Ein Jahr in Tel Aviv
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Ein Jahr in Tel Aviv

Reise in den Alltag

  1. 192 Seiten
  2. German
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Ein Jahr in Tel Aviv

Reise in den Alltag

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Über dieses Buch

Die "Stadt, die niemals schläft", steckt voller Kontraste: Schick und mondän, mit legendärem Nachtleben, ein Strandparadies – und doch voll der jüdischen Tradition. Ein Leben in der Ausnahmesituation – Christiane Wirtz ist der Faszination verfallen.

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783451802652

Juni
Elfter Monat, in dem uns eine Wassermelone zurollt, die geschliffenen Gläser auf den Tisch kommen und wir für die Familie beten.
Die Wassermelone hätte uns fast das Genick gebrochen. Sie rollte uns genau vor den Reifen. Auf der ganzen Straße lagen grüne Schalen, aufgeplatzt, das rote Fruchtfleisch zerfloss auf dem heißen Asphalt. Gil lenkte sein Mofa durch das Schlachtfeld. Am Rand lag ein kleiner blauer Transporter, seine schmalen Reifen von sich gestreckt, offenbar hatte er die letzte Kurve mit zu viel Karacho genommen. Der kleine, dicke Fahrer stand am Rande des Geschehens, fassungslos, aber unverletzt, hatte er sich eine Zigarette zwischen die Lippen geklemmt. Das geht mir nicht in den Kopf, war ihm ins Gesicht geschrieben.
Wir waren am Meer gewesen, am Hatsuk, am Kliff, einem Strand zwischen Tel Aviv und Herzliya. Es war einer der wenigen Sandstreifen, an dem man seine Ruhe fand. Anderorts lief man Gefahr, von einem Matkok-Schläger, einer Frisbee-Scheibe oder einem Surfbrett erschlagen zu werden. Inzwischen schienen mir dies die wahren Herausforderungen des Nahen Ostens zu sein. Und Wassermelonen eben.
Gil parkte sein Mofa am rechten Straßenrand. „Rega“, sagte er, ohne seinen Helm abzunehmen. „Warte.“ Kurz darauf kam er mit einer unversehrten Melone zurück und drückte sie mir in die Hand, oder besser gesagt in die Arme. Sie hatte die Größe eines Medizinballs. „Rega, rega …“, hörte ich jemanden von der anderen Straßenseite rufen. Doch da hatte Gil den Motor schon gestartet. „Rega, rega …“. Ich klemmte die Melone zwischen uns, hielt mich an seiner Taille fest, und, yalla, kadima, los ging’s.
Wir entkamen über die Landstraße, ließen Sde Dov, den kleinen Flughafen, hinter uns, überquerten den Hayarkon und kamen schließlich zurück in das dichte Netz der Stadt. Wir fuhren über die Ben Yehuda, vorbei an den vielen Brautmoden und Schuhgeschäften, den ungezählten Frisiersalons, on parle français, den Straßencafés, eins nach dem anderen, alle voll, den Saftständen und Blumenhändlern. Schließlich setzte Gil mich bei Charlotte Strohbach ab. Ich war schon weit über der Zeit.
„Nimm sie doch mit“, sagte Gil und meinte die Melone. „Die ist doch viel zu groß für sie.“ – „Für mich auch. Wie soll ich denn ohne dich überhaupt weiterfahren?“ – „Keine Ahnung, ob sie überhaupt Melone isst.“ – „Na, dann probiert sie eben mal was Neues.“ – „Beséder“, sagte ich und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. Er hielt mich an der Hand zurück. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass sich in Charlotte Strohbachs Fenster die Gardine bewegte. „Nimmersatt“, sagte ich. Ohne Widerstand. „Niehmmersatt?“ – „Nimmersatt.“ – „Was ist ein Niehmmersatt?“ Ein Nimmersatt war ein … ach, auch egal, später.
