Ein Jahr in Venedig
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Ein Jahr in Venedig

Reise in den Alltag

  1. 192 Seiten
  2. German
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Ein Jahr in Venedig

Reise in den Alltag

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Inhaltsverzeichnis
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Über dieses Buch

Die magische Anziehungskraft der Lagunenstadt. Das Versprechen, Teil einer einzigartigen Welt zu sein. Aber was passiert, wenn das Leben an diesem Ort zum Alltag wird? Frauke Schlieckau erzählt von einem Jahr in einer Stadt, die auf Pfählen ins Meer gebaut ist, in der es keine Autos, aber jede Menge Sagen und Mythen gibt …

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783451804311

Februar

… in dem ich einen einsamen Valentinstag in der vermeintlich romantischsten Stadt der Welt verbringe, versuche, dem System des venezianischen Labyrinths auf die Spur zu kommen, eine Frau vom Markusturm springt und zu allem Überfluss auch noch Karneval ist.
DAS WOHNHEIM entpuppte sich als ein imposantes altes Gebäude. Grau, mächtig und ungastlich hob es sich von den zahlreichen, filigraneren Häusern der Umgebung ab. Ich zog an der schweren Eingangstür, aber sie war verschlossen. Dann bemerkte ich, dass neben der Sprechanlage ein Zettel für mich hing. „Bitte bei Ilaria im zweiten Stock klingeln. Grazie!“, hatte jemand in krakeliger Schrift mit Filzstift auf das Papier geschrieben. Ich schellte. Alles blieb still. Während ich wartete, betrachtete ich den Platz, an dem das Wohnheim lag. Im Gebäude gegenüber öffnete ein vor sich hin pfeifender Kellner gerade die Türen seiner Bar, an deren Tresen eine Gruppe Italiener ihren Cappuccino tranken. Sie schienen bereits auf dem Weg zur Arbeit zu sein, denn sie trugen Anzüge und bunte Krawatten, deren leuchtende Farben sich von ihren verschlafenen Morgengesichtern abhoben.Von der Wohnheimtür aus sah ich, wie der barista seinen Kunden die weißen Tassen reichte, und beschloss, vom nächsten Tag an ebenfalls den italienischen Gepflogenheiten zu folgen und dort meinen Morgenkaffee al banco, also stehend am Tresen zu nehmen.
Ich blickte auf die Uhr. Es waren bereits fünf Minuten vergangen, ohne dass sich im Inneren des Gebäudes etwas getan hatte. Als ich gerade überlegte, ein weiteres Mal zu klingeln, öffnete sich schließlich doch noch die Tür, und ein Mädchen, bei dem es sich um Ilaria aus dem zweiten Stock handeln musste, streckte den Kopf heraus. Ihr Gesicht zierte eine grüne Gurkenmaske, und sie hatte ihre verwuschelten Haare in einem Dutt auf dem Kopf zusammengebunden. Ilaria trug einen ausgeleierten blauen Trainingsanzug, der mein Bild von der stets elegant gekleideten Italienerin ein für alle Mal zunichtemachte. „Da bist du ja endlich“, sagte sie zur Begrüßung mit leicht vorwurfsvoller Stimme und fügte hinzu: „Ich habe schon auf dich gewartet“, während ich nicht mehr als ein heiseres „ciao“ herausbrachte. Dann bedeutete sie mir einzutreten und verschwand im Inneren des Gebäudes. So viel also zu meinen Italienischkenntnissen, dachte ich deprimiert und folgte Ilaria in den Eingangsbereich, der im Stil einer Hotellobby mit einem hölzernen Empfangstresen ausgestattet war, dessen Rückseite eine von Postfächern gesäumte Wand bildete, in denen vereinzelt Briefe und bunte Postkarten darauf warteten, in Empfang genommen zu werden.
