Komm!
In den großen Adventsgesängen wiederholt sich immer wieder ein einziges Wort: der Ruf »Komm«.
Diese Gesänge sind uralt und zugleich taufrisch. Sie bringen etwas zum Ausdruck, das in jedem Menschen steckt.
Jesus Christus wird angesprochen als Weisheit, als Sehnsucht der Völker, als Wurzel Jesse, Schlüssel Davids, als aufgehendes Licht, als Immanuel, Gott mit uns.
Indem ich mich auf diese Anrufungen einlasse, dämmert es mir, wieviel Sehnsucht auch in mir steckt. In diesen Gesängen kann sie sich Bahn brechen.
Du Weisheit, komm!
Was ist wichtig im Leben?
Wichtig in der Familie, im Freundeskreis? Wichtig in Beruf, Freizeit oder bei der Ernährung? Jeder Mensch hat so seine eigene Lebensphilosophie.
In »Philosophie« steckt das Wort »Weisheit«.
Du Weisheit, hervorgegangen aus dem Mund des Höchsten, so ruft die Kirche im Advent zu Jesus Christus.
Du Weisheit, komm und gib uns die rechte Einsicht für unseren Lebensweg.
Lebensweisheiten werden auf vielen Werbeprospekten angeboten. Die Fülle von Therapien, Kursen, Übungen ist groß. Aber wie soll ich wissen, was das Richtige für mich ist bei all den Angeboten, Moden und Methoden?
Nicht eine Methode oder eine Sache helfen weiter, sondern eine Person. Du, Jesus Christus, bist meine Lebensweisheit in Person.
Wirklich?
Zur Person gehört Begegnung. Wie kann ich Dir begegnen, Jesus?
Das ist ganz leicht und ganz schwer.
In jedem Menschen kann ich Dir begegnen. Vor allem in dem, der mich braucht, mein offenes Herz, meine offene Hand, meine Ermutigung, mein persönliches Wort.
Das ist leicht, weil es überall diese Menschen gibt.
Das ist schwer, weil ich oft schon so besetzt bin und Herz und Hände nicht mehr frei habe.
Auch in jedem Gebet kann ich Dir begegnen, Jesus.
Arnold Schönberg, einer der bahnbrechenden Komponisten des letzten Jahrhunderts, betet so:
»Gott, Deine Gnade hat uns das Gebet gelassen als eine Verbindung, eine beseligende Verbindung mit Dir. Als eine Seligkeit, die uns mehr gibt als jede Erfüllung.«
Auch Beten ist leicht und schwer zugleich.
Leicht, weil ich Gott immer und überall ansprechen kann. Schwer, weil es so unruhig ist in mir und um mich herum.
Aber ich kann einstimmen in den Adventsruf: Du Weisheit, komm und schenke die rechte Einsicht für den Lebensweg.
Die Einsicht, dass Leben und Glauben zu ihrer seligen Erfüllung kommen in der Begegnung. In der Begegnung mit Menschen. Und in der Begegnung mit Gott.
Solche Weisheit ist besser als Gold, heißt es in der Bibel (Spr 16,16).
Du Sehnsucht, komm!
Was ist das größte Unglück für Sie?
Lange verweile ich bei diesem Punkt des Fragebogens. Tausend Dinge gehen mir durch den Kopf. Aber dann schreibe ich doch auf, was mir spontan zuerst einfiel. Das größte Unglück ist für mich Streit, Krieg, Unfriede.
Dieses größte Unglück ereignet sich täglich.
Dabei sehnen sich doch alle nach Frieden, nach Versöhnung, nach Gemeinschaft.
Heißt das, was ich am meisten ersehne, das trifft am wenigsten ein? Werde ich immer wieder enttäuscht mit meiner Sehnsucht?
Du Sehnsucht der Völker, so ruft die Kirche in diesen adventlichen Tagen zu Jesus. Mit diesem Ruf erhält meine Sehnsucht einen Namen, ein Gesicht.
Aber hört Jesus mein Rufen? Hat er ein offenes Ohr für mich? Enttäuscht nicht auch er meine Sehnsucht?
Es gibt nicht nur meine Sehnsucht. Es gibt auch seine Sehnsucht. Der große Theologe und Bischof Irenäus von Lyon sagt das so: »Die Sehnsucht Gottes ist der lebendige Mensch.«
Wenn Gottes Sehnsucht nach mir und meine Sehnsucht nach Gottes Hilfe sich berühren, dann zündet etwas.
