Raubkind
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Von der SS nach Deutschland verschleppt

  1. 240 Seiten
  2. German
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Von der SS nach Deutschland verschleppt

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Über dieses Buch

Klaus B. ist Mitte Siebzig, als sein ordentliches Leben aus den Fugen gerät. Er erfährt, dass er als Kind Opfer eines Verbrechens wurde. Er selbst kann sich an nichts erinnern. Mit Hilfe einer Journalistin findet Klaus B. heraus, dass er in Polen zur Welt gekommen ist. Dass er 1943 seiner Familie geraubt wurde, vermutlich von der SS. Dass sein Name und seine Herkunft mit Hilfe des "Lebensborn" gefälscht wurden, der ihn dann bei linientreuen deutschen Pflegeeltern unterbrachte. Klaus B. und die Journalistin lernen: Dieses Schicksal teilten Zehntausende Kinder aus Polen und anderen osteuropäischen Staaten. Sie wurden von nationalsozialistischen "Rassenspezialisten" ausgewählt, ihren Familien entrissen und zur "Germanisierung" nach Deutschland verschleppt. Bis heute wissen viele "Raubkinder" nichts von ihrer Herkunft. Klaus B. macht sich auf die Suche nach seinen Wurzeln und findet eine Familie, die ihn seit sieben Jahrzehnten vermisst.Alles beginnt mit dem Anruf einer Journalistin, die Klaus B. telefonisch darauf anspricht, dass er 1944 als Pflegekind zu seiner Familie gekommen sei, aus dem Lebensborn-Heim in Bad Polzin. Ob er sich an dieses Heim erinnern könne? Ob er wisse, warum er dort gewesen sei? Darüber würde sie gerne mit ihm reden. Sie beschäftige sich nämlich mit dem Lebensborn, auch mit dem Heim in Bad Polzin. Er selbst hat erst mit neunzehn Jahren erfahren, dass die Familie ihn aus einem Lebensborn-Heim geholt hatte. Das war alles. Kein Wort darüber, warum er in diesem Heim war und was Lebensborn bedeutet.Klaus B. ist hin- und hergerissen zwischen Neugier und gleichzeitig dem Wunsch, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Obwohl er sich in den letzten Jahren immer wieder gefragt hat, ob die Informationen wirklich stimmen, die ihm die Stiefeltern mit auf den Weg gegeben haben. Warum hat er zum Beispiel keine Geburtsurkunde? Als junger Bursche hatte er nur einen Flüchtlingsausweis, das war alles. Und irgendwann war der Ausweis fort, verlegt, verloren, auf alle Fälle konnte er ihn nicht mehr finden. Es kann sein, dass die Urkunde wirklich auf der Flucht verloren gegangen ist, wie seine Stiefmutter gesagt hat. Seine Stiefgeschwister Inge, Uschi, Volker und Gero haben allerdings Geburtsurkunden...Nach dem Einmarsch der Wehrmacht und der Besetzung Polens zerschlugen die neuen Machthaber den polnischen Staat mitsamt seinen Strukturen. Politiker und Militärs, Juristen, Kleriker und Wissenschaftler – pauschal als Gegner klassifiziert – wurden fortgejagt, verfolgt, ermordet. Im Oktober 1939 teilten die deutschen Besatzer das Land in zwei Teile und Hitler kündigte einen "harten Volkstumskampf" an, um "das alte und neue Reichsgebiet zu säubern von Juden, Polacken und Gesindel." In diesem Kontext von Diskriminierung, Entrechtung und Enteignung, von Gewalt, Terror und Mord auf der einen und "sauberer" Bürokratie auf der anderen Seite stand die Verschleppung der polnischen Kinder. Auch dabei ging es um "Rassenpolitik" – aber mit den Mädchen und Jungen, die in die Hände der Nationalsozialisten gerieten, hatte man etwas anderes vor. Heinrich Himmler propagierte das Vorhaben, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Man werde Kinder "guten Blutes" im Osten aus ihrer Umgebung herausholen, notfalls "rauben und stehlen" und nach Deutschland bringen. Nach Prüfung aller vorhandenen Quellen geht die Historikerin Isabel Heinemann von 20 000 verschleppten Mädchen und Jungen aus. Bis heute ist dies die belastbarste Zahl. Damit bleibt Polen trotz allem dasjenige Land, das die meisten Kinder an das NS-Germanisierungsprogramm verloren hat. Bekannt sind Kinderraub und Kinderverschleppung nach Deutschland aber auch aus Slowenien und der Tschechoslowakei. Um die Anerkennung als Opfer der Nationalsozialisten und für eine Entschädigung für das erlittene Unrecht kämpften in den letzten Jahren immer wieder sogenannte Raubkinder vor Gericht – bisher erfolglos.Die Geschichte von Klaus B.