„Ich muss wirklich los“, sagte ich und stürmte mit der Wassermelone in den dritten Stock, wo sich die Wohnungstüre überraschend schnell öffnete. Charlotte Strohbach sah mich unschuldig an. „Shalom“, sagte sie. – „Shalom“. Bevor sie irgendetwas von einem Kuschper sagen konnte, war ich auch schon in der Küche verschwunden. Tat, als sei nichts gewesen.
Im Kühlschrank fand ich noch ein Stück Schafskäse, ich schnitt die Melone auf und legte alles auf einen großen Teller. „Hmm. Gut. Habe ich schon lange nicht mehr gegessen.“ – „Können wir zu ihrem Geburtstag auch machen“, sagte ich.
Ich hatte sie inzwischen davon überzeugen können, ihren Geburtstag auf Noas Dach zu feiern. Die Vorbereitungen liefen auf Hochtouren. Vor allem musste es genug zu Essen geben. Wehe, da würde irgendjemand hungrig nach Hause gehen. Das gehörte sich nicht. Unter ihrer kritischen Anleitung hatte ich in der vergangenen Woche sogar einen Apfelstrudel gebacken. Blätterteig. Hatte ich vorher noch nie gemacht. Sie haben sich Mühe gegeben. Mehr war leider nicht drin gewesen.
„Darf ich Sie jetzt mal etwas Persönliches fragen?“, fragte sie, als sie mit der Melone fertig war. „Ja, klar.“ – „Kommt der junge Mann auch?“ – „Wenn Sie ihn einladen. Es wird ihm eine Ehre sein.“ – „Gut“, sagte sie zufrieden und verfiel in ein feierliches Schweigen. „Es ist an der Zeit, meine ich“, sagte sie dann. „Wollen wir jetzt nicht einmal Du zueinander sagen?“ Ich war um eine stilgerechte Antwort verlegen. Das kam jetzt alles etwas plötzlich. „Also, ich bin die Charlotte.“ Mein Herz machte einen Sprung. Mit dem Mandel-Likör stießen wir auf unsere Bruderschaft an – heute die geschliffenen Gläser.
Mein Vater sollte um 15.35 Uhr in Ben Gurion landen. Wie immer war ich viel zu früh am Flughafen und setzte mich in die Cafeteria in der Ankunftshalle. Es machte mir nichts aus. Ich mochte Flughäfen. Flughäfen waren wie Silvester. Immer, wenn ich auf dem Weg zu einem Flughafen war, dachte ich darüber nach, was war und was kommen wird, was sich seit meiner Ankunft verändert hatte oder was sich nach meinem Abflug verändern würde. Jetzt erinnerte ich mich daran, wie ich zum allerersten Mal in Ben Gurion gelandet war. Die Hosen voll. Damals war die Erste Intifada einige Jahre vorbei, die Zweite hatte noch nicht angefangen und trotzdem hatte ich nichts als Blaulichter in meinem Kopf. Doch dann hatte draußen, hinter dem Gepäckband, Alón gestanden und wir waren direkt ans Meer gefahren. Es war Mitte März gewesen, in Berlin war seit Monaten Winter und in Tel Aviv schien die Sonne. Mehr brauchte ich wohl kaum zu sagen. Alón hatte mich während dieser ersten Woche an die Hand genommen, das gab mir Sicherheit. In den Jahren danach war meine Angst kleiner geworden, aber ich war immer froh gewesen, dass Alón mich abholte. Am Ende war ich zurück nach Hause geflogen und hatte schon von Frankfurt aus meine Eltern angerufen, um ihnen zu sagen, dass alles in Ordnung war. Sie waren immer erleichtert gewesen. So wie ich selbst.
Und jetzt lebte ich hier.
