Schlussakkord
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Die letzten Monate mit Katja

  1. 272 Seiten
  2. German
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Die letzten Monate mit Katja

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

"Das Sterben ist nichts anderes als die Fortführung des Lebens." Diese Aussage der krebskranken Katja wird zum Schlüsselsatz für Henriette Kaiser, die ihrer Freundin auf dem Weg in den Tod beisteht. Mit viel Einfühlungsvermögen schildert die Autorin diese ungeheuerliche Reise, die sie als Begleiterin erlebt hat, und zeigt, dass es trotz aller Ratlosigkeit und Trauer, trotz des Schmerzes eine tiefe Bereicherung für das eigene Leben sein kann, das Sterben mitzuerleben.

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Information

Fünf Zimmer

I. Zimmer
Drei Wochen Krankenhaus

DIE SCHMERZEN

25. Januar 2002. Das Telefon klingelt. Katja – schon in München. Sie erzählt so schnell, dass ich kaum verstehe, was passiert ist: Das linke Bein schwoll an, auf Teneriffa konnte niemand sagen, warum. Deshalb gestern die überstürzte Rückkehr. Die hiesigen Ärzte diagnostizierten sofort eine Thrombose und gratulierten, dass sie den Flug überlebt hat. Dann stellten sie neue Metastasen fest. Mit dem bloßen Auge. Eine Computertomographie ist für morgen anberaumt. Ob ich heute noch ins Krankenhaus kommen könne?
Ich besuche Katja. Ihr Anblick fesselt mich. Sie ist braun gebrannt, erholt, wie man es nur von Meer, Sonne und Wind sein kann. Sie ist noch dünner als bei ihrem Abflug. Die Vierzig-Kilogramm-Grenze hat sie unterschritten. Eine zerbrechliche Anmut, die kaum noch etwas Irdisches hat. Im perversen Gegensatz dazu das geschwollene Thrombosebein, das sich wie der Mount Everest unter dem weiten Nachthemd emporwölbt. Und dieser aufgekratzte Pickel auf ihrem linken Nasenflügel.
Die Schmerzen müssen entsetzlich sein. Immer wieder zuckt Katja zusammen. Nicht nur das Thrombosebein schmerzt. Die Morphinpflaster wirken nicht mehr. Ein anderes Mittel kann aus irgendeinem Grund nicht verabreicht werden. Zuerst rege ich mich darüber auf, aber dann werde ich von den Auswirkungen der Schmerzen überwältigt. Innerhalb von zwei Tagen ist Katja blass, ihre Stimme ein Hauch. Kein Medikament kann gegen die Schmerzen aufgetrieben werden. Nur warme Vollbäder bringen ein wenig Entspannung.
Das trostlose Ende des Teneriffa-Aufenthalts, die eindeutige Verschlechterung auf allen Ebenen sind Schock und Läuterung zugleich: Es ist vorbei. Die bleierne Schwere, von der ich mich erholt glaubte, umhüllt mich auf der Stelle wieder. In dieser Dunstglocke gibt es keinen Abzug. Nur einen einzigen. Ihr Tod.
Eine Fachfrau für Thrombosestrümpfe kommt. Katjas Bein ist für ihre Strümpfe viel zu lang und viel zu dünn unterhalb des geschwollenen Oberschenkels. Weder in der verlockenden Farbe »Haut« noch in Weiß oder Schwarz kann sie fündig werden. Für Katja muss ein Strumpf genäht werden. Wir einigen uns auf »frisches Weiß«. Kopfschüttelnd misst die Fachfrau das Bein mehrmals nach. Katja und ich unterdrücken ein Kichern.
Sonst gibt es nicht viel zu kichern, wenn wir uns zwischen den Schmerzschüben im Flüsterton unterhalten. Die verzweifelte Sinnfrage keimt wieder auf. Warum sie, warum nicht ich?
Immer sei sie bereit gewesen, in allem einen Sinn zu erkennen, auch wenn sie darunter gelitten habe. Aber jetzt fühle sie sich außerstande, einen Sinn zu sehen. Die Antwort dröhnt in meinem Kopf, aber ich schweige. Ich kann nicht von purer Sinnlosigkeit, dem reinen Zufall reden. Gleiches gilt für alle Formen von selbst auferlegten Martern, mit denen man im gesunden Zustand so nett kokettieren kann. Nicht einmal lakonisches Achselzucken bringe ich zustande. Ich bin gesund. Meine Freundin muss sterben. Ich seufze und greife ihre Hand. Sie schließt die Augen, wir schweigen. Szenen, die ich in Indien erlebt habe, tauchen vor mir auf. Neben der Leichenverbrennung spielen Kinder, Kühe latschen herum. Uralte Männlein zelebrieren ein schlichtes Waschritual, während ein Esel auf den Treppenstufen zum Fluss stirbt und Teenager Kricket spielen. Die Sinnfrage erübrigt sich da. So ist es, das Leben. Alles findet gleichzeitig statt, alles hat seine Berechtigung, alles gehört dazu. Nichts muss weggeschoben, verdrängt werden. Schon gar nicht der Tod. Warum können wir das in unserer Kultur, in unserer Gesellschaft nicht so einfach sehen. Warum. Weil bei uns alles Tun, alles Geschehen einer Bewertungsskala von sinnlos bis sinnvoll unterliegt? Weil wir wertlos nennen, was sinnlos wirkt? Weil wir ein Schicksal eher annehmen können, wenn es sinnvoll scheint? Wenn es den selbst gestellten Erwartungen entspricht? Glück, Erfolg, Hab und Gut als Qualitätssiegel für das Leben? Unerreichte Pläne, versäumte Ziele als Fehler? Verdrängen wir den Tod, weil wir ahnen, wie brüchig dieses System werden kann? Übertreibe ich jetzt oder zeigt sich an dem hadernden Kampf meiner Freundin wirklich eine Dimension, eine Eigenart unserer ganzen Gesellschaft? Meine Freundin ist eingeschlafen. Ich ziehe meine Hand zurück. Sie spürt die Absicht und hält sie fest.

