Das Ende der Geduld
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Das Ende der Geduld

Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter

  1. 256 Seiten
  2. German
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Das Ende der Geduld

Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter

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Über dieses Buch

Jugendliche Gewalttäter – sie werden immer brutaler und jünger. Viele Menschen meiden mittlerweile bestimmte Straßen, Plätze und Stadtviertel sowie nächtliche Fahrten in öffentlichen Verkehrsmitteln. Eltern und Lehrer fürchten die Gewalt in ihren Schulen, Polizei und Sozialarbeiter kommen an ihre Grenzen. Die unbequeme und mutige Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig war schon lange nicht mehr bereit, dies hinzunehmen: "Wenn wir nicht rasch und konsequent handeln, wenn wir unsere Rechts- und Werteordnung nicht entschlossen durchsetzen, werden wir den Kampf gegen die Jugendgewalt verlieren." In den letzten Jahren haben sich die von ihr zu Recht angeprangerten Zustände republikweit nicht verbessert, sondern verschärft. Der unkontrollierte Zustrom von unbegleiteten jungen Flüchtlingen in den letzten zwei Jahren wird die Situation weiterhin verschärfen."Seit zwanzig Jahren arbeite ich in der Berliner Strafjustiz. Die längste Zeit war und bin ich als Jugendrichterin tätig. Meine Aufgabe besteht darin, Strafverfahren gegen junge Menschen zu bearbeiten. Ich übe meinen Beruf nach wie vor mit Überzeugung aus und möchte sinnvolle Entscheidungen treffen, die einerseits zur Reduzierung der Jugendkriminalität beitragen und andererseits dem Menschen, der sich vor Gericht zu verantworten hat, die Chance eröffnen, ein Leben ohne Straftaten zu führen. Seit längerer Zeit habe ich nicht mehr den Eindruck, beiden Zielen gerecht werden zu können." (Kirsten Heisig)Das ebenso provokante wie sachkundige Buch von Kirsten Heisig erschien bereits im Jahr 2010 und war ein Bestseller. Doch ist es heute aktueller denn je. Ergänzt mit einem Vorwort von Oberstaatsanwalt Rudolf Hausmann.

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Information

Die Situation der Schulen, der Jugendämter und der Polizei

Die Schulen in Risikobezirken – weshalb das System vor dem Kollaps steht

Vorausgeschickt sei, dass auch deutsche Kinder, besonders diejenigen aus problembelasteten Familien wie den anfangs erwähnten Lehmanns, häufig dem Unterricht fernbleiben, keinen Abschuss erlangen und sich auf ein Leben mit „Hartz IV“ vorbereiten. Es sind erschreckend viele. Umgekehrt gibt es bei sämtlichen Migranten Eltern, die sich sehr für ihre Kinder einsetzen und sie selbstverständlich in die Schule schicken, an Elternabenden teilnehmen und allgemein mit den staatlichen Systemen kooperieren. Allerdings zeichnet sich in den überwiegend von Einwandererkindern besuchten Schulen ein besonders düsteres Bild ab, weshalb ich mich vornehmlich, jedoch nicht ausschließlich mit diesen befasse.
Deutschland ist als kinderarmes Land besonders auf Zuwanderer und ihre Kinder angewiesen. Jedes zweite Kind in Berlin hat einen Migrationshintergrund. Die deutschen Großstädte werden aufgrund der demografischen Entwicklung in wenigen Jahren mehrheitlich von den eingewanderten Menschen bevölkert sein. Diese Entwicklung wird vermutlich auch noch in diesem Jahrhundert in ganz Deutschland stattfinden. Es ist deshalb unabhängig von Kriminalitätsrisiken durch mangelnde Bildung unerlässlich, die nachwachsende Einwanderergeneration zu fördern. Sie wird in den nächsten zwanzig Jahren dringend in qualifizierten Berufen, vor allem in Kitas und Schulen, bei der Polizei, bei sämtlichen Ämtern und in der Justiz, benötigt.
