XVIII.
ICH MUSS AUF DAS PAPSTAMT VERZICHTEN
Der BBC-Fotograf, der am Tag von Papst Benedikts Rücktritt das Foto von der Kuppel des Petersdoms schoss, während sie von einem Blitz getroffen wurde, hat zugegeben, in Erwartung des Blitzeinschlags eine Dreiviertelstunde in dem Unwetter ausgeharrt zu haben. Er wollte den Gedanken vom Niedergang, vom Ende der Welt oder zumindest einer Epoche zum Ausdruck bringen.1 Das Foto machte Furore, ging rasch um den ganzen Erdball und wurde von vielen als symbolisches Bild für die Geschehnisse betrachtet. In Wahrheit jedoch ist es der theologischen Sichtweise Papst Benedikts und dem Geist, der ihn bewog, das Petrusamt niederzulegen, völlig fremd. Ähnlich schrieb der italienische Journalist Antonio Socci ein Buch, dessen Titel Non è Francesco2 (dt. Er ist nicht Franziskus) nahelegte, dass Benedikt XVI. gar nicht von seinem Amt zurückgetreten und Franziskus daher eine Art Usurpator sei. Auch diese Darstellung könnte dem Denken und Empfinden des emeritierten Papstes ferner nicht sein.
In seinem Leben ebenso wie auch in seiner Auffassung vom Christentum war er stets ein Befürworter der Reform in der Kontinuität, wobei man nicht vergessen darf, dass er in den lange zurückliegenden Tübinger Jahren eine Petition unterschrieben hatte, die die Dauer des Bischofsamtes auf einen festgelegten Zeitraum beschränken wollte3 – genauer gesagt auf acht Jahre, was zufällig genau mit den acht Jahren seines Pontifikats übereinstimmt. Das bedeutet weder, dass Ratzinger die ekklesiologische Sichtweise, die dieser Petition zugrunde lag, teilte, noch dass er sie auch für das Papstamt als gültig betrachtete. Sicher ist dagegen, dass der Gedanke an den Rücktritt ihn sowohl in seinen Jahren als Professor als auch in seinen letzten Jahren an der Glaubenskongregation begleitet hat. Und als er als Papst die italienische Stadt L’Aquila besuchte, die 2009 von einem schrecklichen Erdbeben heimgesucht worden war, hatte Benedikt den ausdrücklichen Wunsch, in die Basilika von Collemaggio zu gehen und das Pallium, das er bei seinem Amtsantritt empfangen hatte, auf dem Grab von Papst Coelestin V. niederzulegen – des Papstes, den Dante wegen seines »großen Verzichts« tadelte.
Die Seligsprechung Johannes Pauls II.
Im Juni 2005 genehmigte Benedikt XVI. in Abweichung von der Norm, die nach dem Tod eines Menschen eine Wartezeit von mindestens fünf Jahren vor der Einleitung eines möglichen Seligsprechungsprozesses vorsieht, den Beginn der diözesanen Untersuchung über das Leben, die Tugenden und den Ruf der Heiligkeit des Dieners Gottes Johannes Paul II. Der rasche Beginn wurde von den Gläubigen bereits am Tag der Exequien des polnischen Papstes von Gläubigen gefordert und vom Kardinaldekan Ratzinger gewissermaßen bestätigt, als dieser in seiner Predigt sagte: »Wir können sicher sein, dass unser geliebter Papst jetzt am Fenster des Hauses des Vaters steht, uns sieht und uns segnet«.4 Als er selbst Papst geworden war, genehmigte Benedikt nicht nur den vorgezogenen Beginn des Seligsprechungsprozesses, sondern versäumte auch keine Gelegenheit, um seine Bewunderung und Zuneigung gegenüber dem geliebten Vorgänger zum Ausdruck zu bringen.5 Und die Worte des neuen Papstes waren durchaus keine Höflichkeitsfloskeln, die den Umständen geschuldet waren.
Die beiden Päpste, die über 20 Jahre in der Leitung der Kirche zusammengearbeitet hatten, verband aufrichtige Freundschaft, Zuneigung und Bewunderung: ein Beispiel der Gemeinschaft, das in die Geschichte eingehen wird. Das rasch in Gang gesetzte Verfahren wurde dann normgemäß durchgeführt und Anfang 2011 abgeschlossen, als die Kardinalskommission die Gültigkeit eines entsprechenden Wunders anerkannte. Nun musste nur noch das Datum für die Feier entschieden werden, die für den 1. Mai desselben Jahres festgesetzt wurde. In der Predigt zur Seligsprechung zählte Ratzinger selbst die Gründe auf, die ihn zur Wahl dieses Termins bewogen hatten: Es war der Weiße Sonntag, der erste Sonntag nach Ostern, den Johannes Paul II. zur Feier des von ihm selbst instituierten Festes der göttlichen Barmherzigkeit bestimmt hatte. »Nach dem Plan der Vorsehung« starb Johannes Paul II. genau am Vorabend dieses Festtages.6 Außerdem war Mai der Monat der Gottesmutter, die Johannes Paul II. besonders verehrte, und es war das Fest des heiligen Josef des Arbeiters, Schutzpatron der Arbeiter, für die Karol Wojtyła sich als Erzbischof immer besonders eingesetzt hatte.
