Ein Jahr im Tessin
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Ein Jahr im Tessin

  1. 192 Seiten
  2. German
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Ein Jahr im Tessin

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

"Bellinzona. Ich blicke wieder aus dem Zugfenster. Es ist ein Bild der Idylle da draußen, Steinhäuschen sind zu sehen, Pferde, Kühe, immer wieder kleine Dörfchen mit historischen Häuserfassaden, dazwischen Hotels mit der leicht verwitterterten Aufschrift ›Albergo‹. Eine Bilderbuch-Szenerie, eingefasst in einen Rahmen aus imposanten Felswänden, der rechts und links das Tal einfasst." Antje Bargmann macht sich auf ins Tessin und lernt dort das Leben als Kellnerin kennen, erfährt alles zum neuen Tessiner Alpkäse-Logo, wundert sich über den Weihnachtsmarkt in Locarno und verliebt sich unsterblich in diese Landschaft.

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Information

Jahr
2017
ISBN
9783451812033

November

HAST DU NICHT NOCH ETWAS ANDERES zum Anziehen?“ Ich schaue Matteo perplex an. „Etwas anderes? Ist das nicht schick genug?“ Ich zupfe an dem Rock herum, der eventuell etwas verknittert ist. „Ich überlege nur, ob der Rock vielleicht ein bisschen zu kurz ist. Es ist ja schon ein sehr formeller Anlass.“ Ich schaue an mir herunter. „Sind die denn so streng dort?“ „Hast du vielleicht eine weiße Bluse dazu?“ „Nein, so etwas habe ich das letzte Mal mit acht Jahren beim Geburtstag meiner Großtante getragen.“ Mir wird es zu blöd. Seit wann macht ausgerechnet Matteo so einen Wirbel um Mode?
Eine halbe Stunde später stehe ich in langer Hose, dafür mit Glitzertop, im Hausflur von Matteos Familie. Seine Mutter tritt mir im üblichen schwarzen Kostüm entgegen, das man sonst nur auf historischen Familienfotos zu sehen bekommt. Sie betrachtet skeptisch meine freien Schultern. Matteo tritt dazu. Er hat moosgrünes Tweet-Sakko zu brauner Hose kombiniert. Die Ausstattung könnte von seinem Großvater stammen. „Gehen wir? Das Auto steht vor der Tür.“
Unser Ziel ist Stresa, etwa eine halbe Stunde entfernt. Der Ort am Lago Maggiore mit den vorgelagerten Borromäischen Inseln ist bekannt für seine großen, traditionellen Hotels. In einem der eleganten Häuser lädt der Hoteliersverband der Region zum Cena, zum Dinner, ein. Es scheint das Jahres-Highlight zu sein. Das ist schon daran festzustellen, dass Matteos Mutter für diesen Anlass ihren Wohnort verlässt. Das kommt sonst nur bei seltenen Arztbesuchen vor, wie ich hörte.
Am Zielort rangiert Matteo den Wagen direkt vor den Haupteingang des pompösen Hotels. Dann springt er raus und öffnet seiner Mutter die Autotür. Hatte diese vorher noch mit zusammengekniffenen Lippen auf der Rückbank gesessen und aus dem Fenster gestarrt, steigt sie nun mit großer Gestik aus dem Auto und lächelt huldvoll nach rechts und links in die imaginäre Menschenmenge. Jubelschreie bleiben aufgrund fehlender Zuschauer aber aus. Ich klettere noch schnell aus der Beifahrertür und laufe den beiden hinterher, um den Anschluss nicht zu verpassen.
In der Hotelhalle kommt uns eine junge Dame im kurzen, halbtransparenten Kleid entgegen. „Cara, come sei bella“, kreischt Mamma. Auch Matteo zeigt sich sichtlich beeindruckt. Mit meiner langen Hose fühle ich mich jetzt schon wie auf dem Geburtstag meiner Großtante.
