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Spiritualität in der Mitte des Lebens

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Spiritualität in der Mitte des Lebens

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Über dieses Buch

Der alte Glaube trägt nicht mehr – diese Erfahrung machen viele Menschen in der Lebensmitte. Sie lassen sich nicht mehr vorschreiben, was und wie sie zu glauben haben, und machen sich auf die Suche nach einer Spiritualität, die sie erfüllt. Elke Worg schreibt über diesen Neuanfang: den Abschied von alten Glaubensmustern, die Suche nach neuen Kraftquellen und den Aufbruch zu einer bewussten Spiritualität. Fest steht: den einen, richtigen Weg gibt es nicht. Ein Buch, das Mut macht, sich auf die Suche nach dem persönlichen spirituellen Weg zu machen.Die intensive Auseinandersetzung mit dem Woher, Wohin und Warum ihres Lebens – dem Sinn des eigenen Daseins – beginnt bei den meisten Menschen, wenn sie um die fünfzig sind. Das ist nach heutigem Verständnis die Zeit der Lebensmitte, die immer weiter nach hinten rückt. Der Eintritt in die zweite Lebenshälfte hält viele Überraschungen bereit. Zum einen sind da die körperlichen Veränderungen, doch auch ganz andere und neue Probleme können auftauchen: Beziehungen zerbrechen und werden neu geknüpft. Die eigenen Eltern werden pflegebedürftig, während die Kinder noch nicht mit Schule und Ausbildung fertig sind. Oft kommen zu den privaten Schwierigkeiten auch berufliche Probleme hinzu. "Die Midlife-Generation kämpft an allen Fronten", so die Autorin. Während an einigen Menschen die Zeit der Lebensmitte scheinbar spurlos vorübergeht, machen andere in dieser Zeit "nur" eine spirituelle Wandlung durch. Denn wenn die körperliche Fitness nachlässt, kann die seelische Gesundheit diese ausgleichen. Spirituelle Menschen sind nachweislich gelassener und zufriedener. "Es ist völlig normal, dass in der Lebensmitte alte Strukturen zu bröckeln beginnen. Dann, wenn Lebensentwürfe scheitern, unerlässliche Abschiede vollzogen werden müssen und das Reifwerden als ein notwendiger Prozess der persönlichen Entwicklung begriffen wird, kann eine bewusst gelebte Spiritualität dazu beitragen, dass das ´Leben in der Dimension der Tiefe´ erfahrbar wird, von der der Theologe Paul Tillich ebenfalls sprach."Elke Worg hat keinen Leitfaden für die "richtige" oder "falsche" Art zu glauben geschrieben. Sie zeigt auf, "dass es in der Lebensmitte zu einer spirituellen Wandlung kommen und wie diese bewusst wahrgenommen werden kann, sodass der Einzelne gestärkt, bereichert und verwandelt aus dieser Zeit hervorgeht." Sie lädt ein zu einer spannenden Reise mit lohnendem Ziel: Herzwärts.

