1. Little Brain – Big Brain
»Pupsforschung« – das war noch das Mildeste an Geringschätzigkeit, das wir von unseren Kollegen zu hören bekamen, als wir vor rund 35 Jahren begannen, uns für den Darm zu interessieren. Besser gesagt für das Nervengeflecht, das sich in seiner Wand befindet und das damals »terra incognita« war, wissenschaftliches Neuland und unbekannter als der letzte Winkel des Amazonas. Von einem »zweiten Gehirn« im Bauch war noch lange nicht die Rede, und der »Darm mit Charme« der jungen Science-Slam-Autorin Giulia Enders war noch kein Welterfolg, als wir uns aufmachten, eine Region zu erkunden, die in vielen Heilkunden als Zentrum des Körpers gilt – den Verdauungstrakt.
Der unappetitlich anmutende Schlauch schien damals vielen unserer Kollegen wenig geeignet, um wissenschaftlichen Ruhm zu erlangen. Einer der Ersten, die den Darm systematisch untersuchten, war der Schweizer Stadtarzt Johann Jakob Wepfer (1620–1695). Doch erst ab dem 19. Jahrhundert gingen einige Pioniere wie der britische Chirurg Baron Joseph Lister (1827–1912) der Ursache auf den Grund, indem sie den Bauchraum genauer untersuchten. Dort fanden sie ausgedehnte Nervengeflechte – wie die Breslauer Anatomen Georg Meissner (1829–1905) und Leopold Auerbach (1828–1897) beim Zerlegen eines Stückchen Darms. Seither sind die beiden Hauptteile des enterischen Nervensystems (enteron = griech. Darm), der Meissner- bzw. Auerbach-Plexus, nach ihnen benannt.
Doch trotz dieser spannenden Entdeckung blieb die Darmforschung lange auf die Frage beschränkt, wie das, was man oben in den Verdauungstrakt hineinsteckte, weitertransportiert wurde und unten wieder herauskam.
Erst nach und nach wurde deutlich, dass diese eher physikalische Fragestellung nur ein Teil eines komplexen und komplizierten Schaltwerks war, das zu großen Teilen autonom und unabhängig vom Gehirn funktionierte und viele lebenswichtige Funktionen erfüllte. So führte die anfangs dominante Motilitäts-, also Bewegungsforschung auf die Spur eines faszinierenden Universums, das heute zu einem der spannendsten Forschungsgegenstände der Medizin gehört, weil es noch ganz andere Bereiche als die Verdauung berührt – nämlich Immunologie, Genetik, Psychologie und Neurologie.
Damals jedoch brauchte es schon Pioniergeist, um sich des Darms anzunehmen. Wir zählen uns deshalb nicht ohne Stolz zu den »Vätern« dieser Forschungsrichtung – schließlich haben wir damals, als Forschungsfrischlinge, eine Gruppe »junger Wilder« um uns geschart, die ähnlich wie wir keine Scheu vor diesem abseitig anmutenden Thema hatten. 1989 gründeten wir »Little Brain Big Brain« (LBBB), eine Vereinigung junger Forscher, die alle an den vielen Rätseln knobelten, die sich rund um die Verdauung und das Nervengeflecht des Darms stellten. Aus den Kongressen, die wir alle zwei Jahre international veranstalteten (und die bis heute stattfinden), schälte sich eine Gruppe von Begeisterten heraus, von denen heute noch viele das Fach bevölkern, das nach einer langen Anlaufzeit erst jetzt Renommee erlangt. Denn es stellt sich heraus, dass dieses ganz neue Einblicke in den Körper erlaubt: die Neurogastroenterologie.
Bauch-Biografien
Uns selbst hat dieses Thema nie losgelassen. Unsere unterschiedlichen Arbeitsschwerpunkte haben unsere Neugierde eher befruchtet als behindert, denn die Neurogastroenterologie – die Wissenschaft von der nervlichen Kontrolle der Magen-Darm-Funktionen durch das enterische wie das zentrale Nervensystem – ist ein interdisziplinäres Querschnittsfach, das macht es ja gerade so spannend. Entsprechend unterschiedlich sind auch unsere Biografien: Michael Schemann zum Beispiel wollte im baden-württembergischen Hohenheim Medizin studieren, wo man in Kombination mit der Agrarbiologie dem Numerus Clausus entkommen konnte. Dort begegnete er damals bereits der Welt der Bakterien, die in der Landwirtschaf – aber auch im Darm – eine große Rolle spielen. Bevor er jedoch Arzt werden konnte, gab die Universität den Medizinstudiengang auf – gut, dass Michael längst eine Leidenschaft für die Humanbiologie entwickelt hatte. Zu seinem wichtigsten Lehrer wurde Hans Jörg Ehrlein, ein Tierphysiologe und der erste Wissenschaftler, der computerbasierte Auswertungen von Darmbewegungen machte. Am Verdauungstrakt von Hunden studierten die beiden, wie schnell sich deren Magen entleerte.