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Information

Jahr
2018
ISBN
9783451813061

Eine Reise nach Jarocin und Rogoźno

Krystian Andrzejewski, der Schwiegersohn von Barbara Mitrenga, ist der Einzige in der polnischen Familie, der eine Mail-Adresse hat und deutsch spricht. Die Verabredung läuft also über ihn. Aber er lässt sich Zeit, findet die Journalistin. Als er endlich auf ihre Anfrage antwortet, schämt sie sich wegen ihrer Ungeduld: Eine solche Einladung hat sie noch nie bekommen.
Meine Schwiegermutter, schreibt er, erwartet die Ankunft der geehrten Gäste. Ich habe Jolanta gesagt, dass wir nochmal die Archive in Rogoźno genauer untersuchen sollten. Das Gebäude, in dem Czesław wohnte, wird heute von Jolanta bewohnt. Der Ort, an dem er versteckt war, ist auch noch zu sehen. Die Geschwister werden Ihnen alles erzählen, woran sie sich erinnern. Wir heißen Sie willkommen.
Bessere Aussichten kann sich die Journalistin nicht wünschen. Zumal ihre Kollegin Katrin Lechler, die polnisch spricht und das Land gut kennt, sie begleiten und vor den schlimmsten Fettnäpfchen bewahren wird. Zum Beispiel ohne Blumenstrauß anklopfen, einfach unmöglich. Sie selbst wäre nicht auf die Idee gekommen, Blumen gehören normalerweise nicht zu ihrer Interview-Ausrüstung.
Aber an diesem Nachmittag findet auch kein normales Interview statt. Der Teil von Klaus B.s Familie, der in Jarocin lebt, hat sich beinahe vollständig in Barbara Mitrengas Wohnzimmer versammelt und nimmt die »geehrten Gäste« umgehend in seine Mitte auf, inklusive jede Menge Körperkontakt. Neben Barbara Mitrenga – schrecklich aufgeregt, die ganze Nacht hat sie nicht geschlafen, erzählt sie gleich – sitzt Henryk, ihr Mann. Gegenüber Agnieszka, ihre ältere Tochter, später kommt auch die jüngere, die wie ihre Großmutter heißt – Marta. Ihr großer Sohn, der neunjährige Krzysztof, hockt von Anfang an dabei und sperrt die Ohren auf. Er ist unübersehbar der Liebling seiner Oma, die ihn streichelt und küsst, sobald er in ihre Nähe kommt. Irgendwann erklärt er, er werde in der Schule ein Referat über den Besuch aus Deutschland halten. Auch Sandra, eine von Agnieszkas Töchtern, schaut kurz vorbei, zeigt ihre neu erstandene Jeans und nimmt dabei den Besuch in Augenschein. Und später kommt Krystian Andrzejewski. Er musste noch bis sechzehn Uhr arbeiten.
