Schluss mit der Sozialromantik!
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Schluss mit der Sozialromantik!

Ein Jugendrichter zieht Bilanz

  1. 240 Seiten
  2. German
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Schluss mit der Sozialromantik!

Ein Jugendrichter zieht Bilanz

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Über dieses Buch

Seit fast 20 Jahren arbeitet Andreas Müller als Richter. Vor seiner Richterbank landen viele harte Fälle: S-Bahn-Überfälle, Gewaltausbrüche, sexueller Missbrauch. Auch drei Jahre nach dem Tod von Kirsten Heisig, einer engen Weggefährtin Müllers, kann Müller keine Besserung der Zustände erkennen: Im Bereich des Jugendstrafrechts soll eingespart werden, das Neuköllner Modell gerät in Vergessenheit, gleichzeitig werden die jungen Intensivtäter immer brutaler. Das kann Müller nicht hinnehmen - jetzt ist die Zeit für Veränderung.

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Information

Was zu tun ist
Modernes Jugendrecht

1986 erschien Rio Reisers legendärer Song »König von Deutschland«, in dem der ehemalige »Ton Steine Scherben«-Frontmann sich ausmalt, was er machen würde, wenn er alles alleine entscheiden dürfte. Was würde sich ändern in der eigentlich guten und brauchbaren Jugendgerichtsbarkeit, wenn ich Alleinentscheider spielen dürfte und Gesetze sowie Abläufe nach meinem Gusto umgestalten könnte? Jede dieser Ideen wäre mit wenig Aufwand mehr oder weniger sofort umsetzbar. Dass das nicht passiert, ist zum Teil eine der unseligen Folgen der vorherrschenden sozialromantischen Denkweise sowie der nicht handelnden Politik, und manchmal liegt es auch einfach nur an der Bequemlichkeit einiger Kollegen.