Kinder und Jugendliche aus Einwandererfamilien sind gegenwärtig an Berliner Gymnasien mit 20 Prozent stark unter- und dementsprechend an Hauptschulen erheblich überrepräsentiert. In Neukölln stellen sie im Durchschnitt 74 Prozent der Hauptschüler. Es gibt Schulen, an denen sich kein deutsches Kind mehr findet. Damit einhergehend wirkt sich aus, dass 95 Prozent der Kinder „lehrmittelbefreit“ sind, was nichts anderes bedeutet, als dass die Eltern sämtlich nicht berufstätig sind. Man hat für eine Grundschule in Neukölln errechnet, dass allein für die Familien, die ihre Kinder dort hinschicken, monatlich mehr als 400.000 Euro Transferleistungen aufgewendet werden müssen. Worum drehen sich in der Pause die Gespräche? Jedenfalls nicht darum, ob man dem Vater vielleicht beruflich nacheifern möchte – obwohl mir als Berufswunsch auch schon „Ich werde Hartz IV“ angeboten wurde – oder ob man in eine völlig andere Richtung strebt. Die Kinder gehen zur Schule und wissen nicht, weshalb. Bei den deutschen Schülern, die aus Familien stammen, die zum Teil in der dritten Generation von Sozialleistungen leben, verhält es sich ebenso.
Nun sollte man denken, die Schüler erscheinen, weil es eben eine Schulpflicht gibt, weil Schule zum Heranwachsen gehört oder einfach weil die Kinder wissbegierig sind. Letzteres ist, wie mir die Leiterin der Grundschule in der Köllnischen Heide, Frau Astrid Busse, versicherte, auch der Fall. Sie beobachtet, dass die „Kleinen“ sich in der Schule angenommen und wohl fühlen und es für sie nach eigenem Bekunden nichts Schlimmeres gibt als große Ferien. Zumindest dann, wenn nicht verreist wird, was vielfach der Fall ist. Dann ist Ödnis angesagt. Freizeitangebote werden in den Ferien staatlicherseits nicht in dem benötigten Umfang unterbreitet. Im Elternhaus ist die Beschäftigung mit den Kindern im Sinne von gemeinsamer sinnvoller Freizeitgestaltung oft unüblich. Es läuft den ganzen Tag der Fernseher, die Jungen machen, was sie wollen, die Mädchen helfen im Haushalt oder treffen sich daheim mit Freundinnen, die, wie die Eltern mir bei Gesprächen häufig vermitteln, aus der eigenen Ethnie stammen. In die Mädchentreffs, von denen es in den Problembezirken einige gibt, dürfen die weiblichen Kinder und Jugendlichen teilweise nur noch höchst ausnahmsweise und unter starker Kontrolle seitens der Familien ausweichen.
Diejenigen Familien, die bei Ferienbeginn in die Türkei oder – sofern nicht staatenlos – in den Libanon fahren, reisen teilweise vor Ferienbeginn ab und kehren weit nach Beginn des neuen Schuljahres wieder zurück. Dann ist die Klasse im Stoff schon auf und davon. Der Frust setzt an mehreren Punkten gleichzeitig ein. Bei Murat kommt es zu Fehlzeiten, die nicht selten in dauerhaftes Fernbleiben vom Unterricht münden, wenn er bemerkt, wie viel er bereits versäumt hat. „Schuldistanz“ heißt das jetzt, das Wort „Schwänzen“ ist nicht mehr so gebräuchlich. 20 Prozent der Hauptschüler in Neukölln und immerhin 100 Grundschüler sind von dauerhafter Schulabstinenz betroffen. Das zeitweilige Fernbleiben vom Unterricht ist noch deutlich verbreiteter. Bei den übrigen Kindern kommt Langeweile auf, wenn sich die Lehrerin verzweifelt bemüht, die Nachzügler wieder an das erreichte Niveau der Klasse heranzuführen. Ein echtes Programm für diese Situation gibt es nicht, denn die unerlaubte Verlängerung der großen Ferien wurde in manchen Bezirken geduldet, ohne dass hieraus etwas Greifbares folgte. Lange Zeit ging man darüber hinweg, was das Problem der auseinanderklaffenden Wissensstände vergrößerte. Außerdem ist es ein offenes Geheimnis, dass manch ein überforderter Lehrer nicht unglücklich ist, wenn ein sehr kompliziertes Kind, das den Unterricht stört, weil es sowieso nicht folgen kann, erst gar nicht erscheint. Selbstverständlich sollte dies nicht so sein – aber haben die Lehrer wirklich die volle Unterstützung ihrer Verwaltung bei der Bewältigung der Probleme? Nicht nur die Neuköllner Rütli-Schule hatte irgendwann kapituliert. Der Bildungsauftrag könne nicht mehr erfüllt werden, ließ die Schule verlauten. Hier wurde zwar viel Geld investiert, was aber insgesamt keine nachhaltige Problemlösung nach sich zog. Etwas „Rütli“ findet man in nahezu jeder Schule vor.