DAS MITTEL

Ich weiß nicht, wie Katja die Sinnfrage für sich geklärt hat. Aber sie spricht nicht mehr darüber. Nach einem besonders heftigen Schmerzschub sagt sie, sie wäre zum Selbstmord bereit. Nicht weil sie so etwas vorhätte, sondern weil sie nicht mehr weiß, was ein Mensch aushalten muss. Wir stimmen überein, dass es für Menschen in ihrem Stadium das Beste wäre, wenn die Ärzte ein Mittel bereitstellen dürften. Ein Mittel, das der Mensch dann einnimmt, wenn er in solch einer ausweglosen Situation nicht mehr kann. »Würdest du mir bei so etwas helfen?«, fragt sie. Ich schaue in ihre Augen und kann nicht erkennen, ob sie mich für das Jetzt fragt oder hypothetisch. Würde ich es schaffen, ihr Tropfen einzuflößen, wenn ich wüsste, dass sie dann einschläft und nie wieder aufwacht? Ich spüre, dass ich es vermutlich könnte. Allerdings müsste Katja mir zu erkennen gegeben haben, dass sie den Tod annimmt. Dass der Tod nicht nur die Rettung vor den Schmerzen ist, sondern dass sie mit dem Leben abgeschlossen hat und das Ende in Ordnung ist. So wenig ich mir anmaßen darf, diese moralische Forderung überhaupt zu denken, so sicher bin ich, dass das mein Ansatz wäre. Ich flüstere: »Ja, ich glaube schon«, und verschweige meine Bedingung. Katja zuckt wieder zusammen. »Soll ich nachschauen, ob das Bad frei ist?« Sie nickt. Froh, etwas tun zu können, widme ich mich der Aufgabe, im Krankenhaus die sanitären Räume zu suchen, und ersticke meine Gedankenverwirrung über die problematische Euthanasiedebatte im Zusammenhang mit dem verdrängten Tod als gesellschaftlichem Phänomen. Das Bad ist frei, eine Schwester kommt, um Katja zu helfen. Ich gehe nach Hause.