Ilaria trat hinter den Tresen, griff nach einem der Schlüssel und zeigte auf eine Reihe von Listen, in denen ich mich künftig für die Mahlzeiten eintragen, Gäste vermerken und meine eigene Abwesenheit protokollieren sollte. Sie erklärte mir, dass im Wohnheim um Mitternacht die Türen abgeschlossen würden, es aber für jene, die später zu kommen gedachten, acht Nachtschlüssel gebe. Im Flur hing eine Liste, auf der akribisch genau verzeichnet war, welche Bewohnerin an welchem Datum diese Nachtschlüssel, die chiavi notturne, verwahrte. Dahinter folgten eine Zimmernummer und ein Stockwerk sowie die Angabe, dass die Schlüssel zwischen 19 und 22 Uhr bei der jeweils zuständigen Person abgeholt werden konnten. Dann führte Ilaria mich durch das Treppenhaus, vorbei an einem jener schmiedeeisernen alten Fahrstühle, die den Blick ins Innere auf die Fahrgäste freigeben, in einen niedrigen Aufenthaltsraum im Souterrain, der mit seinen geweißelten Wänden und dem gekachelten Fußboden eine karge Atmosphäre ausstrahlte.
An der Querseite des Raums befand sich der Durchgang zur Waschküche. Schon von Weitem entdeckte ich eine Liste für die Nutzung der Waschmaschine, in einer zweiten musste man mit Datum und Uhrzeit die Benutzung des Bügeleisens registrieren. Wer auch immer behauptet, die Italiener seien chaotisch – von den Mädchen, die hier im Wohnheim lebten, kann er nicht gesprochen haben.
Angesichts der zahlreichen papiernen Kontrollinstanzen beschlich mich ein etwas klammes Gefühl. Langsam wurde mir klar, dass ich von nun an Teil eines wohlgeordneten, strukturierten und durch und durch kontrollierten Systems sein würde. Ilaria hingegen schien die hier vorherrschenden Regeln durchaus normal zu finden, zumindest erweckte es diesen Anschein, als sie sich gut gelaunt für ein vegetarisches Menü in die Liste für la cena, das Abendessen, eintrug. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, während ich die Wendeltreppe, die den Fahrstuhl umgab, hinauf in den zweiten Stock stieg, wo ich, Ilaria, mit der ich von nun an ein Zimmer teilen sollte, ganz am Ende eines langen Flures, in einen geräumigen, aber ausgesprochen seltsam möblierten Raum folgte.
Auf dem typisch venezianischen Terrazzoboden stand ein Etagenbett aus rotem Metall im Jugendherbergsstil unmittelbar neben einem Monster von Furnierholzschrank. Jemand hatte die beiden Schreibtische nebeneinander an die Wand geschoben und die dazugehörigen Stühle im Zimmer verteilt. Alle Möbelstücke waren übersät mit den Habseligkeiten meiner neuen Mitbewohnerin. Das obere Bett schien wohl für mich gedacht, denn es war unbezogen, während auf dem unteren eine Tagesdecke lag, auf der zahlreiche Kuscheltiere saßen. Neben einem der beiden Tische lehnte eine Gitarre. In der hinteren Ecke tropfte der Wasserhahn eines vergilbten Waschbeckens vor sich hin. Die Wände, die zahlreiche Löcher aufwiesen, vermutlich Spuren früherer Bewohner, waren, wie auch die Frontseite des Schrankes, mit Postern bedeckt. Ilaria schien ein Fan des Schnulzensängers Tiziano Ferro zu sein. Ich stellte meine Tasche ab und entschied, so schnell wie möglich wieder auszuziehen.
Inzwischen war es halb neun, im Wohnheim herrschte immer noch völlige Stille, nur ab und an huschte eine Gestalt im Jogginganzug durch die Flure. Auf dem Weg zurück ins Erdgeschoss inspizierte ich das Studierzimmer, einen achteckigen Raum, dessen breite Fensterfront den Blick auf den Platz vor dem Wohnheim freigab. Eine Tür führte auf einen schmalen Balkon mit einer geschwungenen, steinernen Balustrade, und als ich hinaustrat, um mich umzusehen, und über die Dächer der umliegenden Häuser blickte, wurde mir wieder etwas leichter ums Herz.
Wenig später verließ ich das Gebäude. Es stellte sich heraus, dass mein Wohnheim in unmittelbarer Nähe der Ferrovia, des Bahnhofs, lag, und so erwies sich meine teure Fahrt auf dem Canal Grande im Nachhinein als überflüssiges Unterfangen. Da ich aus Berlin andere Distanzen gewohnt war, hatte ich die Entfernung auf dem Stadtplan falsch eingeschätzt, denn tatsächlich war mein neues Zuhause kaum zehn Minuten von der Zugstation entfernt, und so konnte ich mein Gepäck nach und nach zu Fuß zum Wohnheim bringen. Zweimal musste ich, schwer bepackt, den Weg über die Scalzi-Brücke, die unweit des Bahnhofs die beiden Ufer des Canal Grande miteinander verbindet, noch zurücklegen, bis ich alle Koffer in mein Zimmer transportiert hatte.