Und wie soll das gehen?
Indem ich mich auf Gott einlasse. Indem ich mich mit meiner Sehnsucht Gott überlasse.
Ein Beispiel: Einer der vier Lübecker Märtyrer, die von Hitlers Leuten ermordet worden sind, betet in seiner Todeszelle:
»Herr, hier sind meine Hände,
lege darauf, was Du willst,
nimm hinweg, was Du willst,
führe mich, wohin Du willst,
in Allem geschehe Dein Wille.«
Mit einem solchen Gebet bin ich wie ein Adler, der seine Flügel ausbreitet. Der sich abstößt vom Boden der Ichhaftigkeit und des Eigensinns. Der seiner Sehnsucht nach der Weite Gottes freien Lauf lässt.
Aber kann ich ehrlich so beten?
Manchmal zucken meine Hände zurück, verkrampfen sich, wollen festhalten. Und was dann?
Dann stelle ich mir Gottes Hände vor. Beim Propheten Jesaja sagt Gott: »Sieh her, ich habe dich in meine Hand geschrieben« (Jes. 49,16).
Meine Sehnsucht ist schon in Gottes Händen angekommen. Ich versuche, sie einzuholen mit dem Gebetsruf des Advents:
Du Sehnsucht der Völker, komm!
Du Wurzel Jesse, komm!
Noch achtmal schlafen, so haben wir als Kinder gezählt. Noch achtmal schlafen, dann ist Weihnachten.
Achtmal schlafen, denken Sie jetzt vielleicht. Wenn ich es nur einmal wenigstens wieder könnte. Wieder die halbe Nacht wach gelegen. Ehe ich achtmal wirklich durchgeschlafen habe, ist sicher schon Ostern gewesen.
Früher, ja, da kam der Schlaf so gewiss wie der Abend. Heute ist mein Schlaf unsicher. Kommt er? Kommt er nicht? Braucht er Nachhilfe? – Tabletten, Alkohol, ein später Krimi?
Nicht nur mein Schlaf ist unsicher geworden. Das Weihnachtsfest ist auch unsicher geworden. Kommt es? Natürlich kommt es. Auf dem Kalender. Aber das reicht nicht. Kommt Weihnachten auch für mich?
Ich schaue auf das Bild mit dem schlafenden Mann. Den Kopf hat er in die Hand gestützt. Aus seinem Leib wächst eine Wurzel hervor.
Der Mann schläft ruhig. Denn dem Wurzelspross, der aus ihm hervorgeht, gilt eine Verheißung.
Schlafender Jesse, Kalkar 1522
Sie steht beim Propheten Jesaja und lautet: »Ein Reis wächst hervor aus Jesses Stumpf. Ein Zweig bricht aus seiner Wurzel hervor« (Jes 11,1).
Jesse vertraut der Verheißung. Der Wurzelspross wächst heran. David und Salomon werden aus ihm hervorgehen. Und in weiter Ferne, nach dem Auf und Ab vieler Genrationen, wird der dieser Wurzel entsprießen, auf den die Verheißung zielt: Jesus, der »Sohn des Josef…des David, des Jesse…« (Lk 3,23.31.32).
Noch achtmal schlafen, dann singen wir wieder: Es ist ein Ros entsprungen, aus einer Wurzel zart, von Jesse kam die Art.
Ich schaue auf den schlafenden Jesse. Müsste er nicht nervös sein und unruhig, ob sich die Verheißung wohl erfüllt?
Doch Jesse schläft. Wer schläft, vertraut. Kann ich vertrauen, dass auch in meinem Leben Gottes Verheißungen sich erfüllen? Dass mein Leben gelingt? Dass mein Leben zu einem Ziel führt?
Du Wurzel Jesse, so ruft die Kirche im Advent zu Jesus. Du stehst da als Zeichen. Komm und befreie uns!
Wovon möchte ich befreit werden? Von meiner Ruhelosigkeit, von meiner ängstlichen Sorge, von meinem Misstrauen.
Und wie soll das gehen?
Indem ich in den Ruf einstimme: Du Wurzel Jesse, komm und befreie mich. Lass mich vertrauen, dass mein Leben gelingt.
Dann kann Weihnachten werden. Nicht nur auf dem Kalender.
Du Schlüssel Davids, komm!
Ist Ihnen das auch schon mal passiert?
Ic...