wappenlosen Schild zieht.
Aus manchen Fenstern, aus wenigen, hĂ€ngt auch die Fahne der Independisten, in die ein blaues Dreieck ragt, mit einem Stern in der Mitte. In den Schaufenstern der Konditoreien liegt die Senyera als Torte. Ich könnte Claire darauf hinweisen, dass der elfte September, zumindest dem Kalender nach, auch in Paris noch zum Sommer gehört, lasse es aber bleiben, denn mir ist diese Stimmung bei ihr schon vertraut: Ich glaube, sie genießt das GefĂŒhl der Nostalgie, weshalb sie immer einen Anlass dafĂŒr findet. WĂ€re sie jetzt in Paris, wĂŒrde sie womöglich durch raschelndes Laub spazierend vom September in Barcelona schwĂ€rmen. Mir erscheint das Wetter perfekt – es kann gerne auch im Herbst so bleiben.
In der Ciutadella schwitzen die Polizeigarden in ihren Galauniformen. Diese Uniformen wurden erst vor ein oder zwei Jahren eingefĂŒhrt, erzĂ€hlt Alex, als die erste linke Regierung Kataloniens nach dreiundzwanzig Jahren konservativ-nationalistischer Herrschaft beschloss, den 11. September mit dem ganzen Pomp eines Staatsakts zu feiern. Die Linke ist in Katalonien nĂ€mlich ebenfalls nationalistisch – eine weltanschauliche Verbindung, die ihre Gesinnungsgenossen in Madrid oft irritierend finden. (Ich habe selber immer gedacht, man sei entweder links oder Nationalist, doch das gilt weder in Katalonien noch im Baskenland oder in Galizien.) Wir stehen zu weit von der TribĂŒne entfernt in der Menge, um etwas von den Reden mitzubekommen, und ohnehin wĂŒrde mein Katalanisch dafĂŒr nicht reichen. Ich sehe nur den PrĂ€sidenten der Landesregierung, Pasqual Maragall, einen weißhaarigen Mann mit Schnauzbart, Barcelonas BĂŒrgermeister zur Zeit der Olympischen Spiele und Enkel des bedeutenden katalanischen Dichters Joan Maragall. „Hör, Spanien, die Stimme eines Sohnes, der mit dir eine Sprache spricht, die nicht Kastilisch ist“, zitiert Alex ĂŒbertrieben dramatisch. Es ist schwer zu sagen, was er von all dem hĂ€lt. Er hat betont, dass er nur unseretwegen hier ist – es gibt schon genug AuslĂ€nder, die keine Ahnung von Katalonien haben –, und er kommentiert die VorgĂ€nge mit leicht ironischer Distanz; doch mischt sich auch ein wenig Stolz in die Ironie: genug, um mir klarzumachen, dass ich selber besser nicht ironisch werde.
Diesen Stolz habe ich schon einmal an ihm bemerkt. An einem Samstag im FrĂŒhling hatten wir uns eine Ausstellung im historischen Museum angesehen, und danach sagte Alex, er wolle mir noch etwas zeigen. In einer versteckten Gasse hinter der Kathedrale fĂŒhrte er mich zu einem herrschaftlichen GebĂ€ude, in dem, wie neben der TĂŒr steht, jetzt das Centro Excursionista, der Wanderverein, seinen Sitz hat. Doch wir gingen durch ein Tor, ein paar Stufen hinunter – und standen im Innenhof vor vier mĂ€chtigen korinthischen SĂ€ulen. Sie gehörten einst zum Augustustempel der römischen Siedlung Barcino. Ein Glasdach ĂŒberdeckt den Hof, die glatten Mauern ringsum sind grĂŒn gestrichen; so unvermittelt trifft einen hier die Antike, dass die wenigen Besucher, die nach uns kamen, alle fĂŒr einen Moment den Atem anzuhalten schienen.
Jetzt ist Alex’ Stolz nicht so eindeutig, doch etwas davon scheint auch Claire zu spĂŒren, denn sie ist auffallend still, wĂ€hrend sie sich ansonsten beim Thema Nationalismus schnell in Rage redet, vor allem seit jenem Abendessen, als sie so leichtfertig war, unter lauter Katalanen catalĂ  als unnötig abzutun, und dafĂŒr mit eisigem Schweigen bestraft wurde. Danach nahm sie sich vor, sich grĂŒndlich mit der Materie zu befassen: Sie wĂŒrde all die klugen BĂŒcher lesen, in denen dargelegt wird, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker eine SchimĂ€re ist, verhĂ€ngnisvoll wie die Tendenz, neben allgemeinen BĂŒrgerrechten auch Zugehörigkeiten und IdentitĂ€ten ins Spiel zu bringen, und derart gewappnet wĂŒrde sie StreitgesprĂ€che zu diesem Thema mit brillanten Argumenten fĂŒr sich entscheiden. Wenn sie solche BĂŒcher in den Zeitungskommentaren antinationalistischer Intellektueller erwĂ€hnt findet, notiert sie auch jedes Mal die Titel. Sie kommt aber nie weiter, als eben diese Kommentare zu lesen, aus denen sie dann bei jeder Gelegenheit zitiert. Von wem der Satz stammt, „In der realen Situation einer durch und durch gemischten Bevölkerung ist die Beschwörung der IdentitĂ€t der Völker nur um den Preis zu haben, dass man die Rechte des Individuums untergrĂ€bt“, weiß ich nicht; doch ich kann ihn auswendig, weil Claire ihn so oft wiederholt.