Anfang des Jahres 2009 haben 68 Schulen in Berlin-Mitte sich mit einem ähnlichen „Brandbrief “ an den Schulsenator gewandt. Dabei haben die Direktoren den Mut aufgebracht, auch die Schwierigkeiten im Umgang mit den migrantischen Kindern und Elternhäusern anzusprechen. Es folgte nach meinem Kenntnisstand ein Gespräch mit der Integrationsbeauftragten Maria Böhmer sowie mit der Schulverwaltung. Sicherlich werden mit Mitteln aus dem Konjunkturpaket das äußere Erscheinungsbild der Schulen verbessert, die Sanitäranlagen in Ordnung gebracht und die Dichte des sozialen Angebotes erhöht. Damit allein ist jedoch nicht auszukommen.
Mir schildern Lehrerinnen und Lehrer, dass die Kinder ohne Frühstück in die Schule kommen, keine Pausenbrote dabei haben, dürftig und für mitteleuropäische Verhältnisse meist zu dünn bekleidet erscheinen. Sie haben keine Bücher, Hefte und Stifte dabei, manche kommen bereits zur Einschulung ohne Begleitung. Die Grundschüler sind auch motorisch zurückgeblieben. Sie können teilweise nicht auf einem Bein stehen oder rückwärts laufen, sich nicht allein die Schnürsenkel binden oder mit einer Schere umgehen. Trotz dringenden Gesprächsbedarfs besuchen manche Eltern die Elternabende nicht, auch Einzelgespräche werden häufig verweigert.
Auf einer Gesamtkonferenz mit den Lehrkräften einer Schule war einmal vom Zusammenhang zwischen Schulversäumnis und Kriminalität die Rede und von der Notwendigkeit diesbezüglicher Aufklärungsarbeit. Als ich mich erbot, an Elternversammlungen teilzunehmen, um Präventivarbeit zu leisten, meinte der Direktor dazu nur: „Frau Heisig, wir können uns dann ja in einer Telefonzelle treffen, da sind wir dann wenigstens zu zweit.“
Mir wird immer wieder berichtet, viele Eltern seien es aus ihren Herkunftsländern gewohnt, dass man die Kinder mit dem Beginn der Schulzeit in die staatliche Obhut gibt und dass dort dann nicht nur gelernt wird, sondern zugleich auch die Erziehung stattfindet. Ich sehe aber nicht ein, dass wir an dieser Stelle des Problems verharren. Es ist den Eltern, die im Hinblick auf ihre sonstigen Angelegenheiten (wie die Sicherung des Aufenthaltes und des Bezuges staatlicher Leistungen) durchaus in der Lage sind, sich auf bei uns geltende Gesetze einzustellen, zu vermitteln, wie die schulischen Belange ihrer Kinder zu handhaben sind. Angesichts ihrer religionsbedingten Distanz zu Alkohol und Drogen sollte man annehmen, dass sie eher für verbindliche Absprachen zu gewinnen sind als so manche deutsche Eltern, bei denen der Alkohol- und Drogenkonsum ein fast unüberwindliches Problem darstellt.
Die dargestellten Nachlässigkeiten in der Förderung der Kinder werden sich fortsetzen, wenn den hartleibigen Eltern nach Ausschöpfung aller sozialen Angebote, die nach meinen Beobachtungen durchaus vorhanden sind, nicht deutlich gemacht wird, dass aus ihrer partiellen Verweigerungshaltung auch Konsequenzen erwachsen.