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Information

Jahr
2019
ISBN
9783451815607

Teil I: Abbrüche

»Wie in der Bibel gingen mir die Augen auf, wenn auch über Monate und Jahre. Und die Methode hieß: zerbrechen lassen. Von Gott in eine liebevollere Existenz hinein.« So beschreibt Frau R. den Wandel ihrer religiösen Entwicklung. Aufgewachsen in einem katholischen Elternhaus, lebte sie als Kind »intensiv mit Kirchengesängen und dem Kirchenjahr, wenn auch unbewusst«. Selbst im Erwachsenenalter nahm der katholische Glaube in ihrem Leben breiten Raum ein. Da war die Liturgie, »die mich immer erdete und mir den Gefühlsbezug gab. Meine Spiritualität war rückwärtsblickend konventionell mit ersten Tastversuchen, mich Gott über das schulisch Erlernte hinaus zu nähern.«
Jedem Neuanfang, auch dem spirituellen, muss notwendigerweise ein Abschied vorausgehen. Dieser kann unterschiedliche Formen annehmen, also dramatisch verlaufen oder in aller Stille. Es kann sein, dass man seine religiösen Wurzeln komplett ausreißt und sich etwas völlig Neuem zuwendet. Niemals aber ereignet sich in der Lebensmitte eine spirituelle Wandlung als Bruch, quasi von heute auf morgen. Das gibt es in nur in der Jugend. Aus einer Laune heraus, vielleicht aus Neugier, manchmal auch aus Protest gegenüber ihrer religiösen Sozialisierung wenden sich junge Menschen mitunter alternativen Spiritualitätsformen zu. Die Spiritualität der Lebensmitte hingegen ist an den Reifeprozess gekoppelt, den der Schweizer Psychiater und Psychologe C. G. Jung als Individuation oder Selbst-Werdung bezeichnet hat. Was er damit meinte, beschrieb er einmal so: »Der bisher stark nach außen gewandte Mensch tritt den Weg nach innen an. In der Reife finden Bewusstsein und Unbewusstes eine neue Verbindung, die Beziehungen zur äußeren und inneren Welt kommen zum Einklang.«
Keine Zeit ist besser für die Auseinandersetzung mit spirituellen Fragen geeignet als die Lebensmitte. Mit einem Mal dämmert uns, dass unser Leben endlich ist. Wie viel Zeit bleibt noch? Was möchten wir verändern? Welchen Sinn wollen wir unserem Leben geben?
Früher sprach man in diesem Zusammenhang häufig von der Midlife-Crisis. WissenschaftlerInnen nennen es heute lieber eine »kritische Zeit der mittleren Jahre«. Denn die Phase der Neuorientierung in der Lebensmitte hängt von zahlreichen Faktoren ab und wird sehr individuell erlebt. Natürlich lässt sich nicht leugnen, dass diese Umbruchzeit ihre Tücken hat. Als junger Mensch können wir davon ausgehen, dass die Zeit, die als unsere Zukunft vor uns liegt, viel länger ist als unsere Vergangenheit. Irgendwann wird uns jedoch bewusst, dass sich dieses Verhältnis langsam umkehrt. Unser Kontingent an noch verbleibenden Jahren schrumpft. Unser letzter Erdentag ist uns plötzlich viel näher als der Tag unserer Geburt. Das zu erkennen und zu akzeptieren ist nicht unbedingt beglückend, aber der erste Schritt auf dem Weg zu (spiritueller) Reife. Allein die Tatsache, dass wir uns unserer eigenen Endlichkeit bewusst werden, ist ein symbolischer Tod. Denn auch im übertragenen Sinn muss unser Ich erst sterben, bevor wir zu neuen Ufern aufbrechen können. Wie bei einem richtigen Tod ist auch dieser Prozess mit Trauerarbeit verbunden, der wir uns nicht verweigern sollten. Nicht nur unsere eigene Vergänglichkeit, sondern auch der hinter uns liegende Weg samt allen Höhen und Tiefen muss betrauert werden. ­Viele Menschen empfinden diese Zeit als besonders schwierig, manche sogar als bedrohlich.