Um uns herum fangen alle an zu singen, manche heben dabei die Hand. Els Segadors, die katalanische Hymne. Ein getragenes Volkslied, das ebenfalls auf einen Krieg zurĂŒckgeht, den Aufstand der Schnitter (auf Katalanisch els segadors) gegen Philipp IV. Wieder deklamiert Alex in gespieltem Pathos: „Triumphierendes Katalonien wird wieder reich sein und voller Kraft!“
„FĂŒhlst du dich mehr als Spanier oder als Katalane?“, frage ich ihn spĂ€ter, als wir im Altstadtviertel Born in der Sonne sitzen und Kaffee trinken. Auch hier hĂ€ngt hie und da eine senyera aus einem Fenster, viel zahlreicher aber sind die mit großen Lettern beschriebenen TĂŒcher: „Wir wollen schlafen“; „RUHE!“ In einer so angesagten Gegend zu wohnen bringt offenkundig Nachteile mit sich.
Die Frage nach der IdentitĂ€t hat gerade Konjunktur, denn die katalanische Regionalregierung will mit Madrid ein neues, erweitertes Autonomiestatut aushandeln, und Katalonien darin als „Nation“ bezeichnen. Neulich sah ich in der Zeitung das Ergebnis einer Umfrage, wonach sich zwölf Prozent der Einwohner Kataloniens nur als Katalanen fĂŒhlen und sieben Prozent nur als Spanier – der Rest mischt die Komponenten in unterschiedlichen Mengenanteilen. Alex misst der Frage die ihr gebĂŒhrende Bedeutung bei, indem er auf das Problem der IdentitĂ€t bei Hegel verweist, unter BerĂŒcksichtigung der Unterschiede zu Fichte 
 – dabei kann er das Lachen kaum unterdrĂŒcken. Dann aber wird er doch noch ernst und bemerkt, mehr Selbstbestimmung wĂ€re nicht schlecht. „Das ganze Geld kriegt Madrid.“
Auf dem Weg zur U-Bahn sehen wir ein Dutzend junger Leute, die sich die Fahne eines unabhĂ€ngigen Kataloniens um die Schultern gewickelt haben. „Aus Vic“, vermutet Alex, sein Blick ist jetzt wieder voll Spott. Er betrachtet die Gruppe wie einen Haufen alberner Kinder. Vic, erklĂ€rt er, sei katalanistisches Herzland. Ich kenne die Stadt, mit meinem Mann war ich einmal am Sonntag dort. An jenem Wochenende fand ein großer Landwirtschaftsmarkt statt und auf der schönen mittelalterlichen Plaça Major schnitten in einem MotorsĂ€genwettbewerb krĂ€ftige MĂ€nner Seepferdchen und Schmetterlinge aus dicken HolzstĂ€mmen, wĂ€hrend direkt daneben eine Band versuchte, das Kreischen der Maschinen zu ĂŒbertönen.
Die Jugendlichen, die zur Diada nach Barcelona gekommen sind, in Jeans und T-Shirts, sehen aus wie andere SiebzehnjÀhrige auch, nur ihre Frisuren fallen mir auf: Die Haare sind vorne kurz geschnitten, im Nacken aber lang, bei einigen reichen sie sogar bis auf die Schultern. Keine Ahnung, ob Ideologie dabei eine Rolle spielt, doch zweifellos handelt es sich um eine sehr unvorteilhafte Mode.
***
An Sonntagabenden nach Einbruch der Dunkelheit dringen durch die offene BalkontĂŒr WalzerklĂ€nge, und ĂŒber den DĂ€chern hinter dem Hof sieht man einen farbigen Widerschein am Himmel. „Das Piromusical!“ Elvira macht einen Schritt auf den Balkon hinaus. „Wie mir das Piromusical gefĂ€llt!“ In ihrer Stimme ist der gleiche Enthusiasmus, mit dem sie ruft: „Ihr mĂŒsst eine Paella essen kommen!“, oder Sprichwörter zitiert: „No se ganĂł Zamora en una hora“ – Zamora wurde nicht in einer Stunde erobert. Das hat sie vor ein paar Minuten gesagt (und dabei selbstverstĂ€ndlich auch den historischen Ursprung des Ausspruchs erlĂ€utert), als sie erzĂ€hlte, dass sie gerade erst aus Zamora zurĂŒck ist, wo sie eine Freundin besuchte. Sie hat Freunde in allen Ecken Spaniens, dazu eine weitlĂ€ufige Familie, zu der sie engen Kontakt hĂ€lt. „Ich muss nach Tarragona“, sagt sie zum Beispiel atemlos, wenn sie am Samstagvormittag aus dem Haus eilt, „es ist der Namenstag vom Enkel meiner Kusine.“ Immer ist sie atemlos, immer irgendwohin unterwegs, und wenn sie nicht jemanden besuchen fĂ€hrt, dann kommen Freunde oder Verwandte zu ihr. Diese Besucher nimmt sie dann mit zum Piromusical, den Licht- und Wasserspielen, die sonntagabends zu Musikbegleitung am großen, fabelhaft kitschigen Springbrunnen unterhalb des Palau Nacional stattfinden.