Aus meiner Sicht ist zum Wohle der nachwachsenden Generation ein besonderes Augenmerk auf die Durchsetzung der Schulpflicht zu richten. Hier ist zum einen die Schule selbst gefragt. Jedem Schulversäumnis ist nachzugehen. Man kann die Eltern anrufen, einen Brief schreiben, einen Hausbesuch machen, um überhaupt in Kontakt mit den Erziehungsberechtigten zu kommen. In der Praxis zeigen sich an dieser Stelle bereits erhebliche Schwierigkeiten. Ich habe mit einem Kollegen die Neuköllner Hauptschulen besucht, da wir Wert darauf legen, mit den Lehrkräften und nicht nur mit der Schulleitung zu reden. Die, die im Klassenraum stehen, kennen ihre Schüler am besten und wissen Problemlagen einzuschätzen. Uns wird berichtet, dass Anrufe bei den Eltern häufig entweder gar nicht entgegengenommen werden oder dass eine Sprachbarriere besteht. Über die kommt man am Telefon besonders schlecht hinweg. Briefe hingegen werden von den Schulen oft geschrieben – für meine Begriffe zu oft, denn es stellt sich immer wieder heraus, dass die Post von den Kindern abgefangen wird und die Eltern gar nicht erst erreicht. Oder aber die Sprösslinge händigen den Brief aus, wohl wissend, dass ihre Übersetzungsdienste in Anspruch genommen werden müssen. Dann wird aus dem Mahnschreiben bezüglich der Fehltage: „Hier steht, ich bin ein guter Schüler und werde sicher in die nächste Klasse versetzt.“
Manche Lehrkräfte schaffen es trotz der vielfältigen Probleme innerhalb der Klasse – denn es gibt ja nicht nur ein Kind, das nicht zur Schule kommt –, einen Hausbesuch zu machen. Auch hier erweist es sich nach Auskunft der Pädagogen oftmals als schwierig, Einlass zu bekommen, selbst wenn man sich vorher angekündigt hat. Findet der Lehrer Gehör, ist die Sprachbarriere mit ihren bereits dargestellten Tücken der lächelnd, jedoch unzutreffend übersetzenden Kinder das Haupthindernis. Und auch dann, wenn die Eltern alles verstanden und sogar Tee und Gebäck serviert haben, heißt das noch längst nicht, dass Achmed am nächsten Tag in der Schule ankommt. Manchmal interessieren sich die Eltern schlicht nicht dafür, ob das Kind zur Schule geht. Ein anderes Mal schicken sie den Kleinen los, er kommt jedoch nicht an. Oder er verlässt den Unterricht alsbald wieder.
Zwar enden nicht alle Jugendlichen, die nicht oder nur selten zur Schule gehen, als Straftäter. Umgekehrt ist aber durchaus ein Zusammenhang zu erkennen: Nahezu alle Mehrfachtäter sind Schulverweigerer. Deshalb gilt die Schule als eine entscheidende Stellschraube, einen Lebenslauf positiv zu beeinflussen.
In Berlin wird im Anschluss an unentschuldigtes Fehlen von mehr als zehn Tagen eine Schulversäumnisanzeige gefertigt. Diese richtet sich an das regional zuständige Schulamt. Zeitgleich sollte der sozialpädagogische Dienst des Jugendamtes eingeschaltet werden. Dieser wiederholt meist die bereits seitens der Schule vergeblich durchgeführten Versuche der Kontaktaufnahme, während das Schulamt ein Bußgeldverfahren gegen die Eltern einleiten kann. Wenn das Kind nach wie vor nicht in die Schule geht, kann eine zwangsweise Zuführung mithilfe der Polizei erfolgen. Hieran mag der unbefangene Leser einige Hoffnung knüpfen, jedoch ist diese meist zu enttäuschen. Die Berliner Polizei ist aufgrund ihrer personellen Ausstattung lediglich in der Lage, pro Kind maximal eine Schulzuführung im Schuljahr durchzusetzen – und selbst das ist lediglich der Optimalfall. Hinzu kommt, dass der Schulpflichtige lediglich von der Polizei zur Schule gebracht wird. Wenn er nach der ersten großen Pause wieder verschwindet, ist das „Fahrzeug mit neutralem Farbanstrich“, mit welchem die Zuführung unauffällig erfolgen soll, längst wieder weg. Alles geht dann oft den gewohnten Gang, heißt: Das Kind schwänzt weiter.