Und wie interviewt man so viele Personen? Die Journalistin konzentriert sich auf Barbara Mitrenga. Die weiß am besten Bescheid, weil ihre Mutter häufig mit ihr über früher gesprochen hat. Aber kaum hat sie zwei, drei Sätze lang geantwortet, kommen Stimmen aus allen Richtungen, es wird diskutiert, Barbara Mitrenga übernimmt wieder, schließlich reden alle durcheinander … Wenn es so weit gekommen ist, fühlen sich Polen richtig wohl, erklärt die Dolmetscherin lachend. Der deutschen Journalistin ist das zu chaotisch. Zumal zwischendurch Handys klingeln, Barbara und Agnieszka zum Rauchen in die Küche verschwinden und gegessen wird. Ein umfangreiches Mittagessen, eine üppige Kaffee- und Kuchentafel, ein deftiges Abendbrot. Zum Glück ist ein Spaziergang dazwischengeschaltet, um den Gästen die Sehenswürdigkeiten von Jarocin zu zeigen.
In diesem lebhaften Mit- und Durcheinander werden Geschichten von früher und heute erzählt, alte und nicht ganz so alte Fotos herumgezeigt und kommentiert. Schließlich zeichnet Agnieszka einen Stammbaum, damit die Journalistin die vielen Personen richtig zuordnen kann. So entsteht langsam ein Bild von Klaus B.s polnischer Familie – vor allem von seiner Mutter.
Marta war die Älteste und kam 1916 auf die Welt. Jan, ihr Vater, arbeitete bei der Post, er war ein gebildeter Mann und half vielen Leuten bei schriftlichen Angelegenheiten. Anna, ihre Mutter, war eine geborene Springer – was es mit dem deutsch klingenden Name auf sich hat, weiß leider niemand in der Runde. Sie starb bei ihrer zweiten Entbindung, einer Zwillingsgeburt, eins der Babys starb ebenfalls, nur Jadwiga überlebte. Später heiratete Jan zum zweiten Mal und bekam mit seiner Frau Pelagia drei weitere Kinder: Kazimiera, Edmund und Barbara. Damit hatte Marta vier jüngere Geschwister.
Nach der Schulzeit fing sie an, in einer Strickerei oder Näherei (man ist sich da nicht einig) in Rogoźno zu arbeiten. Die Firma gehörte einem Deutschen namens Weber – möglicherweise wurde dort deutsch gesprochen.
Marta B. an der Nähmaschine in der Stickerei Weber
Aus dieser Zeit existieren zwei Fotos, auf denen Marta mit Chef und Kolleginnen abgebildet ist. Auf dem ersten sitzt sie an einer Nähmaschine und sieht wie eine Fünfzehnjährige aus. Tatsächlich ist sie bereits zwanzig. Das zweite Foto kennt die Journalistin schon: Es zeigt neun junge Frauen, zwei Männer und ein Mädchen, das Czesław auf dem Schoß hält. Das sind also Martas Kolleginnen, und einer der Männer ist ihr Chef! Und wer ist das Mädchen? Das weiß Barbara Mitrenga nicht, aber Klaus B.s Frage, wer die vielen Frauen auf dem Foto sind, als er selbst noch »so klein« war, ist damit geklärt.
1937 verliebte Marta sich in einen Mann namens J., das ist ein Nachname, den Vornamen kennt Barbara Mitrenga nicht. Aber sie weiß, dass er Eisenbahner war und einen ­guten Posten hatte. Die beiden gingen eine Beziehung ein, aber als Marta schwanger wurde, machte J. sich davon. »Ein Feigling«, wird Barbara Mitrenga nicht müde zu betonen. Und der Journalistin geht durch den Kopf: Wäre dieser J. nicht verschwunden, sondern hätte die Vaterrolle übernommen – Czesław wäre vermutlich nicht verschleppt worden. Kinder aus Familien mit Mutter und Vater hatten die »Rassenspezialisten« erst einmal nicht im Blick. Aber J. war fort, und seine Familie verriet nicht, wo er steckte. Also kam Czesław unehelich zur Welt. Ein Problem im katholischen Polen von 1938? Nein, erklärt die Runde unisono. Die Journalistin kann sich das nicht recht vorstellen. Wie auch immer: Czesław wurde in die Familie aufgenommen, und Großmutter Pelagia kümmerte sich, wenn Marta bei der Arbeit war.
Dann geschah die »Tragödie«. Obwohl sie die Geschichte schon kennt, bittet die Journalistin Barbara Mitrenga, sie noch einmal zu erzählen. Die zögert zuerst, es tut ihr weh, aber dann ist sie für die »geehrten Gäste« doch dazu bereit.