Anstatt auszupacken, verließ ich das Wohnheim, ging ein wenig spazieren und setzte mich schließlich auf die Stufen der Scuola Grande di San Rocco, wo ich ein paar frittelle, in Öl gebackene, mit zabaione und crema gefüllte Teigbällchen, aß und die Touristen beobachtete, die sich in einem ruhigen Strom an mir vorbeischoben. Ein Mann bahnte sich den Weg durch ihre Mitte. Er war groß, dünn und offensichtlich Italiener, denn er schritt mit dem zügigen Gang, der den Venezianern eigen ist und an dem man diese zwischen den Touristen sofort erkennt, Richtung Frari-Kirche.
Die Art der Einheimischen, sich fortzubewegen, ist würdevoll, denn die Venezianer begreifen sich als etwas Besonderes. Durch ihren schnellen Schritt den geradeausgerichteten Blick, mit dem sie nur beiläufig die Auslagen der Geschäfte mustern, durchqueren sie zielstrebig die Stadt, als wollten sie demonstrieren, dass sie genau wüssten, wohin ihr Weg sie führt, ohne sich jedoch dabei die Blöße zu geben, gehetzt zu wirken. Es ist eine lässige Eile, mit der sie den schleichenden, schwerfälligen Touristen und den von Unruhe getriebenen Bildungsjägern gegenüber eine überlegene, fast aristokratische Haltung an den Tag legen. Dieser Mann, der dort ging, in etwas abgerissener Kleidung, er beherrschte den venezianischen Gang perfekt. Während ich ihm noch hinterhersah, hatte er sich schon seinen Weg durch die Masse gebahnt, die sich hinter ihm schloss und ihn verschluckte.
Um der tristen Atmosphäre im Wohnheim zu entkommen, verbrachte ich auch die folgenden Abende damit, ziellos durch die Stadt zu spazieren, die nachts erstaunlich leer und unbegangen war. Die Lichter der vielen erleuchteten Fenster spiegelten sich auf dem Wasser der kleinen Kanäle. Jedes der Häuser, an denen ich vorbeiging, schien mir einladender zu sein als das große graue Gebäude, in dem ich seit einigen Tagen lebte. Mein Atem gefror in der Luft. Es war noch kälter geworden. Von irgendwoher hörte ich Stimmengewirr und lautes Lachen, dann wurde ein Fenster zugeschlagen. Fröstelnd zog ich meinen Mantel enger um mich, während ich den Heimweg durch die ausgestorbenen Gassen suchte. Die Absätze meiner Schuhe hallten laut auf den Trachyt-Platten.
An einem dieser Abende hörte ich kurz vor dem Wohnheim jemanden meinen Namen rufen. Zuerst glaubte ich an eine Sinnestäuschung, eine Wunschvorstellung meinerseits, aber so schnell konnte einen die Einsamkeit wohl kaum in den Wahnsinn treiben. Als sich das Rufen wiederholte, blieb ich stehen und drehte mich um. In einiger Entfernung stand eine dunkelhaarige Frau in einer roten Jacke und winkte mir zu. Ich ging auf sie zu und erkannte bereits nach wenigen Metern, dass es sich um Alessia handelte, eine ernsthafte Italienerin, die ich flüchtig von ihrem Auslandsaufenthalt in Berlin kannte. Alessia war nach ihrer Zeit in Deutschland nach Venedig zurückgekehrt, um hier ihren Abschluss an der Università Ca’ Foscari zu machen. Da wir nicht Kontakt gehalten und uns überhaupt nur ein einziges Mal getroffen hatten, war sie direkt nach unserer Begegnung an der Spree aus meinem Gedächtnis verschwunden. Inzwischen arbeitete sie als Journalistin für verschiedene Zeitungen und schrieb für das venezianische Blättchen Il Gazzettino genauso wie für die überregionalen Tageszeitungen La Stampa oder La Repubblica. „Was machst du denn hier?“, fragte sie überrascht und schien ehrlich erfreut, als ich ihr erzählte, dass ich gerade erst angekommen war und nun für ein Jahr hier leben würde.