Die Angst war mir wohl abhanden gekommen, jedenfalls begleitete sie mich nicht täglich, dafür hatte sich eine gewisse Spannung in mein Lebensgefühl geschlichen. Ich hatte dazu inzwischen meine eigene Theorie entwickelt. Die Wellentheorie. Und die ging so. Die erste Welle kam mit der Furcht, die sich aus den bekannten Bildern speiste. Dann aber sah man das Meer, es spülte die Bilder hinweg, sie wurden bald unter bunten Badetüchern begraben. Und erstaunt stellte man fest, dass es hier ein ganz normales Leben gab. Ein verrücktes Leben zwar, aber alltäglich, fröhlich auch. Doch umso länger man hier lebte, umso größer wurde die nächste Welle, die über einen hereinbrach. Man lernte die Menschen kennen, die hier lebten. Menschen, die im Dolphinarium waren, in der Diskothek am Strand, einen Abend bevor dort eine Bombe explodierte. Menschen, die unter Todesangst litten, weil ihre Kinder während der Zweiten Intifada in Jerusalem studierten und ihr Telefon nicht abnahmen. Menschen, die an der Front im Zweiten Libanonkrieg gewesen waren, ein toter Kamerad auf ihren Schultern. Menschen, deren Väter im Iom-Kippur-Krieg gefallen waren. Umso länger man hier lebte, umso näher kamen die Einschläge. Zwischendurch musste man immer mal wieder ans Meer.
Es war das erste Mal, dass ich in Ben Gurion jemanden abholte. Bislang war immer ich die Reisende gewesen. Am Morgen hatte meine Mutter angerufen, auf dem Weg zurück nach Hause, nachdem sie meinen Vater zum Flughafen gebracht hatte. Sie hatte sich bemüht, nicht allzu besorgt zu klingen. Doch ich hatte die Schwere in ihrer Stimme deutlich hören können. Sie erzählte mir, dass sie am Wochenende zu meiner jüngsten Schwester fahren würde, mit den Enkeln, das würde bestimmt schön werden, und dann käme mein Vater ja auch schon fast wieder.
„Mach dir keine Sorgen, Mama“, hörte ich mich sagen und dann tatsächlich. „Es ist wahrscheinlicher, in Israel bei einem Autounfall ums Leben zu kommen als bei einem Anschlag.“ Dabei war ich mit einem Mietwagen zum Flughafen gekommen.
Um ganz ehrlich zu sein, befand sich auch mein eigener Magen-Darm-Trakt nicht in einem Zustand der absoluten Harmonie. Das Gegenteil war der Fall. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, so etwas wie Verantwortung für meinen Vater zu übernehmen. Auch wenn Herr Lindemann sicherlich eine gewisse Mitschuld trug. Trotzdem. Wäre ich nicht hier, würde er wohl kaum eine Woche durch Israel reisen. Conditio sine qua non. Bedingung, ohne die nicht. Ich wusste, ich würde es mir niemals verzeihen, wenn ihm etwas zustoßen würde. Aber auch: Ich würde stolz darauf sein, wenn wir es geschafft hatten.
Ich bestellte einen te nana, einen Tee mit frischer Minze, und sah den anderen zu. Am Flughafen mischten sich noch alle, wurden zu einem Querschnitt des israelischen Lebens. Ultraorthodoxe Juden, russische Einwanderer, wohlhabende Amerikaner und pilgernde Touristen, von hier aus verstreuten sie sich in ihre eigenen Stadtviertel, Trabantenstädte, Penthouses und Reisebusse. Manche von ihnen hatten Plakate mitgebracht, bruchim harbaim, herzlich willkommen, hielten Luftballons in ihren Händen und fielen sich freudig in die Arme. Ich malte mir aus, wie es nach dieser Szene weitergehen würde. Den Wagen im Parkhaus suchen, die Koffer verstauen, nach Hause kommen und die Blumen ins Wasser stellen. Fragte mich, wie lange die Kraft der Umarmungen reichen würde, versuchte es in den Gesichtern abzulesen, schätzte, wann der Alltag in die Beziehungen zurückkehren würde.