Das Berliner Schulgesetz sieht Bußgelder bis zu 2500 Euro vor, wenn Eltern ihre schulpflichtigen Kinder nicht zur Schule schicken. Ein Kollege und ich haben uns gefragt, wie dieses Gesetz in Berlin eigentlich umgesetzt wird. Zu unserer Überraschung stellten wir fest: in manchen Bezirken gar nicht. Neukölln führte zwar Bußgeldverfahren durch, jedoch versandeten diese bei den zumeist betroffenen ALG-2-Empfängern, weil sich die Ansicht verbreitet hatte, dass bei „Hartz IV“ nichts zu holen sei, weshalb die Bußgelder zwar verhängt, aber nicht vollstreckt wurden. Infolgedessen haben wir mit dem Schulamt gemeinsam eine andere Handhabung entwickelt und vereinbart, dass ALG-2-Empfängern ein Bußgeld in Höhe von 150 bis 200 Euro zugemutet werden kann. Wenn die Betroffenen bei Rot über die Ampel fahren, schützt sie „Hartz IV“ auch nicht vor dem Bußgeld. Werden die Bußgelder nicht bezahlt, kann das Gericht Erzwingungshaft bis zu sechs Wochen verhängen. Es ist den Jugendrichtern in Berlin gelungen, die Zuständigkeit für diese Verfahren an sich zu ziehen, denn der sachliche Zusammenhang zu unseren späteren jugendlichen Straftätern und der bei Ihnen häufigen Schulverweigerung ist zu offensichtlich. So lernt man die problematischen Familien bereits früher kennen als sonst und kann möglicherweise das Familiengericht einschalten, wenn sehr renitente Eltern überhaupt nicht mitarbeiten. Ich drohe im Falle der Nichtzahlung des Bußgeldes üblicherweise eine Woche Haft an. Meist wird das Geld dann bezahlt.
Manch überzeugter Sozialarbeiter kritisiert diesen Ansatz mit dem Argument, man bringe die Kinder durch die Sanktionen gegen die Eltern nicht zum Lernen, im Gegenteil werde die Familie durch die finanzielle Bestrafung noch zusätzlich geschwächt. Besonders dann, wenn die Eltern auch noch inhaftiert werden, entstehe mehr Schaden als Nutzen. Ich halte dem entgegen, dass es erlaubt sein muss, geltendes Recht auch anzuwenden. Es ist vom Gesetzgeber sicherlich bedacht worden, dass überwiegend sozial schlechtergestellte Elternhäuser von dem Gesetz getroffen werden. Dennoch ist die Vorschrift geschaffen worden. Dann ist sie auch durchzusetzen, denn sonst kommt der Staat als zahnloser Tiger daher. Nur wenn wir den Eltern nach fehlgeschlagener oder vergeblicher Sozialarbeit klarmachen, dass eine derartige Verweigerungshaltung auch repressive Konsequenzen nach sich zieht, ist die Rechtsordnung stimmig und hat die Chance, auch als für alle verbindlich begriffen zu werden. Die Eltern nehmen so zur Kenntnis, dass die Schulpflicht ernst zu nehmen ist und nicht ein bloßes Angebot darstellt, sondern dass die sie aufnehmende Gesellschaft Wert darauf legt, dass ihre Kinder gebildet werden.