Nach einem Aperitif nehmen wir im großen Saal Platz. Ein Paar im Alter von Matteo setzt sich neben uns. „Die haben in Pallanza ein Hotel am See“, raunt Matteo mir zu. Die Frau mit dem Pagenschnitt grüßt knapp und würdigt mich dann keines Blickes mehr. Mamma lächelt huldvoll in die Runde. „Ist das nicht schön hier?“, fragt sie meinen Tischnachbarn. Der lächelt zurück und nickt bestätigend. Für Mamma Aufforderung genug, zu einer nicht enden wollenden Tischkonversation über Wetter, Dekoration und Tourismustrend anzusetzen.
Das Essen beginnt. Mein Tischnachbar niest dreimal, während er in seinem Teller herumstochert. „Salute!“, wünsche ich. Gesundheit. „Erkältet?“, frage ich dann, dankbar über einen Gesprächsanlass. „Nein. Schimmelallergie“, erklärt der und isst ungerührt weiter. Ich schaue einen Moment entsetzt auf seinen Teller, dann auf meinen. Bis es mir dämmert, dass er einen Witz gemacht hat. Ich muss grinsen. „Und du übernimmst also demnächst Mammas Rolle im Hotel?“, fragt plötzlich die Ehefrau des Mannes zuckersüß über den Tisch. Ich schaue überrascht auf: „Also darüber haben wir uns noch keine Gedanken gemacht …“ Bevor ich weitersprechen kann, hat sich Matteos Mutter in Position gebracht, mit funkelnden Augen und scharfer Stimme. „Niemand übernimmt hier die Rolle von irgendjemandem. Mein Sohn und ich sind ein eingespieltes Team, und das wird auch so bleiben.“ Mamma nimmt energisch einen Schluck Rotwein und setzt hinterher: „Außerdem haben wir nur qualifiziertes Personal.“ Die andere Dame lehnt sich zufrieden zurück, ihre Mundwinkel zucken leicht. Zu mir gewandt sagt sie: „Oh, ich dachte Sie kommen aus der Hotellerie?“ „Sie ist Aushilfskellnerin im Gatto“, antwortet Mamma. „Also eigentlich bin ich Journalistin“, werfe ich ein. „Nicht wahr, Matteo?“ Der hört gar nicht zu, sondern blickt mit gerührtem Blick auf seine Mutter. „Ach Mamma“, sagt er liebevoll. „Ohne dich wären wir doch aufgeschmissen.“ „Eh si, la mamma è sempre la mamma.“ Die Mamma ist immer die Mamma, nickt diese und entspannt sich wieder.
„Und wie war gestern dein Galadinner in Stresa?“, fragt meine Kollegin Beata in der Redaktion. „Das Essen war ganz gut.“ Mehr zu erzählen habe ich keine Lust. Ich habe wenig geschlafen. Nach einer auf das Essen folgenden, nächtlichen Diskussion mit Matteo fand ich keine Ruhe mehr. Ergebnis der Diskussion war, dass seine Mutter einen ganz besonderen Humor hat, den ich nicht verstehe, und die Kommunikationsprobleme auf den Mentalitätsunterschieden zwischen Deutschen und Italienern beruhen. Derselbe Grund, weshalb ich beispielsweise auch keinen Sinn für Fernsehshows mit tanzenden Uniabsolventinnen im Bikini hätte. Eine der Lieblingssendungen der Familie.
