Teil 1: Die Sehnsucht nach ewigem Leben
Haben Sie Kinder? Haben Sie schon einmal versucht, einem Dreijährigen Salat zu verabreichen, wenn am Nachbartisch Pommes frites gegessen werden? Gerade Eltern reiben sich oft auf im Versuch, ihre Kinder möglichst vollwertig zu füttern, gegen den hartnäckigen Widerstand des Nachwuchses. Ein Ringen, das Mahlzeiten in Familien zu Machtkämpfen ausarten lässt. Das dafür sorgt, dass viele Menschen ihr Leben lang Dinge essen, die sie eigentlich gar nicht mögen, aber sie für gesünder halten, gesünder als das, worauf sie eigentlich Lust hätten. Mit schlechtem Gewissen verdrücken wir eine Currywurst, überzeugt, dass wir uns mit jedem Bissen schaden. Wir verkneifen uns das knusprige Croissant mit Marmelade – Weißmehl! Fett!! Zucker!!! – und frühstücken stattdessen tapfer Müsli, weil das doch bestimmt viel besser für unser Wohlbefinden ist. Eine ganze Industrie hat sich darauf spezialisiert, uns sündhaft teure Speziallebensmittel zu verkaufen, die uns angeblich gesünder machen. Dabei ist fast alles, was wir über die richtige Ernährung zu wissen glauben, leicht widerlegbares Halbwissen.
Um zu verstehen, warum unsere zentralen Ernährungsregeln so wenig stichhaltig sind, muss man das Umfeld betrachten, in dem sie entstanden sind. Was bis heute unsere Vorstellung von »gesund« und »ungesund« prägt, sind Thesen aus dem 19. Jahrhundert – aus einer Zeit also, in der etwa Vitamine unbekannt waren, in der es noch als völlig normale Behandlungsmethode galt, kranke Patienten zur Ader zu lassen, in der generell Mediziner und andere Wissenschaftler sehr wenig darüber wussten, wie unser Körper funktioniert und was wir brauchen, um gesund zu bleiben.
Heute kasteien und beschränken wir uns, in der Hoffnung auf ein längeres Leben, bessere Herz-Kreislauf-Gesundheit, um Krebs zu verhindern und Diabetes zu vermeiden, ohne dass gesicherte Erkenntnisse darüber vorliegen, ob uns die viel gepriesene gesunde Ernährung wirklich gesünder macht. Denn der Einfluss unserer Ernährung auf die Gesundheit ist viel geringer, als wir gemeinhin denken.
1. Abschied von vertrauten Regeln
An einem grauen Tag im November 2011 verwandelt sich die Studioküche von ARD-Fernsehkoch Tim Mälzer im Hamburger Schanzenviertel in eine Arztpraxis. 50 Männer im Alter zwischen 20 und 40 Jahren lassen sich Blut abnehmen. Sie sind Teil eines außergewöhnlichen Experiments: Unter fachlicher Betreuung des Endokrinologen Professor Peter Nawroth, Leiter der Medizinischen Klinik an der Universität Heidelberg, will Tim Mälzer herausfinden, ob unterschiedliche Ernährungsweisen messbare Folgen für den Gesundheitszustand von uns Menschen haben.
Vier Wochen lang werden die jungen Männer von Tim Mälzer und seinem Küchenteam bekocht werden, und zwar in drei Gruppen. Das Team der Universitätsklinik Heidelberg hat die drei Speisepläne so ausgearbeitet, dass sie sich in Sachen Fett-, Vitamin- und Kohlenhydratgehalt möglichst deutlich unterscheiden.
- Die erste Gruppe erhält das, was in unserer Gesellschaft gemeinhin als optimale Ernährung gilt: leichte Mittelmeerküche, vitamin- und ballaststoffreich, mit ungesättigten Fettsäuren aus kalt gepresstem Olivenöl und viel frischem Fisch.
- Die zweite Gruppe isst traditionelle deutsche Hausmannskost – deutlich fetter, relativ fleischlastig, mit herzhaften Klassikern wie Leberwurst, Rindsrouladen oder Königsberger Klopsen.