Im Wandel ihrer Religiosität atmen viele ältere Menschen aber auch zum ersten Mal geistliche Freiheit. Herr W. hat das so erlebt. Geprägt von der Aufbruchsstimmung nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil engagierte er sich in seiner Heimatstadt im Rheinland von Anfang an stark in der katholischen Kirche. Er widmete sich der Jugendarbeit und der Lebenshilfe. Und er studierte Theologie, weil er hoffte, in der Kirche etwas verändern zu können. Denn verändern musste sich seiner Meinung nach etwas. Die Hierarchien störten ihn. Außerdem waren Herr W. und seine Frau schon damals der Auffassung, dass der Glaube ins Leben hineingehört, mitten in den Alltag. In der Katholischen Integrierten Gemeinde in München glaubten sie zu finden, wonach sie suchten: »Wir hatten den Eindruck, diese Leute könnten wirklich etwas bewegen. Und dann war da noch die Faszination des gemeinsamen Lebens in diesen Integrationshäusern und Wohngemeinschaften, die sich unter dem Aspekt des Glaubens gefunden hatten. Das hat ja auch lange Zeit gut funktioniert.«
Die Geschichte der Katholischen Integrierten Gemeinde begann Ende der 60er-Jahre. Damals hatten drei Menschen eine Vision: der wohlhabende Tölzer Anwalt Herbert Wallbrecher, seine Frau und der spätere Kardinal von Paderborn, Josef Degenhardt. Sie wollten eine Gemeinschaft gründen, die so lebte, wie es in der Bibel geschrieben steht: »Alle aber, die gläubig geworden waren, waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam« (Apg 2,44). Nicht anderen predigen, sondern den Glauben vorleben, lautete das Credo der Integrierten Gemeinde. Manche verkauften sogar Hab und Gut, um die neue Lebensform finanziell zu unterstützen. Die Gemeinde gründete einen eigenen Schulverband und eine Krankenstation. Natürlich war die neue Glaubensgemeinschaft nicht unumstritten, doch sie stand unter dem besonderen Schutz Josef Ratzingers, der sie auch als Papst Benedikt XVI. weiterhin förderte. Fast fünfzehn Jahre verbrachten Herr W. und seine Familie in der Integrierten Gemeinde. Drei Kinder wurden dort groß. Doch dann setzte ein schleichender Ablösungsprozess ein. Herr W. musste erkennen, dass er ein zu idealistisches Bild gehabt hatte. Die Strukturen waren nicht demokratisch genug. Ein Miteinander auf Augenhöhe gab es nicht. Als sich die Gemeindeleiter dann auch noch in die Beziehungen der erwachsenen Tochter einmischten, kam es zum endgültigen Bruch mit der Gemeinschaft.
In fast allen Religionen dieser Welt kennt man die Idee, dass es lange vor dem leiblichen Tod eine Art seelischen Tod gibt, den wir durchschreiten müssen, um bereit für eine neue Lebensphase zu sein. Deswegen gibt es so viele Mythen, die sich um Tod und Wiedergeburt drehen. Das symbolische Totsein kann sich tatsächlich anfühlen wie eine Reise in die Unterwelt, die viele Helden in diesen Mythen antreten müssen. Vielleicht sind die verschiedenen Übergänge unseres Lebens so etwas wie eine Vorbereitung auf das große Finale – damit wir sterben lernen. »Von der Lebensmitte an bleibt nur der lebendig, der mit dem Leben sterben will«, sagte C. G. Jung. »Werden und Vergehen ist dieselbe Kurve« (Werke 8, 466).
Die große Chance der Lebensmitte besteht darin, die Erfahrungen der Vergangenheit in der Gegenwart zu bündeln und sie als eine Art Treibstoff für die Zukunft zu nutzen. Wir müssen nicht krampfhaft an Überzeugungen festhalten, nur weil wir diese schon vor dreißig Jahren vertreten haben.
Grundsätzlich liegt der große Vorteil unserer säkularisierten Gesellschaft darin, dass sie toleranter geworden ist. Immerhin ist es in einem freien Land wie Deutschland möglich zu glauben, was man will, solange man nicht aufgrund seiner religiösen Überzeugung strafbare Handlungen begeht. Niemand kann mehr von Kirche oder Staat wegen seines Glaubens verfolgt werden. Und wir sollten auch alles tun, damit das so bleibt. Religiös oder spirituell zu sein ist im Gegensatz zu früheren Zeiten keine Selbstverständlichkeit mehr, sondern eine Möglichkeit. Und wer glaubt, an wen oder was auch immer, ist sich heutzutage auch bewusst, dass es zahlreiche Alternativen gibt. Zwar wird gerade von kirchlicher Seite die zunehmende Verweltlichung gern beklagt und leider auch einseitig dargestellt. Säkularisierung kann jedoch nicht unbedingt mit dem Verlust jeglicher Religiosität in Verbindung gebracht werden. Eher hat die Säkularisierung zur Folge, dass Spiritualität in ihrer Vielfalt wahrgenommen und gelebt wird. Auch die Tatsache, dass die Mitgliederzahlen der Kirchen in Deutschland seit Jahren rückläufig sind, ist kein Beweis dafür, dass die Menschen religionslos geworden sind.