„Das klingt ja mittelmäßig begeistert“, analysiert Beata. „Gibt’s Probleme?“ „Nein, das nicht. Es ist manchmal nur nicht ganz einfach, wenn der Freund so eng mit der Mutter zusammenlebt. Ich dachte vorher immer, das wäre ein Klischee bei Italienern.“ „Aha, Beziehungsstress. Dann habe ich etwas für dich zum Ablenken! Einen Termin bei einem unverheirateten Jungbauern, der seinen Hof ganz alleine führt. Vielleicht braucht der ein wenig weibliche Unterstützung.“ Ich verdrehe die Augen. „Ihr braucht mich nicht zu verkuppeln.“ Neugierig bin ich trotzdem. Sie zeigt mir einen ausgerissenen Zeitungsausschnitt, auf dem ein junger, etwas blasser Mann eine Medaille in der Hand hält und verdutzt in die Kamera guckt. „Wir unterstützen immer mal den Verein der Bergbauernhilfe, indem wir Artikel publizieren und deren Aktivitäten bekannter machen. Sie haben jetzt einen Bergbauern in der Leventina für seinen Ziegenkäse ausgezeichnet. Über den könnten wir ein kleines Porträt machen.“
Am folgenden Tag fahre ich nach Biasca. In der Nähe dieses Ortes soll der Hof liegen. Dreimal biege ich am selben Kreisel falsch ab, weil ich die richtige Ausfahrt für eine Sackgasse halte. Sie führt mitten in eine Baustelle für den neuen Gotthardbasistunnel mit einem Gewirr aus großen, roten Röhren, die aus dem Berg kommen. Irgendwann stelle ich fest, dass zwischen den Transportbändern tatsächlich ein kleines Gehöft liegt. Ein paar Esel stehen am Gatter und schauen mir entgegen.
Ich parke mein Auto vor einem älteren Gebäude und suche vergeblich eine Klingel. In dem Moment taucht hinter dem Haus ein junger Mann auf, schmal und jungenhaft, so wie ich ihn auf dem Foto gesehen habe. „Ja?“, fragt er etwas scheu. „Ich habe angerufen. Ich komme von der Tessiner Zeitung“, sage ich auf Italienisch und schenke ihm ein, so wie ich hoffe, ermutigendes Lächeln.„Ah ja, stimmt.“ Er kommt näher und reicht mir skeptisch die Hand. „Worum geht es genau? Das habe ich nicht ganz verstanden.“ „Wir wollen einen Artikel über Sie machen. Wie Sie hier leben und arbeiten.“ „Aha. Ja. Und warum?“ Ich bin einen Moment überrascht. Bisher habe ich nie erlebt, dass sich ein Kleinunternehmer, egal ob Bäcker oder Künstler, beschwert hat, weil die Zeitung über ihn schreiben wollte. „Sie haben doch einen Preis gewonnen für Käse. Unsere Leser interessiert das.“ „Ach so. Ja, ist okay. Was wollen Sie wissen?“ Er steht immer noch etwas misstrauisch vor mir, macht keine Anstalten mich ins Haus zu bitten. „Erzählen Sie mir doch mal, wie Sie hier arbeiten. Wie viele Mitarbeiter haben Sie?“ Ich zücke meinen Kugelschreiber. „Mitarbeiter?“ Er schüttelt den Kopf. „Wo soll ich die denn herhaben? Hier gibt’s nur mich.“ „Okay. Dann fangen wir doch mal mit den Tieren an. Wie viele Ziegen haben Sie hier? Dann können wir auch später ein Foto mit Ziegen machen: Sie bei der Arbeit.“ Er schaut mich an, als hätte ich den Verstand verloren. „Die Ziegen? Die sind doch nicht hier. Die sind auf dem Berg.“ „Ach, haben Sie noch mehr Ländereien? Interessant, erzählen Sie mal!“ Ich warte immer noch darauf, endlich meine erste Notiz in den Karoblock zu machen.