DAS ZEICHEN

30. Januar. Der Tag, an dem das Ergebnis der Computertomographie bekannt gegeben wird. Ich traue mich kaum, Katja anzurufen, wie ich es vor jedem meiner Besuche tue, um mich anzukündigen.
Katjas Stimme jubelt mir hell und fröhlich entgegen. Ein neues Schmerzmittel wirkt. Ihre Erleichterung springt sofort auf mich über, fast vergesse ich nach dem Ergebnis zu fragen. Beschwingt teilt mir Katja mit, dass ein Tumor die Niere bedrängt, einer auf der Leber sitzt, andere die Blase und die Scheide bedrohen. Die Scheide könne bald durchbrechen, wenn die Tumore weiter wachsen.
Das ist das endgültige Todesurteil. Das Zeichen, dass die Bestrahlung nichts erbracht hat. Das Zeichen, dass alles viel schneller geht, als wir geahnt haben. Wie kann Katja glücklich sein? Wie kann ich mich anstecken lassen? Wir müssten doch weinen. Aber wir weinen nicht.
Ich rase in die Klinik. Die Sonne lacht, der Himmel leuchtet hellblau. Auf ins Café gegenüber der Klinik. Dick eingemummelt lassen wir uns die Sonne aufs Gesicht scheinen. Wie in alten Zeiten. Während wir Cappuccino trinken, sagt Katja, dass ihr die Klarheit der Fakten allemal lieber ist als die quälende Ungewissheit, die sie auf der Insel aushalten musste. Als das Zerrissenwerden zwischen den Aussagen der Heilerin, dass sie gesund sei, und ihren eigenen Zweifeln. Katja ist so gut gelaunt, dass wir in Zukunftsplänen schwelgen. Vielleicht ziehen wir zusammen, vielleicht kann Jakob zu uns kommen, vielleicht … Irrational, vollkommen irrational. Ich dränge, nicht die Zukunft zu planen, sondern die nächsten Tage und Wochen. Will oder muss sie in der Klinik bleiben? Will oder kann sie bald in ihre Wohnung, in der zurzeit noch ein Untermieter lebt? Will oder soll sie zu ihren Eltern?
31. Januar. Liebe D.,
gestern gab es eine verrückte Wende. Es ist zwar definitiv der schlimmste Fall eingetreten, aber trotzdem gibt es Hoffnung.
Katja war die erste Woche in München so verzweifelt, so hoffnungslos, hatte so grauenhafte Schmerzen, dass ich sogar hoffte, dass das alles für sie ganz bald ein Ende hat. Man hatte schon ohne CT neue Metastasen entdeckt. Dann kam die CT dran und gestern eben das Ergebnis. Der Tumor ist gewachsen und hat gestreut. Es ist also alles eindeutig. Aber Katja war wie ausgetauscht. Die Ärzte haben endlich eine neue Schmerzmittelkombination gefunden, die anschlägt. Und Katja war so klar. Sie akzeptiert jetzt, wie auch immer das menschenmöglich ist, dass es keine Chance mehr gibt. Dadurch fühlt sie sich frei und hat neue Kräfte. Und freilich, vielleicht passiert auch noch ein Wunder. Es war endlich möglich, mit ihr das Jakob-Thema anzusprechen. Und deshalb bin ich seit gestern so erleichtert, obwohl der Fall derart schlecht steht. Sie sagte auch, dass sie unendlich froh ist, nicht mehr den Schwebezustand ertragen zu müssen. Am Anfang hatte der Teneriffa-Aufenthalt ja vielleicht einen Sinn, aber jetzt ist sie sehr erleichtert, wieder hier zu sein, bei ihren Freunden, der Familie. Sie war eindeutig zu lange dort. Ich bin ja ganz unruhig geworden ab Mitte Dezember.
Es ist komisch mit dem Empfinden von Zeit, welche Zeit stimmt, welche nicht mehr. Das spürt man ja manchmal. Und meistens irrt man sich nicht. Als ob es ein übergeordnetes Zeitmaß gäbe. Oder einen Takt, der alles bestimmt: die Länge, das Tempo, die Handlung, das Gefühl. Und wenn der Takt missachtet wird, dann stimmt etwas nicht, dann gibt es Probleme, dann … Wie auch immer. Alles Liebe.