In seiner Predigt zur Seligsprechung ließ Benedikt sein ruhiges und sachliches Argumentieren beiseite, um sich von einem Anflug der Begeisterung hinreißen zu lassen. Johannes Paul II. habe mit der »Kraft eines Riesen« den Gläubigen die Begeisterung für den Glauben, die Kraft zum Zeugnis vermittelt. Lange Jahre hatte Benedikt ihm zur Seite gestanden und sich persönlich von seinem »Zeugnis des Glaubens, der Liebe und des apostolischen Mutes, das von einer großen Menschlichkeit begleitet wurde«7 überzeugen können. Er fuhr fort: »Sein beispielhaftes Beten hat mich immer berührt und erbaut: Er tauchte ein in die Begegnung mit Gott, auch inmitten der vielfältigen Obliegenheiten seines Dienstes«.8 Kurz gesagt: Papst Johannes Paul II. sei ein Heiliger gewesen, der das Volk Gottes über die Schwelle des dritten Jahrtausends geführt habe. »Seine tiefe Demut, die in der inneren Einheit mit Christus wurzelte, hat es ihm erlaubt, die Kirche weiter zu leiten und der Welt eine noch beredtere Botschaft zu geben – gerade in der Zeit, als seine physischen Kräfte abnahmen.«9 Für Benedikt war dies ein Tag der Freude und der Begeisterung – gleichsam eine Oase, in der es ihm endlich einmal gestattet war, den Blick von den dunklen Wolken abzuwenden, die sich über seinem Pontifikat zu verdichten drohten.
Man kann auf Gott nicht verzichten: Erneuter Besuch in Deutschland
Auf Peter Seewalds Frage nach seinen Apostolischen Reisen und den Jahren seines Pontifikats ganz allgemein gab Benedikt XVI. eine insgesamt positive Antwort: »Überall spürte man das Bewusstsein, dass die katholische Kirche lebt und kraftvoll ist«.10 Er verbarg jedoch nicht, dass es auch Enttäuschungen gab, vor allem in Europa, wo »die Säkularität sich weiter verselbständigt, Formen entwickelt, in denen sie den Menschen immer mehr vom Glauben wegführt«.11 Die größte Enttäuschung kam jedoch aus dem katholischen Deutschland, wo es »eine beträchtliche Schicht gibt, die sozusagen darauf wartet, auf den Papst einschlagen zu können«.12 Benedikt verlor jedoch nicht den Mut und nahm im Jahr 2011 die Einladung zu einem dritten Besuch in Deutschland an, auch wenn sich die Situation unter den Katholiken seit dem Beginn seines Pontifikates nicht wirklich verbessert hatte. Der Papst selbst wird dieses Thema in Freiburg bei einer Begegnung mit engagierten Katholiken ansprechen, bei der von einer selbstgenügsamen Kirche die Rede ist, die sich den Maßstäben der Welt angleicht.
Wo Gott ist, da ist Zukunft
Das vom Papst gewählte Thema für seine Reise – »Wo Gott ist, da ist Zukunft« – war eine Herausforderung für Berlin, für Deutschland, für Europa und zugleich eine Mahnung an jene, die glauben, auf Gott verzichten zu können. Den anspruchsvollsten Vortrag hält der Papst gleich nach seiner Ankunft in Berlin, am 22. September 2011, vor dem Deutschen Bundestag. Um die Notwendigkeit der Gegenwart Gottes im Leben des Einzelnen und der Völker zu beweisen, lädt der Papst zunächst dazu ein, über die Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaats nachzudenken. Für die Volksvertreter stellt sich die Frage: Wenn Politik die Suche nach der Gerechtigkeit ist, wie gelangt man dann zu der Erkenntnis, was gerecht ist? Die Frage stellt sich vor allem dann dringend, wenn es um Probleme geht, die die Natur des Menschen betreffen.
Hier könne man nicht auf das Gesetz von Mehrheit und Minderheit zurückgreifen – das positivistische Recht genügt nicht. Man muss der Natur und der Vernunft, also den klassischen Rechtsquellen, wieder Raum geben. Indem er einen Vergleich mit der Ökologie der Erde zieht, spricht Benedikt...