Dem prüfenden Blick des Bauern entnehme ich, dass er überlegt, ob ich einen Witz gemacht habe. Er scheint sich dann dafür zu entscheiden, ein wenig Rücksicht auf meinen nicht ganz ausgereiften Verstand zu nehmen. „Ich rede von diesem Berg hier“, sagt er und zeigt mit dem Arm die Felswand hinter seinem Haus hoch. „Dort sind die Ziegen.“ Ich schaue hinauf. Der Berg hat mindestens 1500 Höhenmeter. „Und wie kommen die da rauf?“ Wieder der verständnislose Blick. „Na ja, sie klettern hoch. Bis sie wieder nach Hause kommen. So alle zwei bis drei Tage.“ „Ach, das machen die ganz selbstständig?“, frage ich beeindruckt. „Ja klar, sind doch Ziegen.“ Fototechnisch muss ich also umdisponieren. „Sie haben doch sicher eine Kühlkammer für den Käse, oder?“ „Ja, sicher!“ „Kann ich die mal sehen? Vielleicht eignet die sich für Fotos!“ Er nickt.
Wir gehen ins Haus. Wohn- und Arbeitsräume sind nur schwer auseinanderzuhalten. Die einfache Einrichtung scheint sich in den vergangenen fünfzig Jahren nicht verändert zu haben. Er riegelt eine schwere Tür auf: „So, hier ist die Kühlkammer!“ Ich schaue mich um und blicke auf lauter leere Regale. „Wo sind denn die Käseleiber?“ Jetzt grinst er mich herausfordernd an, anscheinend ein Test, um zu sehen, ob ich nicht doch scherze. „Ich habe doch jetzt keinen Käse mehr. Die Saison ist zu Ende.“ Enttäuscht blicke ich mich um. Ein Reißer wird der Artikel wohl nicht mehr. Ich weiß nicht einmal, womit ich ihn fotografieren soll. Vielleicht mit den Eseln, fällt mir ein. „Die Esel gehören übrigens meinem Nachbar“, sagt er da. Gut, auch erledigt.
„Kann ich Sie mal was fragen?“, sagt der junge Mann plötzlich. „Sie sprechen doch deutsch? Ich habe zwei Briefe bekommen, die ich nicht verstehe.“ Er holt zwei Seiten mehrfach gefalteter Briefbögen. Ich schaue mir den ersten an. Dort steht:
„Lieber Herr G. Ich bin ein junger Bauer und so alt wie Sie und wohne im Kanton Obwalden. Ich habe den Artikel über Sie gelesen und finde ganz toll, was Sie machen. Ich produziere auch Käse. Vielleicht schreiben Sie mir ja mal. Ich würde mir gerne Ihren Hof angucken. Liebe Grüße, Ben“
Ich muss schmunzeln und gebe dem Bauern den Brief zurück.„Das ist Fanpost“, erkläre ich.„Die ist ernst gemeint.“ Er runzelt die Stirn. „Und was will der?“ „Ihren Hof anschauen und Briefe austauschen.“ Der Bauer schaut mich nachdenklich an, erwidert aber nichts. Dann gibt er mir den anderen Brief.
„Sehr geehrter Herr G. Mit Interesse habe ich im Magazin des Bergbauernverbandes gelesen, dass Sie frischen Ziegenkäse aus dem Leventinatal produzieren. Ich habe ein kleines Restaurant in Zürich und würde ihre Spezialität gerne unseren Gästen anbieten. Wie funktioniert bei Ihnen der Vertrieb? Mit freundlichen Grüßen.“
Ich schaue wieder hoch und sage: „Das ist doch toll! Der möchte Käse für sein Restaurant haben.“ Jetzt grinst der Bauer breit: „Der nimmt mich doch auf den Arm, oder?“ Ich schüttle den Kopf. „Nein, wieso denn? Die Leute in der Deutschschweiz mögen so typische Produkte aus dem Tessin.“ Jetzt prustet er los. „Und wie soll ich ihm den Käse schicken? Mit der Post oder was?“ Er kriegt sich vor Lachen gar nicht mehr ein. Ich verzweifle langsam. Aber irgendwie rührt er mich auch. Ich suche gerade nach einer Antwort, als mein Handy in der Tasche piept. Ich werfe einen kurzen Blick drauf. Eine SMS von Matteo. „Hoffentlich bist du nicht mehr böse! Habe eine Überraschung für dich! Und nicht mit dem Bauern durchbrennen!“ Ich muss lächeln. Und bin erleichtert. Schließlich will ich auch keinen ernsthaften Streit wegen seiner Mutter. Das ist halt das authentische Italien, nach dem ich mich immer gesehnt habe.