DIE BADEWANNE 1

2. Februar. Katja macht einen »Krankenhausurlaub« bei ihren Eltern. Dort steht inzwischen ein Rollstuhl für sie, mit dem wir einen Ausflug ins »Adria« machen wollen. Endlich, endlich wieder ins »Adria«. Aber das neue Schmerzmittel versagt den Dienst. Katjas Mutter und ich versuchen den Thrombosestrumpf anzulegen. Das ist nicht möglich. Die Näher erkundigten sich immer wieder, ob die Maße stimmen. Die Maße stimmen. Das Bein ist so lang, die Wade ist so dürr. Aber man kann diesen kilometerlangen straffen Schlauch nicht überziehen, wenn jede noch so leichte Berührung die schlimmsten Schmerzen auslöst. Das Bein muss fortan mit elastischen Bändern gewickelt werden.
Katja möchte in die Badewanne. »Erschrecke nicht«, sagt sie. »Keine Sorge«, sage ich. Ich sehe auch durch die schlackernde Kleidung, wie dünn sie ist. Da kann der nackte Leib nicht viel Überraschung bieten. Ich helfe ihr hinüber ins Bad, beim Entkleiden. Sie setzt sich auf den Wannenrand, ich hieve die Beine in die Wanne und halte ihren Oberkörper beim Hinabgleiten ins Wasser. Dann sitzt Katja. Ich sehe sie an. – »Ich muss mal aufs Klo.«
Ich verriegle die Toilettentür hinter mir. In mir brüllt eine Stimme: Das ist nicht Katjas Körper. Dieser Körper gehört ihr nicht mehr. Er gehört der Krankheit. Er gehört dem Tod. Da sitzt Katjas Tod in der Badewanne.
Ich sprenge kaltes Wasser auf mein Gesicht und atme tief durch. Dann gehe ich zurück ins Bad, nehme den Schwamm und streiche über Katjas Rücken. Der Tod pocht unter meinen Fingern. Er lacht. Frisst, schmatzt, räkelt sich. Fleckige Beulen, Fratzen durch die unzähligen Spritzen. Hieronymus Bosch, Alien, Pest, Verwesung …
Uns beiden tut die Berührung gut. Katja entspannt sich ein wenig, ich kann den Schrecken erspüren, ertasten. Die Rollstuhlaktion ins »Adria« wollen wir nachholen. Ja, das wollen wir.
Ein paar Stunden später, in meiner Wohnung, sehe ich es deutlich vor mir: Ostern. Zu Ostern, Ende März stirbt sie. Spätestens im April. Eine Katja im Mai kann ich mir nicht vorstellen. Es gibt keine Katja im Mai. Jetzt ist der 2. Februar.
Ich bin schockiert. Ich habe doch überhaupt keine Erfahrung mit Menschen in einem derartigen Zustand. Vielleicht kann sie noch zwei Jahre leben, vielleicht nur eine Woche. Ich weiß es nicht. Ich brauche eine fachkundige Aussage, weil ich Angst habe, mit meiner Vision ihren Tod zu beeinflussen. Auch wenn ich nicht wirklich daran glaube, dass Gedanken solch eine Wirkungskraft haben können. Aber wie soll ich Katja fortan begegnen. Ich rufe unseren Ärztefreund an. Er weiß sicher Bescheid, weil seine Freundin im Behandlungsteam von Katja ist. Natürlich zögert er. Kein seriöser Arzt gibt diesbezüglich konkrete Angaben. Das darf er nicht, das kann er nicht. Aber dann nuschelt er rasch, dass Katja den Jahreswechsel nicht erleben wird. Ich bin überrascht, so lange noch. Er widerspricht nicht, als ich ihm meine Eindrücke schildere.
Die Bestätigung gibt mir Ruhe, auch wenn ich mit jeder Pore hoffe, dass Katja diesen Mai erlebt, den Mai im nächsten Jahr, in fünf Jahren, in dreißig Jahren.
5. Februar. Lieber T.,
ob ich mit dem Rauchen aufgehört habe? Ha! Ich qualme, was das Zeug hält. Plane nächsten Gesundheitsstart am Aschermittwoch, da komme ich von der Berlinale zurück, zu der ich am Freitag fliege. Aber ich habe mordsmäßig gut gearbeitet. Es geht also voran, wenn auch immer noch mit genügend Spannungsmomenten.
Jetzt zu Katja. Ich sehe sie fast täglich. Und wenn ich ehrlich bin, kann ich auch dir nur empfehlen, möglichst bald nach München zu kommen. Ich kenne mich mit Krebsendkämpfen nicht aus, aber …
Der Tumor ist gewachsen. Sie hat neue Metastasen. Auch in der Leber. Sie verliert sehr viel Blut durch den Urin. Die Niere streikt. Sie ist erbärmlich schwach und dürr. Ich weiß nicht, wie lange ein derart schwacher Körper diese Qualen mitmachen kann.
Aber sie hat inzwischen einen Rollstuhl. Das ist schon mal positiv. Da kann man ein bisschen mit ihr rumgurken. Am Wochenende kommt Jakob nach München. So schlimm es um Katja steht, sie wirkt meist sehr gefasst, sehr ruhig. Natürlich hegt sie noch Hoffnung auf ein Wunder, aber sie hat die schwierigste Runde geschafft, die man da schaffen muss. Sie kann sich irgendwie auf das Sterben einstellen. Ich weiß nicht, wie man das kann. Aber das scheint überhaupt das Wichtigste zu sein, das man während so einer Krankheit hinkriegen muss. Freilich hat sie noch schwache Momente. Nur zu verständlich.
Wir anderen versuchen, uns darauf einzustellen. Und wir versuchen, ihr alles ein bisschen leichter zu machen. Außerdem muss man sehen, dass man ihr möglichst viele schöne Dinge beschert. Wozu sie Lust hat. Wenn nur die Schmerzen nicht wären. Die sind das Hauptproblem. Es tut mir leid, dass die Nachrichten aus München nicht positiver sind. Aber es hilft ja nichts. Es ist, wie es ist. Alles Liebe und bis hoffentlich bald.