Czesław war damals vier Jahre alt, erzählt sie. Anzeichen, dass die Deutschen es auf ihn abgesehen hatten, gab es nicht. Marta war nicht wie andere Mütter oder Verwandte dazu aufgefordert worden, mit dem Jungen zu einer Untersuchung zu erscheinen. Aber als Großvater Jan von einer bevorstehenden Razzia hörte, ahnte er Schlimmes und versteckte den Enkel in einem Wäschesack, der auf dem Dachboden hing. Czesław – ein gehorsames und kluges Kind, wie seine Mutter später immer erzählte – hatte verstanden, worauf es ankommt. Er wusste, dass er sich nicht bewegen durfte. Aber er schaffte es nicht, lange genug still zu halten. Er wurde entdeckt und mitgenommen. Und Großvater Jan bekam Prügel. Weil er den Jungen versteckt hatte, vielleicht auch, weil er ein selbstbewusster Pole war. Ihr Großvater habe immer betont, erinnert sich Barbara Mitrenga, er sei Pole und bleibe Pole. Später findet die Journalistin dafür eine Bestätigung: Der Name Jan B. taucht in der Deutschen Volksliste nicht auf. Er sollte und wollte also nicht »eingedeutscht« werden.
Noch ein zweites Mal griff die Besatzungsmacht in das Leben von Czesławs Mutter ein, erzählt Barbara Mitrenga. Im letzten Kriegsjahr musste sie Panzergräben ausheben. Eine Schwerarbeit, die sie krank machte. Bis zu diesem Zeitpunkt war sie der Zwangsarbeit entgangen, vermutlich weil sie bei einer deutschen Firma beschäftigt war. Waczław, ihr späterer Mann, schon 1939 in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten, musste fünf Jahre auf einem Bauernhof in der Nähe von Stettin schuften.
Nach Czesławs Verschwinden brach Marta zusammen. Lange war sie suizidgefährdet. Erst mithilfe einer Therapie kam sie langsam wieder ins Gleichgewicht. Unterdessen suchte die Familie nach Czesław. Am Anfang hofften sie noch, den Jungen aufzuspüren, ehe er nach Deutschland verfrachtet wurde. Vergebens. 1949 stellten sie dann – das weiß die Journalistin schon – einen Suchantrag beim Polnischen Roten Kreuz, Anfang der 1960er Jahre den zweiten, wieder ohne Erfolg. Damals sagte man ihnen, Czesław sei wahrscheinlich aus Sehnsucht gestorben. Eine Notlüge, glaubt Barbara Mitrenga, damit ihre Mutter sich damit abfindet, dass der Junge nicht wiederkommt. Aber das konnte Marta nicht. Sie hat immer von ihrem ersten Kind gesprochen, sein Verlust blieb ihr großer Schmerz.
Nach dem Krieg änderten sich die Lebensverhältnisse der B.s. Großvater Jan sollte die »wiedergewonnenen Gebiete« besiedeln, wie man in Polen sagt, also die Landesteile, die einmal zu Deutschland, einmal zu Polen gehört hatten und nun wieder polnisch wurden. Also fuhr er kreuz und quer durch Niederschlesien, auf der Suche nach einer passenden Bleibe. In Bolesławiec/Bunzlau wurde er fündig und zog mit seiner Frau und den drei jüngeren Kindern dorthin. Jadwiga B. ging nach Wrocław/Breslau. Marta B. blieb als einzige in Rogoźno und übernahm mit Waczław Jabłoński die Wohnung, in der zuvor die ganze Familie gelebt hatte. Hier verbrachten die beiden ihr ganzes Leben, hier wurden ihre drei Kinder groß, hier hätte auch Czesław aufwachsen können. Heute wohnt Jolanta Jabłońska dort, seine jüngste Schwester.