Und auch: Wie lange würde es zwischen mir und meinem Vater gut gehen? Was würde geschehen in dieser Zeitspanne zwischen Ankunft und Abflug? Zwei Mal Ben Gurion. Spätestens, wenn die Sprache auf die Zukunft kommen würde, und sie würde darauf kommen, hätten wir uns in den Haaren. Doch ich hatte mir fest vorgenommen, ganz ruhig zu bleiben, meinem Alter entsprechend zu handeln. Ich würde mich auf meinen Fixpunkt konzentrieren, shiva veneshiva, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Auch wenn ich noch nicht genau wusste, wo dieser Fixpunkt eigentlich war.
Dann piepte mein Telefon. Zwei Mal. Kurz hintereinander. 1 message received. „Take it easy. But take it.“ Die Nachricht kam von Gil. Als ich vor zehn Monaten hier gelandet war, hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass sich mein Leben so sehr verändern würde. Fast schien es mir, als sei es von heute auf morgen geschehen. Wobei …
Die große Tafel zeigte nun an, dass seine Maschine gelandet war. Ich stellte mich zu den anderen, die an dem Geländer warteten, und starrte auf die große Schiebetür, die einen Passagier nach dem nächsten freigab. Sie alle traten hinaus, guckten irritiert, als seien sie von einem Licht geblendet, bis ihre Augen zur Ruhe kamen und sie ihren Abholer in der Menge ausmachten. Endlich mischte sich auch mein Vater unter sie, wurde einer von ihnen und lief suchenden Blickes auf den Ausgang zu. Mir blieb ein Augenblick, um ihn mir anzusehen. Er war groß gewachsen, lief mit aufrechtem Gang, und obwohl er bald 65 wurde, waren seine schwarzen Haare kaum ergraut. Über seiner Jeans trug er ein dunkelblaues Jackett, ein weißes Hemd. Er sah aus wie jemand, der sein Leben zu meistern verstand, und bislang hatte er mir niemals Anlass gegeben, daran zu zweifeln.
Ich rief nach ihm. Er winkte mir zu. „Da bist du ja“, sagte er, als er bei mir war.
Wir fuhren direkt nach Jerusalem. Mein Vater saß am Steuer. Kaum waren wir in der Stadt, sah ich, wie seine Augen den ultraorthodoxen Juden folgten, in diese eigentümliche Welt eintauchten. Er sah den Männern nach in ihren langen, schwarzen Gebetsmänteln, die mit fliegenden Schläfenlocken und Rockschößen über die Straßen eilten. Unterwegs in einer wichtigen Mission. Die Frauen trugen lange schwarze Röcke, stemmten ihre Kinderwagen über die Hügel der Stadt. Sie trugen schwere Perücken, mussten darunter schwitzen, allein ihr Anblick ließ meine Kopfhaut jucken. Eigentlich, so dachte ich jetzt, hätten wir in Tel Aviv anfangen sollen. Erst die Leichtigkeit, ein sanfter Einstieg, dann die Schwere der heiligen Stadt. Doch wir hatten keine Zeit. Mein Vater hatte gleich am nächsten Morgen einen Termin bei diesem Nachman Goldberg. Der Stadtplan lag auf meinen Knien und ich dirigierte ihn zu unserem Hotel. Als wir an einer Ampel hielten, liefen zwei junge Soldaten mit Sturmgewehren vor uns über die Straße. Hinter uns heulten die Sirenen eines Polizeiwagens.
„Hier ist ja was los“, sagte mein Vater. Abenteuerlust klang anders.
Am Abend gingen wir in einem Restaurant in der German Colony essen. „Die wollten doch noch einmal anrufen.“ Mein Vater hatte sein Telefon neben sich auf den Tisch gelegt. Er wartete auf einen Anruf der Rezeption. Er wollte das Zimmer wechseln. Die Klimaanlage in seinem funktionierte nicht. Und dazu war es in der Tat schon zu heiß. „Die rufen sicher gleich zurück.“ – „Dafür ist das Zimmer einfach zu teuer“, sagte er ungeduldig und sah noch einmal auf sein Display. „Was steht denn morgen mit Goldberg nun eigentlich an?“, versuchte ich es. „Wollen wir nicht erst einmal bestellen?“ – „Hast du Hunger?“ – „Gibt es keine Speisekarte auf Englisch?“ Mein Vater starrte auf die hebräischen Schriftzeichen und ich beeilte mich, die Karte zu übersetzen. So gut es ging. Bestellte bei der Kellnerin erst einmal Brot und Wein.