Der Erziehungsrichter

Was sich meines Erachtens vor allem ändern muss, ist das Konzept des Jugendrichters, also die Art und Weise, wie die Aufgaben des Jugendrichters definiert werden und auch, wie er selbst sie definiert. Derzeit sind Jugendrichter ausschließlich für strafrechtlich relevante Dinge zuständig. Anders gesagt: Sie lernen ihre Klientel frühestens mit vierzehn Jahren kennen. In diesem Alter ist man in Deutschland strafmündig und muss sich vor dem Jugendrichter für seine Taten verantworten. Vorfälle, die sich vor dem vierzehnten Lebensjahr ereignen, fallen in die Zuständigkeit des Familiengerichtes. Das bedeutet für mich als Jugendrichter: Ich bekomme die unter Vierzehnjährigen aus schwierigen Familienverhältnissen, deren ältere Geschwister bereits vor mir stehen, gar nicht zu sehen, selbst wenn sie bereits auffällig geworden sind und sich die kriminelle Karriere mehr als deutlich am Horizont abzeichnet. Jeder weiß, dass diese Kinder mit Eintritt der Strafmündigkeit auch bei mir landen werden, aber ich habe keine Möglichkeit, frühzeitig zum Schutze dieser Kinder auf sie selbst und ihre Eltern einzuwirken.
Das ist vor allem deshalb ein unglaublicher Zustand, weil die gesetzliche Regelung etwas ganz anderes vorsieht. In Paragraf 34, Absatz 2 des Jugendgerichtsgesetzes heißt es: »Dem Jugendrichter sollen für den Jugendlichen die familiengerichtlichen Erziehungsaufgaben übertragen werden.« Und Absatz 3 legt fest: »Familiengerichtliche Erziehungsaufgaben sind 1. die Unterstützung der Eltern, des Vormundes und des Pflegers durch geeignete Maßnahmen sowie 2. die Maßnahmen zur Abwendung einer Gefährdung des Jugendlichen.«
Hier ist also bereits gesetzlich normiert, was in der Praxis bundesweit und auch in meinem Gericht aus unerfindlichen Gründen kaum durchgeführt wird: Als Jugendrichter müsste ich bei gesetzeskonformer Anwendung dieses Paragrafen Zugriff und Kontrolle über sämtliche familienrichterlichen Vorgänge in meinem Zuständigkeitsbereich haben, zumindest dann, wenn bereits ein Kind aus der Familie auffällig geworden wäre. Ich wäre also sowohl Jugendrichter als auch Familienrichter. Als Jugendrichter könnte ich mit den Mitteln des JGG den Jugendlichen ins Auge fassen und mit den Mitteln des Bürgerlichen Gesetzbuches die Gesamtfamilie. Diese Personalunion bezeichnet man als Erziehungsrichter. Unterschiedliche Persönlichkeiten aus Praxis und Wissenschaft haben immer wieder die Einführung dieses Konzeptes gefordert. Doch trotz vorhandener Möglichkeiten, und obwohl es im Grunde sehr einfach wäre, setzen es nur ganz wenige Gerichte um.
Der leider inzwischen pensionierte Hamburger Kollege Olof Masch wusste um die Notwendigkeit des Erziehungsrichters und nahm diese Funktion mit Hilfe seiner Kollegen im Amtsgericht Bergedorf/Hamburg seit dem Jahr 2006 auch höchstpersönlich wahr. Er begründete dort das sogenannte »Bergedorfer Modell«. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet das, dass er nach dem Geschäftsverteilungsplan des Amtsgerichts Bergedorf sämtliche erzieherischen Aufgaben innehatte. Bekam er als Jugendrichter die Zuständigkeit für ein Familienmitglied, so gehörte damit automatisch auch die Verantwortung für sämtliche weiteren familienrechtlichen richterlichen Aufgaben in seinen Bereich. Er war damit auch in der Lage, Eltern gegebenenfalls das Erziehungsrecht zu entziehen und so Druck auf die Familie auszuüben.