Mit Jolanta ist die Journalistin am nächsten Tag verabredet, und Barbara Mitrenga, ihre Tochter Marta, Schwiegersohn Krystian und Lieblingsenkel Krzysztof Andrzejewski kommen auch nach Rogoźno. Diesmal geht es es ruhiger zu, alle sind ein wenig erschöpft von der gestrigen Begegnung. Außerdem bietet die große Altbauwohnung mehr Raum als die Plattenbau-Etage von Barbara und Henryk Mitrenga, so komfortabel sie auch sonst ist.
Jolanta Jabłońska, die neben ihrer eleganten Schwester bodenständiger wirkt, hat in der Wohnung vieles so gelassen, wie es bei ihren Eltern war. Die Frisierkommode der Mutter steht noch an ihrem Platz, der große Kachelofen versieht unverdrossen seinen Dienst – es ist fast so, als wären Marta und Waczław noch da. Sie sind da, erklärt Jolanta, springt auf, schiebt die Glasscheibe der Vitrine beiseite, nimmt ein Foto von Marta heraus, das an eine Bücherreihe gelehnt dort steht, und erzählt: Ostern ist ein Brief von Klaus B. gekommen, und während sie ihn öffnete, fiel das Foto in der Vitrine um. Ein Luftzug konnte nicht schuld sein, die Vitrine war geschlossen, außerdem steht das Foto seit Jahren an seinem Platz und ist noch nie umgefallen. Es müssen übernatürliche Kräfte gewesen sein, erklärt Jolanta überzeugt. Klaus B. hatte in seinem Brief nämlich darum gebeten, Blumen für das Grab der Mutter zu kaufen. Barbara Mitrenga nickt und deutet auf ihren Unterarm: Wenn sie diese Geschichte hört, bekommt sie regelmäßig eine Gänsehaut. Glauben die beiden wirklich, dass Marta Verbindung mit dem verlorenen Sohn aufgenommen hat? Die Schwestern nicken.
Die Frage, ob sie jemals daran gezweifelt haben, dass Klaus B. ihr Bruder ist, braucht die Journalistin jetzt nicht mehr zu stellen.
Barbara Mitrenga und Jolanta Jabłońska erzählen, wie sie aufgewachsen sind. Und sofort sind sie mitten in einem typischen Schwesterngespräch: Die eine beginnt, die andere unterbricht sie, sie kichern, es folgt ein Dialog, sie lachen, reden weiter, durcheinander, gleichzeitig … Katrin Lechler kommt mit dem Übersetzen kaum nach. Aber so viel versteht die Journalistin: Andrzej, der Älteste, war Martas Augapfel. Sie hatte immer Angst, es könne ihm etwas passieren. Als Vierjähriger hat er einmal einen Schluck Heizöl getrunken. Daran wäre er beinahe gestorben, Marta ist fast verrückt geworden. Die Angst, noch einmal ein Kind in diesem Alter zu verlieren, hat sie nie losgelassen. Auch gegenüber den Töchtern war sie überbesorgt und extrem fürsorglich. Keins ihrer Kinder durfte ins Ferienlager fahren – viel zu gefährlich. Auch Schulausflüge kamen nicht in Frage. Wenn sie als Teenager abends unterwegs waren, hat Marta immer auf sie gewartet, es mochte noch so spät sein. Als Andrzej zum Militär musste, hat sie in diesen beiden Jahren sehr viel geweint. Später, als die drei schon berufstätig waren, brachte sie es fertig, ihnen das vergessene Pausenbrot hinterherzutragen. Und wenn Andrzej, längst verheiratet, einmal nicht bei der Arbeit war, schickte Marta Jolanta am Abend los, damit sie schaut, was los ist.
Man könnte sich davon erdrückt fühlen, aber die beiden Schwestern erklären wie aus einem Munde: Marta war eine gute Mutter. Sie haben sie geliebt – und sie wussten, warum sie so war. Und du, lacht Marta zwei und schaut zu ihrer Mutter Barbara, bist genauso überfürsorglich und behütend wie sie. Und ich wäre genauso, wenn Krystian nicht gegensteuern würde … Auch das sind Spuren, die Czesławs Verschleppung in der Familie hinterlassen hat.