„Lecha’im“, sagte ich, „auf das Leben“, und erhob mein kühles Glas. „Schön, dass du da bist.“ – „Ja, auf unsere Reise“, sagte mein Vater. „Zum Wohl.“
„Also, wie ist es weitergegangen?“, fragte ich noch einmal. Der Fall hatte inzwischen meinen Jagdinstinkt geweckt.
Mein Vater begab sich nur schwerfällig in das Dickicht dieser ganzen Geschichte. „Wir haben das Bild jetzt erst einmal schätzen lassen“, sagte er. „Es ist um die 200 000 Euro wert. Allerdings ist immer noch nicht klar, ob sie das Geld überhaupt wollen. Oder eben das Bild.“ – „Und was will Lindemann?“ – „Er ist zu allem bereit. Er hat das Bild von seinen Eltern geerbt, er hängt daran. Aber wenn sie darauf bestehen, wird er es selbstverständlich zurückgeben. Mehr als alles andere will er die Sache aus der Welt haben. Inzwischen ruft er mich jede Woche an“, sagte er. „Er lässt dich übrigens grüßen.“ – „Danke“, murmelte ich, in Gedanken woanders. „Und dieser Goldberg, was ist das für ein Typ?“ – „Ein echter Chaot“, sagte mein Vater ärgerlich. „Eine Vollmacht des Mandanten zum Beispiel habe ich bis heute noch nicht gesehen.“ – „Glaubst du, dass er darauf aus ist, Ärger zu machen?“ – „Macht erst einmal nicht den Eindruck. Am Telefon ist er immer recht freundlich. Aber was weiß denn ich? Mit israelischen Anwälten hatte ich schließlich noch nie etwas zu tun.“
„Wem gehörte das Bild denn ursprünglich?“ – „Die ehemaligen Eigentümer lebten in Berlin, am Wannsee, sie waren fast Nachbarn von den Liebermanns. In den späten Dreißigern haben sie das Bild an einen Kunsthändler verkauft. Sie wollten wohl raus aus Deutschland. Jedenfalls haben sie 1937 die Reichsfluchtsteuer gezahlt. Dafür gibt es Belege.“ – „Weißt du, was aus ihnen geworden ist?“ – „Am Ende haben sie es nicht geschafft.“ – „Was heißt das?“, fragte ich. Vermutlich eine Spur zu hartnäckig. In meinem Vater schien das ganze Programm abzulaufen. Was heißt, sie haben es nicht geschafft, was soll die vorwurfsvolle Frage, was habe ich damit zu tun, ich war damals noch nicht einmal geboren, was kommst du mir jetzt damit, ich kann doch wirklich nichts dafür. Wusste ich doch selbst. Ich wollte doch nur wissen. Meine Frage blieb über dem Tisch hängen.
Dann kam die Kellnerin mit dem Essen. Und die Rezeption rief an, um meinem Vater zu sagen, dass sie seine Koffer schon umgeräumt hatten. Zimmer 107. Mit Klimaanlage. „Soll ich denn morgen mitkommen?“, fragte ich schließlich. „Davon war ich eigentlich ausgegangen.“
Nachman Goldberg öffnete am nächsten Morgen persönlich die Tür. Er war ein kleiner, drahtiger Mann mit fröhlichen Augen. Über seinem gestreiften Hemd trug er eine blaue Krawatte, die vollen hellgrauen Haare kringelten sich von seinem Kopf. Ein wenig wirr. „Boker tov“, sagte er gut gelaunt. „Guten Tag. Kommen Sie rein.“
Durch eine der offenen Türen sah ich eine dünne, etwas verknittert wirkende Frau an ihrem Schreibtisch sitzen, sie brütete über einer Akte. Als sie uns reinkommen sah, hob sie die Zigarette zum Gruß. Goldberg bat uns in sein Büro, in das die Sonne unerbittlich knallte, sie hatte die Papiere, die haufenweise auf der Fensterbank lagen, im Laufe vieler Monate ausgeblichen. Vor der Scheibe hing windschief eine Jalousie, deren Lamellen sich an einer Seite verharkt hatten. Goldberg nahm einen Stapel Akten von den Stühlen vor seinem Schreibtisch und bat uns, Platz zu nehmen.