In Vorbereitung meines Buches traf ich diesen verdienten Richter, und er schilderte mir seinen auch statistisch nachweisbaren Erfolg. So erläuterte er, dass er einen Problembezirk in Hamburg gehabt habe, in welchem viele zum Teil außerordentlich schwierige, aggressive und auch gewaltbereite Jugendliche mit Migrationshintergrund wohnten. Nachdem er lange Jahre Familienrichter gewesen war, übernahm er dann auch die Zuständigkeit für die jugendrichterlichen Verfahren. Richter Masch erklärte mir, dass nach dieser Zusammenführung der Zuständigkeiten insbesondere bei den Gewaltdelikten ein Rückgang von über sechzig Prozent binnen vier Jahren zu verzeichnen gewesen sei. Dies führte er darauf zurück, dass er Eltern und Kinder gleichermaßen in die Pflicht habe nehmen können. Mit Ausnahme seiner Funktion als Erziehungsrichter seien alle im Verfahren beteiligten Institutionen gleich geblieben. Einfacher gesagt: Weder bei der Polizei noch bei der Staatsanwaltschaft gab es Veränderungen. Auch das Jugendamt blieb dasselbe, ebenso die Zahl an Jugendlichen in seinem Kiez, in dem es viele kinderreiche Familien gab. Der übliche demoskopisch begründete Rückgang, der für positivere Zahlen sorgt, fiel also weg.
Gescheitert ist Masch mit seinem Modell nicht im Amtsgericht Bergedorf, letztlich aber an der großen Hamburger Politik und an den Kollegen, die es nie für nötig hielten, auch nur ansatzweise ernsthaft über seine Ideen zu diskutieren. Stattdessen ließen sie ihn mit genau den gleichen fadenscheinigen Argumenten, die ich auch so oft zu hören bekomme, vor eine unsichtbare Wand laufen. Viele Jugendrichter sind einfach nicht willens, sich in eine neue Materie, in diesem Fall also das Familienrecht, einzuarbeiten. Das führte schließlich dazu, dass kein einziges Amtsgericht in Hamburg dem Modell gefolgt ist. Auch die Politik, die ja über eine Gesetzesänderung hätte debattieren können, fühlte sich nicht animiert, etwas zu unternehmen.
Die Zusammenführung der jugend- und familienrichterlichen Aufgaben würde also zu jener Definition des Jugendrichters führen, die meiner Ansicht nach die einzig sinnvolle ist, und das ist eben die des absoluten Erziehungsrichters. Als Jugendrichter muss ich einfach, um meinen Aufgaben wirklich bis ins letzte Detail nachkommen zu können, Jugendschutz- und Kinderschutzrichter zugleich sein.
Mit der Möglichkeit, mir die familienrichterlichen Dinge frühzeitig auf den Tisch zu holen, wäre ich sehr viel stärker in die Lage versetzt, agieren zu können. Befinden sich diese Dinge außerhalb meines Einflussbereiches, bin ich dazu verdammt, zu reagieren, wenn die Jungs und Mädels mit vierzehn Jahren bereits ziemlich heftige Geschichten verbockt haben und zum ersten Mal vor mir stehen.
Die Idee des Erziehungsrichters bedeutet im Sinne des Bergedorfer Modells ganz konkret: Jede vormundschaftsrichterliche Sache, von Geburt an, gehört in die Hände des Erziehungsrichters. Passiert irgendwo etwas, sind Familien auffällig, muss ich als Richter bereits den näheren Umkreis, sprich: die Geschwister, mit unter Kontrolle haben und Einfluss auf die Familie nehmen können.
Der Hintergedanke ist dabei ganz klar präventiv. Die Trennung der Sphären Familienrecht und Jugendrecht erhöht die Gefahr, kriminelle Karrieren zu befördern, weil nicht rechtzeitig mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln auf die Kinder und Jugendlichen bzw. ihre Familien eingewirkt werden kann. Könnte hier aus einer Hand reagiert werden, wäre die Chance viel größer, das Problem der nachwachsenden Kriminalität in den Griff zu bekommen. Es könnte sehr viel besser und gezielter auf das Jugendamt eingewirkt werden. Ich weiß sehr genau, wovon ich rede, da ich aufgrund meiner langjährigen Tätigkeit mittlerweile bereits die zweite Generation von Tätern sehe. Und ich sehe dabei oftmals die gleichen Familien.
Die Funktion des Erziehungsrichters wäre übrigens an allen kleineren Amtsgerichten kurzfristig einführbar, weil dort ohnehin alle familienrechtlichen und jugendrechtlichen Dinge unter einem Dach auflaufen. Da dieser Ansatz, der bereits in Paragraf 34 JGG zum Ausdruck kommt, bundesweit kaum umgesetzt wurde, muss der Gesetzgeber eben die Gerichte verpflichten, das Konzept des Erziehungsrichters einzuführen.