- Die dritte Gruppe ernährt sich nach landläufiger Meinung besonders ungesund. Sie bekommt morgens, mittags und abends nichts als Fastfood aufgetischt: Burger, Pommes und Co, noch fetter als die Hausmannskost – und natürlich komplett vollkornfrei.
Die drei Testgruppen nehmen die gleiche Energiemenge zu sich: In jeder Gruppe kommen pro Tag 2500 Kilokalorien auf den Tisch – etwa das, was ihrem körperlichen Tagesumsatz entspricht. Über die ganze Testzeit dürfen sie nur das essen, was ihnen in Tim Mälzers Studioküche zubereitet wird. Alle Probanden sind gesund und nicht übergewichtig. Derartige Studien werden in aller Regel mit männlichen Testpersonen gemacht: Bei Frauen sind durch den Monatszyklus die Hormonschwankungen zu groß. Um wissenschaftlich verwertbare Ergebnisse zu erhalten, hätte man in unserem Fall 50 Probandinnen finden müssen, bei denen die Monatsblutung am gleichen Tag beginnt. Die Ergebnisse der Untersuchung gelten jedoch für Frauen genauso wie für Männer. Denn der Stoffwechsel beider Geschlechter unterscheidet sich nicht so gravierend.
Im Labor der Heidelberger Universitätsklinik wird das Blut der Teilnehmer fortlaufend untersucht werden. Die Forscher nehmen insbesondere jene Werte unter die Lupe, die als Marker für ein erhöhtes Krankheitsrisiko gelten, etwa für Herzinfarkt, Schlaganfall, Arteriosklerose oder Diabetes, und die selbst in diesem relativ kurzen Zeitraum schon Veränderungen zeigen müssten, wenn denn die Ernährungsweise wirklich für diese Krankheiten verantwortlich wäre. Professor Nawroths These vor Start des Experiments: Trotz der extrem unterschiedlichen Speisepläne wird es am Ende der vierwöchigen Studienphase keinerlei Unterschiede im Blutbild der Probanden geben.
Die Studie ist mittlerweile publiziert. Nawroth hatte Recht. Egal, welche Parameter man betrachtet: Es gibt keine Abweichungen zwischen den Gruppen! Ob Cholesterin, Vitaminspiegel, die Versorgung mit Spurenelementen oder die Marker für ein erhöhtes Herz-Kreislauf-Krankheitsrisiko – die Blutwerte aller Teilnehmer sind gleich geblieben.
Nawroth beschäftigt sich als Chefredakteur einer der führenden Fachzeitschriften für Endokrinologie und Diabetes schon seit vielen Jahren mit den Ursachen für Erkrankungen. Er sieht in den Ergebnissen des Tests einen deutlichen Beleg dafür, dass es nicht die Zusammensetzung unserer Nahrung ist, die uns krank macht, sondern andere Faktoren. Sein Fazit: »Bei gesunden Menschen ist es erst mal wichtig, die Regeln zu lockern. Sie sollten beim Essen kein schlechtes Gewissen haben. Man muss ihnen den Druck nehmen. Sie dürfen essen, was sie wollen, aber alles eben in Maßen genossen. Die Unterschiede im Stoffwechsel zwischen den einzelnen Menschen sind viel größer, als die Unterschiede zwischen einzelnen Kostformen, und die Wirkung von psychosozialem Stress ist ohnehin sehr viel entscheidender als die von Ernährung.«
Entscheidend ist für Nawroth, neben der Menge, eine gewisse Abwechslung: »Ich wette, die Menschen können sich auch mit etwas vermeintlich Gesundem wie Möhren oder Tomaten umbringen, wenn sie gar nichts anderes mehr essen. Wenn man sich halbwegs abwechslungsreich ernährt und auf die Kalorien achtet, kann man nichts falsch machen.« Mit seinem Ansatz steht er keineswegs allein da. An der Universität Hamburg forscht Professor Ingrid Mühlhäuser. Die Gesundheitswissenschaftlerin und Fachärztin für Innere Medizin und Endokrinologie ist spezialisiert auf die Analyse von Studien. Sie besitzt einen guten Überblick über den Stand der Forschung und bestätigt: »Wenn man alle aussagekräftigen Studien betrachtet, die vorliegen, dann ist klar, dass diese keinen eindeutigen Vorteil zeigen konnten von fettreduzierter, gemüsereicher Ernährung.«