Eigentlich träumte Michael davon, sich einen Arbeitsplatz in der Schweiz und eine Wohnung am Lago Maggiore zu suchen. Aber sein jugendlicher Hedonismus wurde rasch von der Neugier besiegt, die das neue Forschungsgebiet in ihm weckte. Nach der Promotion wurde sein Post-Doc-Antrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft genehmigt, und schon fand sich Michael in den USA wieder, wo wichtige Pioniere auf dem Gebiet der Neurogastroenterologie tätig waren.
Nach Aufenthalten an der Ohio State bei Jackie Dale Wood und an der Columbia University bei Michael Gershon kam Michael mit einem Heisenberg-Stipendium nach Deutschland zurück. Nach einigen Jahren Grundlagenforschung am Max-Planck-Institut für physiologische und klinische Forschung in Bad Nauheim und an der Tierärztlichen Hochschule Hannover wollte er schließlich wieder den Bogen zurück zur Medizin schlagen und die Ergebnisse seiner Forschung für Patienten fruchtbar machen. Seit 2002 ist Michael deshalb Ordinarius für Humanbiologie an der Technischen Universität München und hat sein Labor in Weihenstephan, einem international anerkannten Zentrum für »Life Science«.
Thomas Frielings Karriere als Neurogastroenterologe begann mit Wagemut und Mozartkugeln. Bereits vor seiner abschließenden ärztlichen Prüfung hatte er in der Neurologie an der Uniklinik Düsseldorf Methoden gelernt, wie man »evozierte Potenziale« erzeug – also Nerven außerhalb des Gehirns so stimuliert, dass man eine Antwort darauf als Hirnströme messen kann. Das wollte er jetzt auch in der Gastroenterologie anwenden, wo eigentlich nicht wirklich klar war, was zwischen Nahrungsaufnahme und -ausscheidung passierte, wie die Dynamik des großen Verdauungsorgans zustande kam.
Das aber hielten Neurologen damals für unmöglich. Nervenreize nämlich, die vom Gehirn registriert werden, laufen mit einer Geschwindigkeit von 100 Metern pro Sekunde (das sind 360 km/h!) durch den Körper. Im Darm jedoch sind sie tausendmal langsamer, denn allzu hektische Reaktionen tun dem Verdauungssystem nicht gut. Überhaupt interessierten die Neurologen sich damals nur für »richtige« nervliche Vorgänge, am besten von den höheren Zentren des Bewusstseins ausgehend. Schon entwicklungsgeschichtlich ältere und einfachere Teile des Gehirns wie etwa der Hirnstamm oder selbst das Rückenmark waren keine beliebten Forschungsgegenstände, geschweige denn so etwas scheinbar Primitives wie das Nervengeflecht im Bauch.
Ähnlich einseitig orientiert war damals auch die Gastroenterologie, die Magen-Darm-Kunde. 90 Prozent ihrer Inhalte wurden von Hepatologen, den Leberexperten, abgedeckt, den Rest übernahm die Endoskopie. Das sensorische Nervensystem war schlicht kein Thema. Thomas ließ das keine Ruhe, auch seinem Kollegen Paul Enck nicht, damals junger medizinischer Psychologe und gerade aus den USA von einem Forschungsaufenthalt zurückgekommen, wo die Horizonte der Wissenschaft weiter gespannt waren als in Deutschland.
Pauls Interesse am Magen-Darm-Trakt war schon als Student in Hannover geweckt worden, durch die Visiten in der Klinik. Er lernte zum Beispiel eine jüngere Patientin kennen, die jedes Mal, wenn ihre Mutter das Zimmer betrat, sofort erbrach. Sie war dünn, ja, aber nicht essgestört – doch immer, wenn sie eine Mahlzeit zu sich nehmen wollte, bekam sie schmerzhaften Durchfall. Deshalb begann sie verständlicherweise, Nahrung zu vermeiden. Man hielt sie für psychisch krank und behandelte sie wie eine Essgestörte. Paul jedoch fragte sich, ob da nicht doch neben dem psychischen Reiz, den die Mutter darstellte, auch noch etwas Physiologisches im Darm vorliegen könnte. Das aber interessierte damals im Ärzteteam niemanden. Heute würde man den Darmbeschwerden auch psychisch Kranker mehr Aufmerksamkeit schenken.