Ich glaube heute, dass man Manuela vor ihrem Martyrium und damit auch vor dem Suizid hätte retten können, wenn es damals die Funktion des Erziehungsrichters gegeben hätte. Das gilt genauso für Martinas Drogensucht und ihre kriminelle Karriere. Auch sie hätte man davor bewahren können, diesen Weg einzuschlagen, genauso wie ich in vielen weiteren Fällen dem Entstehen krimineller Karrieren frühzeitiger hätte entgegentreten können.
In diesem Zusammenhang ist auch zu fordern, dass künftig alle Maßnahmen, die aufgrund rein jugendrichterlicher Entscheidungen zustande kommen, auch aus Mitteln der Justiz bezahlt werden müssten. Nur damit wäre sichergestellt, dass der Zugriff des Richters jederzeit möglich ist. Derzeit ist es so, dass nur die unmittelbar strafrechtlich relevanten Dinge aus diesem Topf finanziert werden, also etwa Haft, Arrest oder vorübergehende Heimunterbringung. Alle anderen ambulanten Maßnahmen wie Anti-Aggressivitätstrainings, soziale Trainingskurse, Betreuungsweisungen, Drogenberatung etc. werden aus Mitteln der Landkreise beziehungsweise der Bezirksämter getragen und an externe Träger outgesourct. Ich habe mithin kaum Möglichkeiten der Kontrolle und Einwirkung, darüber hinaus birgt dieses Outsourcing immer die Gefahr, dass nicht das beste, sondern das billigste Modell zum Zuge kommt. Während die Jugendämter früher diese Art von Maßnahmen selbst kontrollierten, kümmern sie sich heute größtenteils nur noch um die Finanzierung. Und aufgrund klammer Kassen heißt es da dann eben: Wer’s am billigsten macht, bekommt den Zuschlag. Im pädagogischen Bereich ist so ein Denken und Vorgehen aber fatal. Was in meinem Landkreis passierte und noch schlimmer ist: Es wurde über Jahre hinweg ein Anti-Aggressivitätskurs, den ich wiederholt an- wies, einfach nicht bezahlt. Auch daran dürfte es gelegen haben, dass einige meiner Täter erneut zuschlugen.
Auch diese Maßnahmen müssten also dringend aus Justiz-Mitteln finanziert werden und dem Einfluss des Richters unterliegen. Damit das geschieht, ist es zwingend notwendig, diese hier beschriebene Funktion des Erziehungsrichters gesetzlich festzuschreiben. Es kann nicht länger der Fall sein, dass uns Täterkarrieren aus dem Ruder laufen, weil wir es von staatlicher Seite nicht hinbekommen, frühzeitig mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln Kontrolle auszuüben und Prävention zu betreiben. Das Argument, dass diese Änderungen an der jugendrichterlichen Tätigkeit Geld kosten würden, weil sie umfassender ausfielen als vorher, zieht überhaupt nicht. Es ist vergleichsweise lächerlich, was investiert werden müsste, um Folgekosten zu verhindern, die um ein Vielfaches höher liegen, wenn kriminelle Karrieren ausarten und diese Täter den Staat wieder und wieder beschäftigen.
Das zweite große Thema, neben Geld, ist Zeit. Die derzeitige Pensenregelung reicht vorne und hinten nicht, und es ist nicht schwer, vorherzusehen, dass sie im Falle der Einführung erziehungsrichterlicher Modelle erst recht nicht ausreichen würde. Da Zeit und Personalausstattung immer Hand in Hand gehen, ist also konkret zu fordern, dass die personelle Situation an den Gerichten so verbessert wird, dass ich als Jugendrichter, oder eben besser gesagt: als Erziehungsrichter, in die Lage versetzt werde, die notwendige Zeit für einzelne Fälle wirklich aufzuwenden.
Wenn ich dann noch direkt neben meinen Büro ein weiteres hätte, in dem zwei Sozialarbeiter als »schnelle Eingreiftruppe« säßen, wäre ich schon fast zufrieden. Hintergedanke auch hier wieder: Kurze Dienstwege. Wie wunderbar wäre es, wenn ich bei der Bearbeitung einer Akte nur ins nebenan liegende Zimmer rufen müsste: »Fahr da mal hin, guck dir die Situation an.«