Etwa acht Millionen Mitglieder haben die beiden Volkskirchen in Deutschland seit der Jahrtausendwende verloren. Die Gründe dafür sind vielfältig. Nur in sehr wenigen Fällen ist die Kirchensteuer daran schuld. Bei vielen ist der Glaube im Lauf ihres Lebens einfach verdunstet. Sie sehen deshalb keinen Sinn darin, weiterhin Mitglied in einer Kirche zu sein. Die weitaus größte Gruppe derjenigen, die der Kirche den Rücken kehren, besteht jedoch aus Menschen, deren Glaube ihnen nie abhandengekommen ist. Ihnen ist die Kirche als Institution fremd ­geworden, und sie sind mit den kirchenpolitischen Entscheidungen nicht einverstanden. Für Katholiken waren in der Vergangenheit zudem die vielen Missbrauchsfälle und andere Skandale wie der verschwenderische Lebensstil des früheren Limburger Bischofs Tebartz-van Elst der letzte Anstoß, ihrer Kirche Lebewohl zu sagen. Und wenn Papst Franziskus von konservativen Katholiken Häresie vorgeworfen wird, weil er kaum nennenswerte Reförmchen für wiederverheiratete Geschiedene einführt, darf sich niemand wundern, wenn sich die Menschen aus der Kirche zurückziehen und ihr Heil in einer Art IKEA-Spiritualität suchen, die sich aus verschiedenen Bauteilen zusammensetzt. Eine Kirche, die dem Leben fremd wird, muss auf viele Menschen verzichten.
Nicht wenige sind überrascht, wie unspektakulär ihr Austritt aus der Kirche über die Bühne geht. Niemand fragt sie nach ihren Beweggründen. Und manch einer fühlt sich erleichtert, wenn die Tür der Behörde hinter ihm ins Schloss fällt. Doch auch wer formell der Kirche weiterhin angehört, sich aber bewusst von erworbenen oder erlernten Glaubensvorstellungen verabschiedet, wird sich befreit fühlen, wenn er sein spirituelles Erwachen selbst in die Hand nimmt. Jetzt. In der zweiten Lebenshälfte.
Zum Weiterdenken
Gut möglich, dass Sie sich in der ersten Hälfte Ihres Lebens nicht sonderlich viele Gedanken um ein wie auch immer geartetes göttliches Wesen gemacht haben. Aber jetzt, in der Mitte Ihres Lebens, spüren Sie, dass Sie und die Zeit dafür reif sind. Warum sollten Sie Ihrer Neigung nicht folgen? Beschreiten Sie ungewohnte spirituelle Pfade! Aber bleiben Sie kritisch und behalten Sie immer – auch zu sich selbst – Distanz. Nur so bleiben Sie davor gefeit, Opfer von eher bedenklichen spirituellen Strömungen zu werden. Wenn Sie lernen, in sich hineinzuhören, werden Sie in sich spüren, was gut ist und was nicht. Machen Sie sich bewusst, dass der Weg zu einem gereiften Glauben höchst individuell ist und bei jedem anders verlaufen kann. Dieser Weg ist allerdings nie zu Ende, solange Sie leben. Unsere Selbstwerdung dauert bis zu unserem Tod. Und mit uns verändert sich auch unsere Spiritualität. Die Enttäuschung von Gott & Co. hat ihren Ursprung in der Vorstellung, dass der Glaube etwas Statisches sei. Doch unser Glaube ist nichts, das wir einmal erwerben und dann für immer besitzen. Wer das begreift, dessen Leben wird durch eine offene spirituelle Haltung bereichert werden.
