Am Anfang des Textes sprach ich davon, dass wir alle Kraft in die Kontaktarbeit stecken sollten. Dieser Ansatz war zunächst geprägt von schlichter Funktionalität. Er war geprägt davon, dass sich basierend auf wissenschaftlichen Quellen nachweisen lässt, dass Kontaktarbeit tatsächlich Bindungen stärkt. Aber – und diese Kritik war berechtigt – mit Glauben hatte das nichts zu tun.
Wenn ich aber ausgehend vom Relevanzproblem und der tatsächlichen Realität, dass nur noch geringe Restbestände des katholischen und evangelischen Glaubens innerhalb der beiden Kirchen vorhanden sind, erneut nachdenke, was der Kirche eine Zukunft bringen kann, dann komme ich zu der Überzeugung, dass es tatsächlich der Kontakt und das Gespräch über den Glauben mit allen kritischen Anfragen ist. Deshalb will ich, dass die Kirchengemeinden losziehen und das Gespräch mit ihren Mitgliedern suchen. Deshalb will ich, dass wir die kirchlichen Ressourcen so neu ausrichten, dass mehr Zeit übrig bleibt für das Gespräch mit denen, die nicht in die Kirche kommen, sondern nur noch Mitglied in ihr sind.
Niemand wird alle bestehenden Strukturen in der Kirche auflösen. Nirgendwo werden 30 Personen in einer Gemeinde mit nur 5.000 Haushalten eingesetzt werden. Aber der Gedanke hilft. Eine Maximalprojektion nennt man das, ein radikales Gedankenspiel »Was wäre, wenn?«. Die Folge daraus sollte nicht Resignation sein, sondern der Versuch, im Kleinen in diejenige Richtung zu handeln, die einen im Großen überzeugt.
»For the many not the few!« – »Für die Vielen, nicht die Wenigen!« lautet ein populärer Slogan in Großbritannien. Er sammelt die Masse der Menschen mit niedrigem und normalem Einkommen gegen die Wenigen mit den höchsten Kapitalbeständen. Für die Kirche kann das Motto, wenn es zu einer echten Missionierung der 90 Prozent inaktiver Mitglieder kommen soll, so nicht lauten. »Nicht die Wenigen!« kann keine kirchliche Antwort darauf sein, dass 10 Prozent der Mitglieder traditionellen kirchlichen Sozialformen so lange treu geblieben sind. Es kann und darf keine Antwort auf Gebet und Heimat in der Kirche sein, diese komplett abzuschaffen. Das Motto für einen kirchlichen Entwicklungsprozess mit dem Ziel einer Kirche für alle kann nur im Sinne einer Missionsbewegung gelingen, bei der diejenigen, die noch katholisch oder evangelisch glauben, mit ihrem Glauben losziehen und das Gespräch mit denen suchen, die das kaum mehr oder gar nicht mehr tun, aber ihre Kirche noch nicht aufgegeben haben. Aufsuchen nicht um zu erklären, was man glauben soll, sondern, um auch selbst im Gespräch mit anderen mehr über den eigenen Glauben zu lernen. So wie die frühen Christen erst im Kontakt mit den Griechen in Jesus ihren Gott erkannten, sollen auch Gläubige heute bereit sein, mehr über ihren Gott im Diskurs mit denen zu erfahren, die das tradierte Gottesbild nicht teilen. »Mit den Wenigen zu den Vielen« oder schlauer »Mit den Wenigen zu den Vielen und damit näher zu Gott«.
Weil aller Anfang schwer ist, werde ich im Folgenden einen Weg skizzieren, wie eine Gemeinde sich selbst so organisieren kann, dass sie ganz ohne Hilfe von außen mehr Gespräche mit all jenen führt, die heute noch in der Kirche sind, aber längst nicht mehr kommen. Die nachfolgenden Schritte verstehen sich dabei weniger als fertige Anleitung denn als Inspirationsquelle für eigene lokale Lösungen und Wege hin zu einer aufsuchenden Kirche, in der am Ende die Christenheit mehr über ihren Gott weiß.
Das Erbe ist verprasst
Keine Veränderung in der Kirchengemeinde kann gegen diejenigen gelingen, die bereits da sind. Wer Menschen mitnehmen will für einen neuen Weg, der muss sie zum Träumen UND Hoffen bringen. Es muss die Lust entstehen, eine Veränderung mitzugestalten, statt gegen sie anzukämpfen. Das gilt für jeden Einzelnen von uns selbst.
Kirchliche Entwicklung scheitert viel zu oft daran, dass sie versucht, Kürzungen attraktiv zu machen. Entwicklungsprozesse sind viel zu oft nur eine billige Verpackung gegen die Angst und werden zu Recht als solche enttarnt und kritisiert. Daher ist die Kürzung nicht der richtige Moment für einen Neuanfang, sondern im Grunde jeder Tag davor. Der richtige Tag ist der, an dem man gar nichts ändern muss, sondern nur etwas ändern will. Der richtige Tag ist der, an dem ich etwas über meinen Gott lernen will, statt andere über meinen Gott zu belehren.
Für mich steht am Anfang der Bewegung von den Wenigen hin zu den Vielen das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Ich weiß, es ist das eine Gleichnis, das uns allen zum Halse raushängt, weil es so oft genutzt wird. Aber vielleicht ist meine Interpretation ja mal ausnahmsweise überraschend …
Jesus berichtet im Gleichnis davon, dass ein Sohn sein Erbteil einfordert, fortzieht und sein ganzes Erbe verprasst. Der andere Sohn bleibt in der Familie. Irgendwann kehrt der eine einsame Sohn aus Verzweiflung zurück und der Vater feiert ein Fest. Der Sohn, der all die Jahre geblieben ist, ist voller Eifersucht. Doch der Vater antwortet: »Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein, denn dieser dein Bruder war tot und ist lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden.« (Lk, 15,32)
Vielleicht ist der Anfang der Bewegung hin zu den Vielen eine Predigt basierend auf dem Gleichnis vom verlorenen Sohn. Aber nicht, indem wir die immer gleiche Predigt dazu halten, dass wir uns über jeden freuen müssen, der kommt. Dass wir auch denjenigen gute Angebote bieten müssen, die nur für eine Taufe oder für eine Hochzeit zu uns kommen. Nicht in der Form, dass wir uns um diejenigen besonders bemühen müssen, die in der Kirche nur noch einen Dienstleister für besondere Anlässe sehen. Nicht schon wieder in genau der gleichen Weise.
Ich glaube, man muss anders auf das Gleichnis des verlorenen Sohns schauen: Wir haben nicht einen Sohn verloren, sondern fast alle. 9 von 10 Söhnen sind gegangen. Sie sind nicht ausgetreten, gehören noch zur Familie, aber sie kommen nicht mehr, um am Leben der Gemeinde teilzuhaben.
Nicht die anderen sind verlorene Söhne, sondern die Aktiven in den Gemeinden sind es. Die haben das Erbe genommen und es verprasst. Verprasst für Orgeln und Kirchenbauten, Küchen im Gemeindehaus und Fachstellen. Langsam wird das Leben in den Gemeinden knapp. Immer weniger ist los und das frustriert. Das Gemeindeleben fühlt sich hohl an ohne die Familie, die wir irgendwo zurückgelassen haben. Der letzte Rest Gemeindeleben ist viel zu oft so frustrierend wie das Schweinehüten. Die Aktiven in der Kirche sind der verlorene Sohn, der in de...