Die sollen mich kennen! – Präsenz des Jugend- bzw. Erziehungsrichters vor Ort

Ein Vorwurf, der vielen Beamten und Richtern, die mit Menschenschicksalen zu tun haben und über Menschen entscheiden, gerne gemacht wird, lautet: »Du kennst die Leute gar nicht, du sitzt doch nur über den Akten.«
Dieser Vorwurf ist nicht unberechtigt. Gerade ein Jugend- bzw. Erziehungsrichter muss Repräsentationspflichten übernehmen, er muss für die potenzielle »Kundschaft« erkennbar und greifbar sein. Niemand hat diese Pflicht des Jugendrichters besser eingelöst als Kirsten Heisig. Kirsten war ständig unterwegs, sprach mit allen, mit den Familien, mit den weiteren Beteiligten von offizieller Seite. Sie war präsent, mancher sagte »omnipräsent« und meinte das gewiss nicht als Kompliment. Es geht jedoch eigentlich gar nicht anders.
Zur Hochzeit meiner Rechtsradikalen-Verfahren habe ich das noch intensiver durchgeführt als heute, doch so gut es machbar ist, bin ich immer noch unterwegs und besuche gelegentlich Schulklassen. An meinen Sitzungstagen im Gericht kommen zudem Schulklassen, die sich ein direktes Bild von meiner Arbeit machen.
Erst kürzlich sagte ein Lehrer zu mir: »Herr Müller, was Sie hier mit meiner achten Klasse machen, das ist absolute Präventionsarbeit, das ist kaum hoch genug zu schätzen.« Wenn ich solche Rückmeldungen bekomme, weiß ich wieder, wofür ich das mache und dass es richtig ist.
Ich bekomme für diese Arbeit keine Freistellung, so dass ich abends länger arbeite und für den Aufwand meine Freizeit opfere. Unter den gegebenen zeitlichen Voraussetzungen ist diese Präventionsarbeit im Grunde kaum zu schaffen, so dass ich mir immer wieder überlege, die Betreuung von Schulklassen einzustellen. Andererseits sehe ich, wie notwendig diese vorbeugende Arbeit ist, und lasse mir dann doch wieder gerne ein wenig Freizeit »stehlen«.
Wie genau sollte diese Präventions- bzw. Repräsentationsarbeit im Idealfall aussehen? Zunächst einmal: Optimale Vernetzung zwischen den Schulen im jeweiligen Zuständigkeitsbereich, insbesondere denen in problematischen Bereichen, aber auch zwischen den Schulen und dem Richter. Letzteres meint: Mindestens ein Besuch der Richter pro Schule und pro Jahr. Das Ganze spätestens ab der achten Klasse, wenn die Schüler strafmündig sind, Wiederholung in der zehnten Klasse. Das tut den Schülern nicht weh, ist aber unwahrscheinlich beeindruckend. Wenn die Schüler aus so einer Veranstaltung bei mir rausgehen, wissen sie: Der Typ da vorne, der uns gerade was erzählt hat, kann uns einsperren, wenn wir uns danebenbenehmen. Das wirkt!
Dazu müssten regelmäßige Treffen mit der Polizei kommen, außerdem auch mit dem Jugendamt, der Schulbehörde und natürlich mit den im Jugendbereich agierenden sozialen Trägern, um Informationen auszutauschen und die Vernetzung zu optimieren. Optimal wären vierteljährliche »Runde Tische« aller Beteiligten, wobei im Informationsfluss immer Kinder- und Jugendschutz vor Datenschutz gehen müsste.
Strukturell ließe sich das etwa regeln, indem man dem Richter einen bestimmten Zeitanteil zur Verfügung stellt, den er zwingend für solche Präventionsarbeit nutzen muss. Ganz einfach als Dienstpflicht. Das könnte also heißen: Andreas Müller bekommt 10 Prozent seiner Zeit zur Verfügung, muss dafür aber an zwei Tagen im Monat die Schulen und andere Einrichtungen besuchen. Ich würde das mit Freuden sofort machen. Es mag einige wenige Kollegen geben, die dafür von ihrem hohen Richter-Ross runter müssten, aber das wäre dann eben so. Um zu glauben, dass das funktionieren kann, muss man sich nur das Beispiel der Polizei angucken. Früher war es unvorstellbar, dass die Polizei Präventionsarbeit machen könnte. Heute macht sie sie ganz selbstverständlich. Und, mal ehrlich: Wir schicken Verkehrspolizisten in die Grundschulen, um den Kindern richtiges Verhalten im Straßenverkehr beizubringen, sind aber nicht in der Lage, einen Jugendrichter erzählen zu lassen, was es mit Recht und Gesetz auf sich hat? Das kann nicht sein!
Kurz gesagt heißt das: Der Jugend- bzw. Erziehungsrichter muss die Autorität unter Jugendlichen bzw. Heranwachsenden sein. Er muss seinen Zuständigkeitsbereich genau kennen, und er muss zeitlich in die Lage versetzt werden, diese Kenntnis zu erwerben. Im Grunde genommen mache ich das sogar, wenn ich abends eine Kneipentour im meinem Kiez unternehme. Dort nämlich sehe ich die Tatorte, die ich in den Akten wiederfinde, und ich sehe das Publikum, aus dem sich die Menschen rekrutieren, die im Gericht vor mir stehen. Ich habe wirklich mehr als einmal überlegt, ob ich Kneipenrechnungen nicht als beruflichen Fortbildungsaufwand steuerlich geltend machen sollte.