Wir arbeiten seit Anfang 2008 in ganz Berlin in dieser Struktur. Eine Evaluation ist bisher nicht durchgeführt worden. Aber natürlich wäre zu überprüfen, ob die Kinder nach der Durchführung eines Bußgeldverfahrens häufiger in die Schule geschickt werden. Sicher ist dieser Ansatzpunkt nur ein Bestandteil eines Gesamtkonzeptes, das benötigt wird, um erfolgreiche, mündige Bürger aus der Schule zu entlassen. Hilfreich fände ich zum Beispiel, wenn ich auf die in der ersten Jahreshälfte 2009 beschlossene und zugleich politisch hoch umstrittene Schülerdatei zurückgreifen könnte, um nach dem durchgeführten Bußgeldverfahren zu prüfen, ob das Kind denn nun zur Schule geht. Kann ich aber nicht. Denn zum einen existiert die Datei noch gar nicht. Bislang ist auf der Ebene der Umsetzung des Gesetzes noch nichts Erkennbares geschehen. Es soll irgendwann eine Pilotphase geben – was immer das heißen mag. Zum anderen ist gesetzlich gar nicht vorgesehen, dass der Jugendrichter Zugang zu den Daten erhält. Also erwarten mich wieder umständliche Nachfragen bei anderen Verfahrensbeteiligten. Im Zweifel kann mir die JGH weiterhelfen. Ich frage mich: Was soll das? Warum kann eine derartig fundamentale Information nicht von einem Richter abgefragt werden, wenn er beispielsweise ein Strafverfahren gegen den Jugendlichen bearbeitet, von dem er durch das Bußgeldverfahren gegen seine Eltern weiß, dass schulische Probleme bestehen?
Ein gravierendes Problem im Bereich des Schulbesuchs ist der Zeitfaktor. Aus den Schulversäumnisanzeigen, die ich durch die Bearbeitung der Bußgeldverfahren gegen die Eltern zu sehen bekomme, ergibt sich sehr häufig ein derartig großer Zeitverlust, bis überhaupt auf die Nichtteilnahme am Unterricht reagiert wird, dass das jeweilige Halbjahr als verloren angesehen werden kann. Beispielhaft sei ein Vorgang erwähnt, der mich in der zweiten Jahreshälfte 2009 erreichte und bei dem die Versäumnisanzeige der Schule Anfang Februar 2008 gefertigt wurde. Der Schüler fehlte seit Anfang Dezember 2007. Die Lehrerin meinte, es fehle an häuslicher Unterstützung, wusste aber nicht, ob die Schuldistanz schon länger bestand, da ihr der Schülerbogen nicht zugänglich war. Telefonanrufe seien versucht worden, jedoch meldeten sich unter der angegebenen Nummer keine Angehörigen. Ein Hausbesuch sei von einem Mitarbeiter des Schulprojektes „2. Chance“ durchgeführt worden. Dann wurde ein Jugendamtsmitarbeiter eingeschaltet. Der Sozialarbeiter der „2. Chance“ kooperiere weiter mit dem Schüler, informiere den zuständigen Jugendamtsmitarbeiter und habe darüber hinaus einen an der Schule tätigen Schulsozialarbeiter dem Jugendamtsmitarbeiter und der Familie vorgestellt. Der gute Wille aller Beteiligten sei hier nicht in Zweifel gezogen, aber es lässt sich denken, dass alle diese Schritte wertvolle Zeit gekostet haben. Außerdem tritt bei Befassung mehrerer Personen mit ein und derselben Problemlage leicht der Effekt von „Einer wird wohl schon was gemacht haben“ ein. Meine Nachforschungen haben jedenfalls ergeben, dass der Junge inzwischen nicht mehr der Schulpflicht unterliegt und mit einem Abgangszeugnis „ausgeschult“ wurde. Es folgen sicher berufsvorbereitende Maßnahmen. Das Bußgeldverfahren geht auf diese Weise auch ins Leere. Wie gesagt, das Verfahren wurde mir erst in der zweiten Jahreshälfte 2009 vorgelegt.