„Hören Sie das?“, holt mich der Bauer aus meinen Gedanken. Ich schaue ihn verwirrt an und stecke das Handy weg. „Lassen Sie uns schnell rausgehen“, sagt er, bevor er aus der Tür verschwindet. Er läuft über den Hof. Draußen höre ich das Brummen der Maschinen von der benachbarten Baustelle. Doch das kann er wohl kaum meinen. Plötzlich mischt sich leises Klingeln darunter. Glöckchen sind zu vernehmen, deren Klang zunehmend lauter wird. Ich schaue die felsige Bergwand hoch. Tatsächlich, schon fast am Fuß des Berges, auf einem steilen Pfad, entdecke ich eine Reihe von Ziegenköpfen. Eine ganze Herde kommt im eiligen Gänsemarsch den Berg herunter. Die ersten Tiere laufen uns schon über die Wiese entgegen. Der Bauer lacht und greift in einen Futtersack am Haus. „Komm, Sie wollten doch ein Foto machen.“ Dann klettert er auf große Felsblöcke in der Wiese, die vor Urzeiten mal vom Berg abgebrochen sein müssen. Die ersten Ziegen rasen begeistert auf ihn zu, gierig nach dem Futter in seiner Hand. Ich zerre den Fotoapparat aus meiner Tasche. Inzwischen sind auch die restlichen Ziegen bei ihm angekommen, die sich um das Fressen balgen. Er lacht glücklich mitten in der Herde und spricht mit den einzelnen Tieren, ganz versunken, als hätte er mich ganz vergessen. Schnell knipse ich ein paar Fotos. Keine Ahnung, was ich später über ihn schreiben soll. Aber die Bebilderung für „Junger Biobauer erhält Auszeichnung für regionalen Ziegenkäse“ wird preisverdächtig.
„Könnte ich mir eventuell in zwei Wochen am Donnerstag und Freitag frei nehmen?“ Ich stehe beim Chefredakteur im Büro. Leicht fällt mir die Anfrage nicht, schließlich bin ich neu und nur befristet bei der Zeitung. Andererseits hängt privat für mich viel von diesen Tagen ab. „Das sollte kein Problem sein. Willst du wegfahren?“ Ich grinse breit. „Ja, nach Udine und Venedig. Ich begleite meinen Freund, handgefertigte Stühle fürs Hotel abzuholen. Es ist eine einmalige Gelegenheit, weil wir das mit einer kleinen Besichtigungstour verbinden können. Ich war ja noch nie in Venedig.“ Im Flur pfeift jemand durch die Zähne. „Venedig! Toll! Ist das die angekündigte Überraschung deines Partners?“ Beata tritt mit Zetteln in der Hand in den Raum, um an der anschließenden Themensitzung teilzunehmen. „Ja, genau“, erkläre ich. „Der Freitag ist auch genau mein Geburtstag!“ „Na, dann ist doch alles gut bei euch. Hast du dich mit der Mutter wieder versöhnt?“ „Mit ihr gab es ja keinen Streit. Nur mit Matteo. Aber wir konnten das alles klären.“ „Hoffentlich habt ihr in Venedig besseres Wetter als wir jetzt hier“, wirft eine andere Kollegin, Melanie, ein. Ich schaue aus dem Fenster in den prasselnden Regen. Seit gestern ergießen sich monsunartige Regengüsse über die Südschweiz. Auch ganz Norditalien soll von der Wetterlage betroffen sein. „Das wird schon nicht so lange anhalten. Und sonst erlebe ich Acqua Alta in Venedig aus nächster Nähe. Vielleicht müssen wir dann den Markusplatz auf Rampen überqueren. Das wäre spannend.“ „Für ein solches Erlebnis brauchst du nicht extra bis Venedig zu fahren“, erklärt der Chefredakteur.