Vor Zamora war Elvira noch in Salamanca: „Wie sauber Salamanca ist! Wie gepflegt! Barcelona sollte sich ein Beispiel nehmen! Aber gut: Salamanca ist klein, da fĂ€llt die Pflege leicht.“ Sie kĂŒndigt an, mir Fotos zu zeigen, und auch ein Buch will sie mir leihen, eine Sammlung spanischer Sprichwörter samt ErklĂ€rung ihrer Herkunft; sie vergisst aber wahrscheinlich beides, im Strudel ihrer AktivitĂ€ten gehen viele Vorhaben unter. Ich hoffe, dass sie es vergisst: Ich erinnere mich mit Schrecken, wie sie mir einmal Bilder von einem Kongress zeigte; ĂŒber eine Stunde lang saß ich im DĂ€mmer ihres vollgestopften Wohzimmers und sah mir ein sympathisches Wissenschaftlergesicht nach dem anderen an, wĂ€hrend Elvira mir die Themen der jeweiligen Referate erklĂ€rte.
Jetzt schaut sie interessiert zu, wie ich versuche, den Pizzateig möglichst gleichmĂ€ĂŸig auf dem Blech zu verteilen. Pizza ist in Barcelona etwas Besonderes. Sie kostet hier im Allgemeinen mehr, als sie sollte, und das ist besonders Ă€rgerlich, weil das, was man bekommt, oft nur entfernt an eine Pizza erinnert. Aus einem absurden Nationalstolz heraus – um ihnen zumindest eine Ahnung davon zu vermitteln, wie eine Pizza sein sollte – mache ich manchmal Pizza fĂŒr Freunde. Nicht, dass ich das besonders gut könnte, doch den ölgetrĂ€nkten, zĂ€hen Fladen, den es in der Pizzeria gegenĂŒber gibt, glaube ich zu ĂŒbertreffen.
Es geht auf zehn zu, außer Elvira ist aber noch niemand gekommen. Habe ich schon erwĂ€hnt, dass man in Spanien mitten in der Nacht zu Abend isst? Gehen wir mit Freunden aus, holen wir sie zum Beispiel um zehn Uhr ab, sitzen noch eine Weile in ihrer Wohnung herum, wĂ€hrend sie sich fertigmachen, bevor wir in aller Ruhe aufbrechen, womöglich ziemlich lange auf ein Taxi warten, weil kein freies vorbeifĂ€hrt dann doch zu Fuß gehen und schließlich so gegen elf am Restaurant ankommen; vor dem steht meistens eine lange Schlange – ohne Anzeichen von Ungeduld, denn man vertreibt sich die Zeit sehr angenehm, indem man sich unterhĂ€lt, und kalt ist es selten. Einmal, als wir um Mitternacht in einem Restaurant eintreffen und kein Tisch frei ist, schlĂ€gt der Kellner uns vor, doch in einer Stunde wiederzukommen. Und das tun wir!
Dass die Leute so spĂ€t essen, hĂ€ngt mit den langen Arbeitszeiten zusammen (doch niemand weiß mit Sicherheit, wie dieser in Europa einmalige Stundenplan – Mittagessen um zwei und Abendessen um zehn – zustande kam; Tatsache ist, dass bis vor dem BĂŒrgerkrieg auch die Spanier um eins und um acht oder neun am Tisch saßen). BĂŒro- und GeschĂ€ftszeiten gehen bis acht, aber oft wird noch lĂ€nger gearbeitet, und weil viele seiner Patienten erst so spĂ€t kommen können, ist mein Zahnarzt zum Beispiel bis halb zehn in der Praxis. Dennoch schneidet Spaniens ProduktivitĂ€t im internationalen Vergleich schlecht ab. Ich erwĂ€hnte das einmal Jaume gegenĂŒber, wohl ahnend, was ich damit auslöste. Und wirklich schĂŒttelte er den Kopf und sagte in deprimiertem Tonfall: „Es ist offensichtlich: etwas stimmt nicht in diesem ...

Inhaltsverzeichnis

  1. [Titelinformationen]
  2. [Impressum]
  3. Prolog
  4. Januar
  5. Februar
  6. MĂ€rz
  7. April
  8. Mai
  9. Juni
  10. Juli
  11. August
  12. September
  13. Oktober
  14. November
  15. Dezember
  16. [Informationen zur Autorin]