Die Studie von Professor Nawroth und Fernsehkoch Tim Mälzer wurde damals mit der Kamera begleitet. Ich war für Buch und Regie der Fernsehdokumentation über das Ernährungsexperiment zuständig. Nach der Ausstrahlung in der ARD brach ein Sturm los: Niemals zuvor habe ich auf einen Film so viel Zuschauerpost bekommen. Die Zunft der Ökotrophologen lief Sturm gegen die Botschaft, dass es keine gesunde Ernährung gebe. Vollkornapostel und Vitaminfreaks beschimpften mich – ich sei schuld daran, wenn sich nun massenweise Menschen falsch ernährten und so ins Grab essen würden. Auf zahllosen Partys habe ich seitdem immer wieder die gleichen Reaktionen geerntet: ungläubiges Staunen und heftigen Widerspruch. Eben weil die These, dass »gesunde Ernährung« so nicht existiert, alles auf den Kopf stellt, was wir von Kindesbeinen an als unumstößliche Regeln über richtige und falsche Lebensmittel gelernt haben.
Was wir glauben zu wissen
Ich kann diese Reaktionen verstehen. Ich war ja selbst mein ganzes bisheriges Leben von ganz anderen Wahrheiten ausgegangen. Ich habe zum Beispiel immer schon viel lieber Weißbrot gegessen als Vollkornbrot. Stets mit schlechtem Gewissen – weil Vollkorn doch als viel gesünder galt. Oder der Salat, der in meiner Kindheit fast immer als Beilage auf dem Tisch stand: Geschmeckt hat er mir nicht unbedingt, aber ich habe ihn brav gegessen – weil er doch so gesund ist. Als mein Sohn im Spielplatzalter war, hatten wir natürlich immer Karottensticks und Gurkenscheiben im Gepäck – nicht, dass er die gegessen hätte, es gab ja genug Mütter mit Keksen, denen er etwas abschmeicheln konnte. Und ich habe heimlich stark mit ihm sympathisiert: Ich fand die Kekse als Snack auch leckerer als rohe Karotten. Aber die Angst, dass das Kind womöglich vitaminunterversorgt sein könnte, schwebte über mir und meinen Freundinnen wie eine dunkle Wolke.
Wir alle kennen das Gefühl, mit einer Tüte Chips vor dem Fernseher zu sitzen und sie nur so halb zu genießen – böses Junkfood! Wer Schokolade isst, spricht von »Sünde«. Für Professor Nawroth liegt genau da das Problem: »Der Stress, den Sie empfinden, wenn Sie sich die Tüte Chips versagen, ist langfristig viel schädlicher für Ihre Gesundheit als die Chips selbst. Wenn Sie Lust auf Pommes frites haben, dann spricht nichts dagegen, genauso Eis oder Burger. Schädlich ist immer nur, wenn Sie zu viel davon essen. Und selbst gelegentliche Exzesse verkraftet unser Körper. Festessen gehören dazu, im Laufe des Jahres gleicht sich das wieder aus.«
In der Folge meines ersten Films habe ich sehr intensiv weiterrecherchiert – um meinen Kritikern zu begegnen, aber auch weil ich selbst neugierig geworden war. Immer wieder mündeten diese Recherchen in dieselbe erstaunliche Erkenntnis: Das, was uns von klein auf als Tatsachen über richtige und falsche Ernährung vermittelt wurde, ist durch nichts belegt. Der einzige Faktor, der sich wirklich messbar auf die Gesundheit auswirkt, ist starkes Übergewicht.
Also alles Unsinn? All die vielen Regeln, die wir brav befolgen – vergeblich? Das schlechte Gewissen beim Naschen – umsonst?
Was uns wirklich k...