„Wollen Sie einen Kaffee?“, fragte er. Ich trug zum ersten Mal seit langer Zeit ein Jackett. Allein der Gedanke an einen Kaffee – ich lehnte dankend ab und feuerte in Gedanken die alte Electra an, die lautstark kalte Luft in den Raum pustete. „Ein Wasser wäre mir lieber“, sagte ich. Mein Vater sah mich fragend an. Ich zuckte mit den Schultern, lassen wir uns überraschen.
Goldberg kam mit drei Gläsern in den Händen und einer Zwei-Liter-Plastikflasche unter dem Arm zurück zu uns, schloss mit dem Fuß die Türe zu seinem Büro. „Wie war die Reise?“, fragte er meinen Vater in gebrochenem Englisch und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. „Bestens“, sagte mein Vater und legte die Akte auf den Tisch. Ich sah darauf einen Zettel mit Fräulein Fröhlichs Schrift:
Termin: 2. Juni, 12 Uhr, Jerusalem, Bezalel Straße 63.
Sache: Dr. Lindemann ./.?
Mein Vater war gekommen, um dieses Fragezeichen zu ersetzen. Einige andere auch. Er klappte die Akte auf. „Sind Sie zum ersten Mal in Israel?“, fragte Goldberg meinen Vater. „Ja, ja“, ohne weiter darauf einzugehen. „Und Sie?“, Goldberg wandte sich an mich. „Sie arbeiten mit ihrem Vater zusammen?“ – „Nein, nein. Ich lebe nur ger...

Inhaltsverzeichnis

  1. [Titelinformationen]
  2. [Impressum]
  3. Vor dem Jahr
  4. August: Erster Monat, in dem ich Luftballons sehe, an einen gelben Ascona denke und am Ende ein Alef geschenkt bekomme.
  5. September: Zweiter Monat, in dem die Sonne unter- und das Licht ausgeht und ich am Ende zum Cremeschnittchen werde.
  6. Oktober: Dritter Monat, in dem ich mich fürs Scrabbeln begeistere und mich frage, was Woody dazu sagen würde.
  7. November: Vierter Monat, in dem erst einmal Haare fallen, ich den weißen Zeppelin wieder sehe und mir am Ende Hebräisch leicht gemacht wird.
  8. Dezember: Fünfter Monat, in dem ich zur Schwiegertochter werde, Weihnachten naht und ich am Ende die Hosen runter lasse.
  9. Zwischen den Jahren
  10. Januar: Sechster Monat, in dem ich mich frage, ob man Heimweh in zwei Richtungen haben kann und Noa sich dem Kung-Fu zuwendet.
  11. Februar: Siebter Monat, in dem ich kein Kleid kaufe, ein Mann ein Haus baut und Lahme plötzlich gehen.
  12. März: Achter Monat, in dem die Liebe kommt und ich zu einem Engel werde.
  13. April: Neunter Monat, in dem Noa das Hier & Jetzt entdeckt, sich Besuch ankündigt und ich am Ende Schashuka koche.
  14. Mai: Zehnter Monat, in dem ich ein altmodisches Wort in meinem Kopf entdecke.
  15. Juni: Elfter Monat, in dem uns eine Wassermelone zurollt, die geschliffenen Gläser auf den Tisch kommen und wir für die Familie beten.
  16. Juli: Zwölfter Monat, in dem ich für uns weine, „lehitraot“ sage und am Ende in einem Flugzeug sitze.
  17. Nach dem Jahr
  18. Anmerkungen
  19. [Informationen zum Buch]
  20. [Informationen zur Autorin]