Er sollte recht behalten. Schon am nächsten Tag muss ich der Redaktion telefonisch mitteilen, dass ich später kommen werde – vorausgesetzt, ich finde überhaupt einen Weg nach Locarno. Meine übliche Strecke ist versperrt. Mit meinem Auto bin ich am Morgen im strömenden Regen nur bis zur Ortsausfahrt von Cannero gekommen. Dort stand schon das erste Hinweisschild, das auf eine Vollsperrung in Richtung Schweiz hinwies. Nur wenige Kilometer von Cannero entfernt ist in der Nacht ein Erdrutsch heruntergekommen. Tonnenweise liege Geröll auf der Fahrbahn, teilte mir ein Polizist am Straßenrand mit. Zurück im Ort läuft plötzlich Sandro an meinem Auto vorbei. Mit Schirm und dicken Bergwanderstiefeln ist er auf dem Weg in seine Bar. „Mist“, sage ich zu ihm. „Ich hänge im Dorf fest!“ Er nickt und seufzt. „Das kenne ich. Das tue ich schon seit über dreißig Jahren. Ich habe dich gewarnt.“ Ich muss lachen. „Bei mir liegt es aber am Erdrutsch. Und der ist erst seit heute Nacht …“ „Wenn es so regnet, passiert das immer. Jetzt kommst du nur noch mit dem Schiff in die Schweiz.“ Das war eigentlich nicht mein Plan, da ich ja mein Auto mit nach Locarno nehmen will. „Kann ich nicht mit der kleinen Autofähre in Verbania übersetzen und dann auf der gegenüberliegenden Seite den See entlangfahren?“ Sandro schüttelt den Kopf. „Da geht auch nichts mehr, weder Auto noch Zug. Wenn es so regnet, gibt es überall kleine Erdrutsche.“
Wenig später laufe ich mit meiner Tasche zum Anleger hinunter. Schon von weitem kann ich die Menschenmenge dort sehen. Einige bekannte Gesichter sind darunter. „Sie setzen extra ein Schiff für die Grenzgänger ein“, informiert mich Antonio, der einen Termin in der Schweiz hat. Ich bin beeindruckt von der prompten Organisation, die ich den Italienern gar nicht zugetraut hätte. Da wurde schnell auf den Erdrutsch reagiert. Tatsächlich kommt kurz darauf die größte Fähre aus der Flotte der „Navigazione“. Sie hat zwar schon, wie alle anderen Schiffe, ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel und fährt ein Tempo, bei dem ich nebenherschwimmen könnte, aber sie bietet eine geöffnete Kaffeebar. Bei dem Wetter genau das Richtige.
Als wir zwanzig Minuten später in Cannobio anlegen, kenne ich im Detail alle beruflichen Probleme eines selbstständigen Bankkundenberaters im italienisch-schweizerischen Grenzgebiet. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, machen eine Steueramnestie in Italien und stärkere Kontrollen an der Grenze den Bankenplatz Tessin weniger attraktiv für Italiener. Ihm würden auf diese Weise die Kunden weglaufen. Er überlege schon, ob er sich nicht vollständig seinem zweiten Ausbildungsberuf, Bäcker, widmen solle. Das verschaffe doch eigentlich viel mehr Befriedigung am Ende des Tages. Oder was ich darüber denke? Ich nicke etwas abwesend. Denn ich wundere mich gerade, dass alle Passagiere das Schiff verlassen. Eigentlich ging ich davon aus, auf diese bequeme Weise direkt bis Locarno zu gelangen. Aber offenbar ist der Transit über das Wasser bereits im benachbarten Cannobio – immer noch Italien – beendet. Ich laufe den Leuten quer durch den historischen Ortskern hinterher bis zur Hauptstraße. Dort sind ein paar Busse bereitgestellt. Immerhin. Mit denen geht es weiter über die italienische Grenze bis Brissago. Wieder aussteigen. Dann passiert nichts mehr. Offenbar funktioniert der eilig ins Leben gerufene Schiff-Bus-Ersatzverkehr nur auf italienischer Seite. Auf Schweizer Terrain sah wohl niemand einen Anlass, Zusatzbusse einzusetzen. Es ist fast Mittag, als ich endlich an meinem Schreibtisch sitze. Ich mache mir bereits Gedanken, wie ich abends zurückkommen soll. Wahrscheinlich gar nicht. Sinnvoller ist es sicher, die Nacht in meiner Wohnung in Locarno zu verbringen.