Anwendung des Neuköllner Modells

Kirsten Heisigs Neuköllner Modell war ein Riesenschritt in die richtige Richtung. Leider wird es heute, drei Jahre nach ihrem Tod, kaum umgesetzt. Es ist zu befürchten, dass es bald in Vergessenheit geraten könnte, wenn nicht insbesondere durch die politischen Entscheidungsträger nachhaltig an der Umsetzung dieser großartigen Idee gearbeitet wird. Nach meinen Recherchen versuchen nur die Bundesländer Berlin und Bayern, das Modell langsam zu etablieren. In Berlin wurden im Jahr 2012 292 Verfahren durchgeführt, in Bayern etwa 150, was bezogen auf alle Jugendstrafverfahren einen verschwindend geringen Anteil darstellt. Immerhin hat man hier erkannt, wie wichtig dieses Modell ist.
In Berlin soll aktuell wissenschaftlich ausgewertet werden, warum das Neuköllner Modell nur in so wenigen Fällen durchgeführt wird, obwohl fast alle Jugendrichter gewillt sind, diesbezügliche Verfahren vorrangig zu bearbeiten. Einige konkrete Weisungen an die Verantwortlichen bei der Polizei würden sicherlich schon ausreichen.
In den meisten anderen Bundesländern, so auch bei mir in Brandenburg, hielt man die Umsetzung bisher nicht für notwendig. Dies ist um so unverständlicher, weil es meiner Meinung nach in mindestens fünfzig Prozent aller Fälle bei vernünftiger Zusammenarbeit von Polizei und Staatsanwaltschaft ohne Weiteres durchgeführt werden könnte. An den Richtern liegt es jedenfalls nicht, wie das Beispiel Berlin zeigt. Dort wurde sogar der Richter am Amtsgericht, Stephan Kuperion, mit zwanzig Prozent seiner Arbeitszeit freigestellt. Seine Kollegen leisteten also freiwillig Mehrarbeit, um ihm die Zeit zu geben, die Polizei für das Neuköllner Modell zu schulen. Eigentlich wäre das allerdings Sache des Justizsenators gewesen. Er hätte Kuperion, den alten Weggefährten von Kirsten Heisig, für ein ganzes Jahr freistellen sollen, damit er viel mehr für das Modell hätte werben können. Er könnte gewissermaßen eine Art »Beauftragter für die Beschleunigung der jugendrichterlichen Verfahren« sein, wenn man es denn nur wollte.
Die staatlichen Institutionen scheinen es jedoch einfach nicht zu schaffen, die Verfahren erzieherisch sinnvoll, also so schnell wie möglich, auf die Richtertische zu bringen. Verfahren schnell zu Gericht zu bringen ist im Übrigen nicht Aufgabe der Gerichte, sondern der Polizei und Staatsanwaltschaft, politisch gesehen sind also die Innen- und Justizminister gefordert.
Zu fordern wäre, dass das Neuköllner Modell im Jugendrecht zwingend angewendet werden muss. Es muss möglich sein (u...

Inhaltsverzeichnis

  1. [Titelinformationen]
  2. [Impressum]
  3. Inhalt
  4. Vorwort
  5. Rote Haare, Sommersprossen sind des Teufels Artgenossen!: Biografische Anmerkungen
  6. Mit dem ersten Fall sofort in medias res: Das Dolgenbrodt-Verfahren
  7. Meine Arbeit als Richter: Depressionen abseits des Mythos
  8. Malen nach Zahlen: Warum rosarote Statistiken mit Vorsicht zu genießen sind
  9. Konservativ, links und ich: Dreierlei Sozialromantik und mein erster Schuss vor den Bug
  10. Meine Kampfansage an die rechte Szene: Kooperation macht stark
  11. Mike, Heiko und andere Schläger: Warum Generalprävention ein Thema ist, das unbedingt ins Jugendrecht gehört
  12. Der Fall Daniel: Schnelligkeit wirkt
  13. Der Fall Heike: Was passiert, wenn die Strategie der Milde versagt
  14. Eine Szene verschwindet: Ergebnisse konsequenten Handelns
  15. Zu oft zu spät: Warum ich statt Jugendrichter Erziehungsrichter sein müsste
  16. Warnschussarrest: Missverständnisse, konservative Sozialromantik und halbe Sachen
  17. Intensivtäter: Warum der Staat an ihrer Entstehung eine Mitschuld trägt
  18. Richter der Kiffer?: Wieso die Legalisierung von Cannabis kein Drama, sondern eine Wohltat für diesen Staat wäre
  19. Der Öffentlichkeitsarbeiter: Warum es wichtig ist, auch als Richter den Mund aufzumachen
  20. Eine Art von Seelenverwandtschaft: Warum ich mich dem Erbe Kirsten Heisigs verpflichtet fühle
  21. Christian Pfeiffer, die DVJJ und die Deutungshoheit im Justizwesen: Im Reich der linken Sozialromantik
  22. Was zu tun ist: Modernes Jugendrecht
  23. Nachwort
  24. Anmerkungen