WOHIN?

Katja wird zum Spielball der Schmerzen. Und wir mit ihr. Kaum hat man sich auf ihre positive Stimmung eingestellt und baut schüchterne Hoffnungen auf, wird man mit ihr in tiefe Abgründe geschleudert. Kaum lässt man die finstersten aller Gedanken zu, geht es ihr wieder besser und man schämt sich für den eben gehegten Pessimismus.
Neben diesen Schmerzen, die aus nach wie vor unverständlichen Gründen kaum behandelt werden können, gibt es noch ein anderes Problem. Katja ist austherapiert. Die Bestrahlung war die letzte Möglichkeit der Schulmedizin. Sie kann also nicht auf unbestimmte Zeit in der Klinik bleiben, die nicht darauf eingerichtet ist, eine Pflegestation zu sein. Schon gar nicht kann immer ein Einzelzimmer für sie freigehalten werden, was bisher geschehen ist, obwohl Katja nicht einmal privat versichert ist. Mit einem Wort: wohin? Katja möchte in ihre Wohnung. Aber die ist augenblicklich noch untervermietet. Außerdem liegt sie im dritten Stock und es gibt keinen Lift. Sie kann die Treppen auf Dauer nicht bewältigen, so viel ist sicher. Die Wohnung ihrer Eltern ist eindeutig geeigneter: Hochparterre, ein freies Zimmer für Katja, Zugang zu einem hübschen Garten. Aber Katja will nicht zu ihren Eltern. Sie hat dort das Gefühl, noch kranker zu sein, als sie es ohnehin ist. Sie fühlt sich zurückversetzt in ihre Kindheit, was sie nicht will. Außerdem glaubt sie, dass sie nicht willkommen sei. Ihr Vater, der vor kurzem Leukämie hatte, sei dagegen. Ich kann das beim besten Willen nicht so sehen. Aber auch ich spüre, dass die Lösung mit der elterlichen Wohnung nicht gut ist. Ich weiß nicht, warum. Erst später werde ich es begreifen. Ich höre mir Katjas Bedenken an. Ganz klar, da tauchen angestaute Problematiken auf, aus der Kindheit, familiäre Angelegenheiten, die jeder Mensch in irgendeiner Form mit sich herumträgt. Aber ich bin außerstande einzugreifen. Das ist ihre Familie. Und sie hätte mit ihrer Familie wahrlich mehr Pech haben können.
Ich denke über eine alternative Lösung nach und rufe eine andere Freundin von Katja an, die sich auch intensiv um sie kümmert. Julia-Anna und ich stellen fest, dass wir alle, auch Katjas Ex-Freund, im dritten, vierten Stock ohne Lift, in letztlich zu kleinen Wohnungen leben. Niemand in unserem Bekanntenkreis hat ein Haus oder Ähnliches, wo man Katja einquartieren könnte. Wir überlegen, ob wir eine Wohnung im Erdgeschoss für Katja anmieten. Aber dann unternehmen wir nichts in diese Richtung. Irgendetwas hindert uns, eine Vorahnung vermutlich, auch wenn wir sie nicht aussprechen.
7. Februar. Lieber T.,
ich denke, du hast mich richtig verstanden. Sicher wird es noch ein paar Monate mit Katja gehen, aber nicht mehr viele. Außer, ein Wunder passiert. Ich nehme momentan jeden Tag als Geschenk. Was etwas pervers ist, weil Katja grauenhafte Schmerzen...

Inhaltsverzeichnis

  1. [Titelinformationen]
  2. Impressum
  3. Prolog
  4. Krebsausbruch
  5. Metastasen
  6. Fünf Zimmer
  7. Danach
  8. Eine Einheit
  9. Dank
  10. Nachwort
  11. [Informationen zum Buch]
  12. [Informationen zur Autorin]