Es kann sein, dass manche Menschen in Ihrem engeren Umfeld befremdet auf Ihre spirituelle Neuausrichtung reagieren. Aber dass alle Ihr Interesse teilen, werden Sie auch nicht ernsthaft erwartet haben. Das Mindeste, was Sie allerdings voraussetzen können, ist Toleranz. Sicher ist das allerdings nicht. Nicht nur, wenn Sie sich dem Islam zuwenden, müssen Sie damit rechnen, dass Ihre Mitmenschen Sie heftig kritisieren. Auch wenn Sie zur katholischen Kirche konvertieren oder erneut in sie eintreten, können Sie sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auf längere Diskussionsrunden freuen. In beiden Fällen ernten besonders Frauen mitleidige Blicke. Wie bei jedem Neuanfang in der Lebensmitte macht es Sinn, sich mögliche Konsequenzen vorher bewusst zu machen. Manchmal ist es besser, sich von früheren WeggefährtInnen zu verabschieden, als sich permanent für seine spirituelle Lebenshaltung rechtfertigen zu müssen. Je nachdem, in welche Richtung Sie Ihr Weg führt, werden Sie genügend Menschen finden, mit denen Sie sich austauschen können. Ob man Ihren neu gewonnenen An- und Einsichten offen gegenübersteht, liegt jedoch nicht unwesentlich an Ihnen selbst. Sofern es Ihre Mitmenschen interessiert, erzählen Sie ruhig, welche spirituellen Erkenntnisse Sie gewonnen haben. Aber vermeiden Sie es tunlichst, andere missionieren zu wollen. Vergessen Sie nicht: Spiritualität ist eine persönliche Erfahrung. Sie lässt sich nicht verordnen. Manche Menschen haben einfach kein Bedürfnis danach.
Radikalität des Nullpunkts – Die spirituelle Krise in der Lebensmitte
Alle Übergangszeiten verunsichern. Das gilt ganz besonders für die Lebensmitte, die mehr als andere Phasen von Veränderungen geprägt ist. Der Mystiker Johannes Tauler spricht übrigens nicht von Krise, sondern von »Gedränge«. Das trifft die Situation sehr gut. Denn viele Menschen haben in dieser Zeit den Eindruck, in die Enge getrieben zu werden. Doch die zweite Lebenshälfte ist keine Strafe, sondern eine Einladung, sein weiteres Leben bewusster zu gestalten. Ob es sich nun um eine Beziehungskrise, eine berufliche oder um eine spirituelle Krise handelt – all das lässt sich zu dem großen Wandlungsthema der Lebensmitte zusammenfassen: Wechsel der Lebensrichtung. Johannes Tauler war davon überzeugt, dass es Gott selbst ist, der den Menschen in die Krise der Lebensmitte führt, indem er das »Haus« des Menschen »umkehrt«, um ihn mit seinem verlorenen Selbst in Kontakt zu bringen: »Sobald der Mensch in dieses Haus kommt und Gott da sucht, so wird das Haus umgekehrt, und dann sucht Gott ihn (den Menschen) und kehrt dies Haus um und um, wie einer, der sucht: das eine wirft er hierhin, das andere dorthin, bis er findet, was er sucht« (Predigten II, 274).
Veränderungen sind gut, sofern sie den Menschen weiterbringen, sind etwas Göttliches, um in der Sprache der Religionen zu bleiben. Dagegen steht das Böse, das in vielen Religionen als personifiziertes Wesen auftritt, für die Negation des Lebendigen. Es unterbindet jedwede Veränderung und Erneuerung und hindert Menschen daran, ihr Potenzial zu entfalten und auszuschöpfen. Wandlung ist Wachstum. Das zu erkennen, fällt nicht immer leicht. Manche schrecken unbewusst davor zurück. Sie wehren sich gegen den Reifeprozess. An jede erreichte Stufe müssen wir uns erst gewöhnen, indem wir unsere Weiterentwicklung und die sich daraus ergebenden Veränderungen bewusst zur Kenntnis nehmen. Spirituelles Wachstum muss nicht unbedingt an eine Krise gekoppelt sein. Krisen verlaufen meist dramatischer und abrupter. Oft ist der spirituelle Wandlungsprozess eine schleichende Veränderung bestehender Einsichten und Überzeugungen. Trotzdem wird in diesem Buch oft von der spirituellen Krise die Rede sein, weil jede ernsthafte Auseinandersetzung mit spirituellen Fragen dem Menschen zu schaffen machen kann.