Fast schon wie ein Stammgast fühle ich mich, als ich abends in der City Bar mein Bier am Tresen bestelle. Vor der Tür traf ich Lorenzo wieder, der diesmal nicht alleine erschienen war. Er hatte seinen überdimensionierten Hund mitgebracht. Offenbar auch ein Stammgast in dem Laden. Inzwischen ist Lorenzo „weitergezogen“, wie er angab, nicht aber ohne mich auf die Präsenz eines weiteren Kollegen aufmerksam zu machen. Es dauerte einen Moment, bis ich in einer Ecke der Kneipe, versteckt hinter einer Zeitung, Daniel hocken sah. Ein Bier und einen Kurzen vor sich, die blonden Haare etwas wirr, eine Zigarettenpackung in der Hand drehend, hockt er dort und sieht aus, als wäre er gerne woanders. An einem verregneten Novemberabend in Locarno nur schwer verwirklichbar.
„Na, auch noch ein Feierabendbier?“ Nichts geht über einen originellen Gesprächseinstieg zum Eisbrechen. Er schaut auf, nicht wirklich überrascht mich zu sehen. „Und du, nicht in Italien?“ Ich zucke mit den Schultern. „Ich komme nicht hin. Die Straße ist immer noch gesperrt.“ „Und wo pennst du jetzt?“, fragt Daniel. „Ich habe eine Wohnung hier. Ich nutze sie nur nicht so oft.“ „Verstehe!“ Er dreht sich zur Bar. „Una birra!“, ruft er dem Barista zu. „Willst du auch noch eins?“, fragt er an mich gewandt. Ich nicke und zeige dem Barkeeper mein halbleeres Glas.
Eine Stunde später hat sich die Atmosphäre deutlich gelockert, sowohl bei Daniel als auch im ganzen Laden. Es fühlt sich urbaner an als im Laghetto – wo ich immer das Gefühl habe, im Gemeinschaftswohnzimmer des Dorfes zu hocken. Daniel ist aufgetaut und erzählt von seiner Familie. Über die Arbeit sprechen wir auch. Es verbindet, jemanden zu hören, dem es ähnlich geht. „Telefonieren auf Italienisch empfinde ich immer noch als Überwindung“, gestehe ich. „Ja“, stimmt Daniel mir zu. „Das ist schwieriger, als persönlich mit jemandem zu sprechen.“ Ich nicke. „Am Ende funktioniert es eigentlich immer gut. Gerade bei den Ämtern sind sie sehr kooperativ. Heute habe ich mit dem Umweltamt gesprochen. Das war sehr interessant.“ Daniel nimmt einen Schluck aus seinem Glas...

Inhaltsverzeichnis

  1. Ein Jahr im Tessin
  2. Impressum
  3. Mai
  4. Juni
  5. Juli
  6. August
  7. September
  8. Oktober
  9. November
  10. Dezember
  11. Januar
  12. Februar
  13. März
  14. April
  15. Informationen zum Buch
  16. Informationen zur Autorin