Ein weiteres Beispiel: Ein Kind in der zweiten Klasse ist in den Sommerferien mit der Familie in die Türkei gereist und kehrt zu Beginn des neuen Schuljahres nicht an seine Schule zurück. Die Lehrerin schreibt einen Brief an die Eltern. Es antwortet die große Schwester, das Kind sei in der Türkei an einer schweren Bronchitis erkrankt und gegenwärtig nicht transportfähig. Ein ärztliches Attest werde vorgelegt, sobald die Familie zurückgekehrt sei. Das Kind erscheint weiterhin nicht. Es folgt ein zweiter Brief per Einschreiben mit einer Terminfestsetzung für ein Gespräch in der Schule. Die große Schwester behauptet, das Attest sei nunmehr unterwegs, das Kind hingegen weiter krank. Nach etwa einem Monat erscheint die Schülerin zwar. Die Direktorin beharrt jedoch auf dem Attest. Die besagte Schwester, die offenbar die behördlichen Dinge regelt, meint, sie habe nun zwar das Attest, müsse es aber zunächst übersetzen lassen. Der Hinweis, Letzteres sei nicht notwendig, wird ignoriert. Jetzt ruft die Schule an. Die kindliche „Familienmanagerin“ schreckt nicht davor zurück, nun anzugeben, die Dolmetscherin habe das Attest beim Umzug verloren und man sei dabei, ein neues aus der Türkei anzufordern. Zu einem späteren Zeitpunkt erscheint eine weitere Schwester in der Schule und behauptet, der türkische Arzt weigere sich, ein zweites Attest auszustellen. Ein Bußgeldverfahren wird zwar betrieben, jedoch lässt sich bei derartigen Strukturen denken, dass es nicht hilfreich sein wird. Die Familie wird weiter Ausreden benutzen und niemals mit der Schule kooperieren − alles auf Kosten des Kindes.
In einem weiteren Fall hatte ich es mit einer deutschen Mutter von vier Töchtern zu tun. In diesem Bußgeldverfahren ging es um das jüngste Mädchen. Alle Kinder hatten dieselbe Hauptschule besucht, und keines hatte bisher seine Schulpflicht erfüllt. Die Mutter behauptete gegenüber dem Jugendamt, die Tochter sei der Schule verwiesen worden und sie sei damit befasst, eine neue Schule zu suchen. Es verging Zeit, bis nachgefragt wurde. Dann stellte sich heraus, dass die Geschichte mit dem Verweis nicht stimmte. Die Schule hatte durch Briefe und Hausbesuche versucht, Kontakt zur Mutter aufzunehmen. Gegenüber den Lehrern wurde dann behauptet, das Jugendamt sei eingeschaltet, man komme gegenwärtig einfach nicht an das Kind heran. So warteten Jugendamt und Schule guten Gewissens aufeinander, bis das Schuljahr vorbei war. Das jüngste Mädchen hat das gesamte Schuljahr 2008/2009 mit Billigung seiner Mutter versäumt. Es hat nun keinerlei Chance auf einen Schulabschluss. Inzwischen ist die Tochter 16 Jahre alt. Aller Voraussicht nach bekommt sie bald das erste eigene Kind und das Trauerspiel beginnt von vorn. Ihre eigene Mutter zeigte sich hingegen verwundert, dass beim vierten Kind nun ein Gerichtsverfahren stattfinden müsse. Es sei ja vorher auch immer ohne Behelligung durch die Justiz abgegangen.
Beispiele wie diese zeigen, dass die Verhängung von Bußgeldern gegen die Eltern meist deutlich zu spät kommt, um bei diesen eine Verhaltensänderung zu erreichen, die für die Kinder während der Schulzeit noch hil...

Inhaltsverzeichnis

  1. Das Ende der Geduld
  2. Impressum
  3. Vorwort zur Neuausgabe – „Endlich passiert mal etwas“
  4. Vorwort
  5. Jugendkriminalität – Fallbeispiele und Statistiken aus zwei Jahrzehnten
  6. Der Jugendrichter – Zuständigkeiten, Möglichkeiten, Grenzen
  7. Die Gewaltdelikte der „Rechten“ und „Linken“
  8. Die Intensivtäter – und Jugendliche, die es werden
  9. Zwischenbilanz
  10. Die Situation der Schulen, der Jugendämter und der Polizei
  11. Zur Umsetzung richterlicher Weisungen und Anti-Gewalt-Maßnahmen bei freien Trägern und Projekten
  12. Neue Wege gehen
  13. Abschließende Empfehlungen
  14. Etwas Persönliches zu guter Letzt
  15. Dank
  16. Anmerkungen
  17. Informationen zum Buch
  18. Informationen zur Autorin