Veränderungswünsche werden aus Enttäuschungen geboren: Wir sind enttäuscht vom Leben, von Menschen, von uns selbst und von Gott. Auch wenn wir selbst die Veränderungen angestoßen haben, können sie uns heftig durchschütteln. Als besonders schwierig und verunsichernd empfinden wir jenen Zeitraum, in dem wir das Gefühl haben festzustecken. Es braucht Zeit, unter Umständen sogar viel Zeit, um diesen dunklen Punkt der Orientierungslosigkeit zu überwinden. Dieser »Nullpunkt« des Lebens ist Chance und Gefahr zugleich. Wer ihn bewusst erfährt, kann in Angst und tiefe Verzweiflung stürzen und schlimmstenfalls daran zerbrechen. Er kann aber auch als ein grundlegend Verwandelter aus dieser Zerreißprobe hervorgehen und mit einer veränderten Sicht auf sich selbst, auf die Welt und auf Gott das Leben noch einmal neu in Angriff nehmen.
Der Wechsel in eine andere Lebensphase kündigt sich meist durch eine gewisse Unruhe an. Wir sind unzufrieden mit dem Status quo, wissen aber nicht so recht, wie wir diesen ändern können. Das gilt auch für unsere metaphysische Sehnsucht, die sich in der Lebensmitte stärker als je zuvor meldet. Tauler charakterisiert Menschen in solchen Situationen so: »Das will er nicht; was ihn aber anzieht, das besitzt er nicht; und so befindet er sich zwischen zwei einander widerstreitenden Richtungen und ist in großem Weh und großer Drangsal« (Predigten II, 309).
Leider finden sich in der Tradition der Kirchen kaum konkrete Hilfestellungen, wie der Glaube im Lauf der persönlichen Entwicklung gewinnbringend integriert werden kann. Selbst Menschen, die sich in ihrer Kirche von Jugend an engagieren und ein ausgeprägtes Interesse an Religiosität haben, stehen spätestens als »Best Ager« ratlos vor der Frage, wie sie ihre gesammelten Erfahrungen, ihre Erfolge, aber auch ihr Scheitern und ihre Enttäuschungen im Licht des tradierten Glaubens sehen sollen. Wer in der Lebensmitte Bilanz zieht – und das tun wir alle –, muss zugeben, dass sich viele Hoffnungen nicht erfüllt haben. Das Wichtigste, was wir tun sollten, ist, die Schuld nicht bei den Umständen oder bei anderen Menschen zu suchen, sondern die alleinige Verantwortung für unser vergangenes und unser zukünftiges Leben zu übernehmen. Dazu gehört auch, sich mit den hinter uns liegenden Glaubensprägungen und ­-erfahrungen auszusöhnen, und sei die Erinnerung daran noch so bedrückend. Wir kommen nur dann mit uns selbst ins Reine, wenn wir Ja sagen zu dem, was war, ungeachtet dessen, ob es gut war oder schlecht. Nur so kann die spannende und – zugegeben – manchmal auch etwas schwierige Zeit in der Lebensmitte als spirituelle Befreiung erlebt werden.
Am Nullpunkt unseres Lebens spüren wir, dass wir nicht weitermachen können wie bisher und dass wir nicht nur etwas, sondern uns selbst verändern müssen. Insofern entbehrt der Nullpunkt nicht einer gewissen Radikalität. Radikal meint in der ureigensten Bedeutung des Wortes an die Wurzel (lateinisch: radix) zu gehen, gerade auch an die Wurzeln der menschlichen Existenz. Radik...

Inhaltsverzeichnis

  1. [Cover]
  2. [Titel]
  3. [Impressum]
  4. [Inhalt]
  5. [Zitat]
  6. Einstimmung
  7. Teil I: Abbrüche
  8. Teil II: Durchbrüche
  9. Teil III: Aufbrüche
  10. Anhang
  11. Über die Autorin