Schokokugeln als Sonden
Dieser Vorfall hatte Pauls Unzufriedenheit mit der Psychosomatik geschürt, wie sie in der Universitätsmedizin praktiziert wurde. Sollten die Psychologen nur ihren Theorien nachgehen, die Neurologen nur lachen – Thomas und er wollten selbst herausfinden, was Sache war. Das waren ganz einfache Versuche mit geringen technischen Mitteln und Versuchsanordnungen, die man heute durch keine Ethikkommission mehr bekommen würde. Thomas hatte damit angefangen, zuhause Bindfäden in Schokolade-Kugeln zu versenken und diese dann zu schlucken – seine Frau verließ bei diesen Selbstversuchen immer entnervt das Haus und ging spazieren, weil sie Angst hatte, Zeugin seines Erstickungstodes werden zu müssen …
Aber Wissensdurst verlangt eben nach Opfermut, und nach den ersten erfolglosen Versuchen mit Bindfäden und Schokolade fanden Thomas und Paul dann auch heraus, wie sie Sonden mit Elektroden versehen mussten, um Potenziale abzuleiten. Und es funktionierte! Auch in der Speiseröhre und im Enddarm. Als sie die Ergebnisse ihrer Versuche publizierten, erregte das international einiges Aufsehen, und Don Castell, der »Papst« der Speiseröhren-Forschung in den USA, übernahm die Methode.
Als Nächstes wurden mechanische Pumpen zur rhythmischen Dehnung des Darms per Ballon konstruiert. Die beiden Geheimniskrämer schlossen sich zu ihren wagemutigen Selbstversuchen nachts und ohne Zeugen im Labor ein, um ihr Gerät an sich selbst zu testen. Paul zum Beispiel hat einmal im Labor auf einer Liege übernachtet, weil er herausfinden wollte, ob er eine Sonde ohne die Hilfe eines Endoskops über den Magen in den Dünndarm bringen könnte. Also schluckte er ein kleines Gewicht aus Metall und schob die unten beschwerte Sonde alle paar Minuten etwas weiter in seinen Körper, bis er einschlief. Am nächsten Morgen, bei der Röntgenkontrolle, gab es dann große Aufregung, denn die Aufnahme zeigte, dass sich die Sonde so in seinem Magen verwickelt hatte, dass sie sich weder hinauf- noch hinunterbewegen ließ. »Jetzt müssen wir operieren«, sagte der Radiologe entsetzt, doch mit viel Geduld und Drehen und Wenden des Probanden Paul gelang es dann doch, den wissenschaftlichen Fremdkörper in seinem Magen zu entwirren und durch die Speiseröhre wieder herauszuziehen.
Auch Michael Schemann, damals im Team von Jack Wood an der Columbia University, kam im Übrigen am Sondenschlucken im Selbstversuch nicht vorbei, erst recht, als Thomas Frieling als wissenschaftlicher Partner in sein Labor einzog und es später auch übernahm – neben dessen Motorrad.
In gewisser Weise waren die Anfänge der Neurogastroenterologie also eine »Easy Rider«-Bewegung. Wir waren Grenzgänger, die es sich mit allen Mainstream-Domänen der Medizin verdorben hatten, weil wir es wagten, Blicke über den Zaun zu werfen. Das war und ist riskant, denn in den ordentlich aufgeteilten Terrains der Medizin bleibt eigentlich kein Raum für Niemandsland. Und selten genug Geld. Wir hatten das Glück, dass die Deutsche Forschungsgemeinschaft mehrfach unsere Forschungsanträge unterstützte. Und wir hatten den Mut, mit »Little Brain Big Brain« ganz konsequent auf den wissenschaftlichen Nachwuchs der Gastroenterologie zu setzen – und an den Altvorderen vorbeizuziehen, die jeweils auf ihre Spezialgebiete fixiert waren.
Heute ist das Nervengeflecht im Bauch für viele Disziplinen interessant geworden – etwa die Mikrobiologie, die Neuroimmunologie sowie die Ernährungs- und Umweltmedizin. Nur die Neurologie, das muss hier kritisch angemerkt werden, tut unerklärte Symptome von Patienten im Fachjargon immer noch als »Kribbelkrabbel« ab – nur weil sie es selbst noch nicht geschafft hat, Erklärungen zu finden. Gleichzeitig wird sie schmerzhaft darauf gestoßen, dass gravierende neurologische Erkrankungen der alternden Gesellschaft, wie zum Beispiel Parkinson, ihren Ursprung vielleicht gar nicht im Kopf, sondern im Bauch haben (siehe Seite 166). Und: Noch immer gibt es in Deutschland keinen klinischen Lehrstuhl für Neurogastroenterologie, obwohl es wichtig wäre, dieses so spannende und wichtige Gebiet in Forschung und Lehre voranzutreiben.