Plötzlich schlägt sich Jolanta an die Stirn: Jetzt hätte sie fast die Broschüre vergessen, die sie für die Journalistin besorgt hat, ein »Kalendarium« über die Geschichte von Rogoźno. Sie holt das kleine Heft, die Journalistin blättert es rasch durch. Neun eng bedruckte Seiten berichten über die Zeit der deutschen Besatzung, natürlich auf Polnisch. Sie wird Katrin Lechler später um die Übersetzung bitten, so lange muss sie sich wohl gedulden. Aber was für ein Geschenk!
Umständlich berichtet Jolanta, wie sie zu der Broschüre gekommen ist. Sie war auf dem Amt, um eine Geburtsurkunde für Czesław zu besorgen. Natürlich musste sie dort die ganze Geschichte erzählen. Die Reaktion war überwältigend: Anteilnahme, Mitgefühl, Hilfsbereitschaft. Bei ihrem Hausarzt sei es übrigens genauso gewesen … Dann weiß also mittlerweile ganz Rogoźno Bescheid? Jolanta nickt strahlend.
Auf dem Amt schrieb man ihr auch die Adressen auf, wo Czesław einmal gewohnt hat. Natürlich hat sie gleich nachgeschaut: Zwei Häuser sind abgerissen, leider auch dasjenige, aus dem Czesław verschleppt wurde. Aber ein Haus steht noch, sie wird es ihnen später zeigen, verspricht Jolanta. Ei...

Inhaltsverzeichnis

  1. [Cover]
  2. [Titel]
  3. [Impressum]
  4. [Inhalt]
  5. Aufgestört, beunruhigt, neugierig
  6. Tausend offene Fragen: »Haben Sie Akten über Klaus B.?«
  7. Die Stiefeltern – 1930–1944
  8. Eine Sensation: Klaus heißt eigentlich Cseslaus
  9. Polen unter deutscher Besatzung: Mord, Vertreibung, Kinderraub
  10. Der Schock
  11. Das Lebensborn-Heim »Pommern« in Bad Polzin
  12. Stiefschwester Inge ist nicht erreichbar – und gibt indirekt doch Auskunft
  13. Puzzlestück: Die Personalakte von Johannes Schäfer
  14. Endlich: Große Neuigkeiten aus Arolsen
  15. Dass ich mal so klein war! Klaus B. begegnet seiner Kindheit
  16. Herzrasen: Klaus B. bricht zusammen
  17. Die Stiefeltern – 1944–1945
  18. Das erste Treffen mit Klaus B.
  19. Plötzlich dreimal Bruder und achtmal Onkel
  20. Die Stiefeltern – 1945–1964
  21. »Du warst das Wichtigste«: Noch mehr Post aus Jarocin
  22. Ein Stapel Dokumente: Die Kinderakte
  23. Besuch aus Polen
  24. Wie geht man mit einer neuen Familie um?
  25. Puzzlestück: Der Nürnberger Prozess gegen das Rasse- und Siedlungshauptamt SS (RuSHA)
  26. Fährt er? Fährt er nicht? Zweites Treffen mit Klaus B.
  27. Eine Reise nach Jarocin und Rogoźno
  28. Rogoźno im Krieg
  29. Die Geschichte von Alojsy Twardecki
  30. Datenwirrwarr: Wann wurde Czesław geraubt?
  31. Puzzlestück: Janitscharen
  32. Zweite Sichtung der Kinderakte: Ein Gespräch im ITS
  33. »Wir sollten unsere Familien schnell vergessen«: Recherchen in polnischen Archiven
  34. Puzzlestück: Psychologische Gutachten
  35. Klaus B. macht Pause – und steigt wieder ein
  36. Behördenchaos und Schäfers Lügen
  37. Der Stiefvater – 1945–1973
  38. Warum gibt es keine Entschädigung?
  39. Gedankenspiele: Wie wäre Klaus B.s Leben verlaufen, wenn …
  40. Lohnt es sich, nach der Wahrheit zu suchen?
  41. Dank
  42. Literaturverzeichnis
  43. Abbildungsverzeichnis
  44. Über die Autorin