„Was für ein Zufall, ich dachte, ich kenne hier keine Menschenseele, und dann begegne ich dir!“ Gewohnt an die Berliner Großstadtanonymität, konnte ich es nicht fassen, bereits nach so kurzer Zeit einem bekannten Gesicht über den Weg zu laufen. Alessia lachte. „Venedig ist ein Dorf ! Hier triffst du jeden ungefähr drei Mal am Tag. Und wehe, du versuchst, ein Geheimnis für dich zu behalten! Aber das wirst du ja bald selbst merken. Hast du schon ein Spritz getrunken? Das musst du unbedingt probieren!“ Sie zog mich hinter sich her zu einer beleuchteten Bar an der anderen Seite des Platzes.
„Halt! Ich schließe gerade!“, rief der barista, als wir die Schwelle überquerten, in unsere Richtung, und scheuchte uns mit einer Handbewegung aus der Tür. „Es ist doch gerade mal neun Uhr!“, protestierte ich, aber er schüttelte nur den Kopf. „Ich bin müde, ich habe gestern zu wenig geschlafen und muss ins Bett.“ Mit einem scheppernden Geräusch ließ er das Metallgitter vor dem Eingang herunter. Alessia zuckte gleichgültig mit den Achseln. „So sind sie halt, die Venezianer, pieni di soldi, vollgestopft mit Geld.Viele von ihnen haben es überhaupt nicht nötig zu arbeiten.“
Im Caffè Rosso, einem beliebten Studententreffpunkt, kam ich wenig später doch noch zu meinem ersten Spritz. Das Lokalgetränk der Venezianer, das bis in die Achtzigerjahre kaum außerhalb von Venedig erhältlich war und nur langsam seinen Weg nach Deutschland gefunden hat, ist eine Mischung aus Weißwein, Wasser und Aperol, Select oder Campari. Garniert mit einer Olive und einer Orangen- oder Limonenscheibe wird es hier von allen Altersklassen und zu allen Uhrzeiten getrunken. Oft sieht man schon morgens um zehn hinter den Fensterscheiben der Bars Gläser mit der orangefarbenen Flüssigkeit aufleuchten. Wer Alkohol nicht besonders gut verträgt, der sollte es allerdings lieber bei einem Glas belassen, denn das Spritz, das ursprünglich ein Erbe der Habsburger ist, ist stärker, als der Geschmack vermuten lässt. Als ich in dieser Nacht an der erleuchteten Fassade der Scuola Grande di San Rocco vorbei, zurück Richtung Wohnheim lief und im zweiten Stock leise meine Zimmertür öffnete, schlug mir Eiseskälte entgegen. Ilaria war anscheinend vor der Kälte geflohen und für ein paar Tage zu ihren Eltern gefahren, denn ihr Bett war leer. Ich berührte mit der Hand den Heizkörper, der auf die höchste Stufe gestellt und trotzdem nur lauwarm war. Offenbar wurde die Wärmezufuhr zentral gesteuert, um, so vermutete ich zumindest, die laufenden Kosten zu senken. Nachdem ich mir drei Pullover übereinander gezogen hatte, rollte ich mich in meinem Bett zusammen, wo ich vor lauter Erschöpfung einschlief, ohne mich weiter um die vorherrschenden Minusgrade oder die Abwesenheit meiner Mitbewohnerin zu kümmern.
Die Tage, die zwischen den Nächten in dem unterkühlten Zimmer lagen, verbrachte ich damit, durch die Stadt zu wandern, stundenlang, mit blaugefrorenen Händen, krampf haft den Stadtplan festhaltend. Da es im gesamten Wohnheim bitterkalt war und sich die Heizung weiterhin nicht aufdrehen ließ, hatte ich beschlossen, mich zu bewegen, in der Hoffnung, mich dadurch von innen aufzuwärmen. Sorgfältig studierte ich auf dem auseinandergefalteten Papierbogen den Verlauf der Gassen und folgte akribisch den Angaben auf der Karte.
Wie aber sollte ich mich in Venedig zurechtfinden, wenn schon die Bezeichnungen der Straßen und Plätze derart verwirrend waren? Die Kanäle hießen nicht canal, sondern rio, also in der Mehrzahl rii. Canale wiederum nannten die Venezianer offensichtlich nur jene breiten Gewässer wie den Canale della Giudecca, der die gleichnamige Insel von Venedig trennt. Und dem Canal Grande war, wer weiß weshalb, sein -e am Ende abhandengekommen. Die Plätze hießen nicht piazza, sondern campo oder campiello. Piazza hingegen war als Bezeichnung dem Markusplatz vorbehalten, wodurch seine vorrangige Stellung als „schönster Salon der Welt“ gegenüber den unzähligen „Freilichtwohnzimmern“ der Stadt noch unterstützt wird. Für zusätzliche Verwirrung sorgt der Umstand, dass die gelben Wegweiser – die helfen sollen, weniger ortskundige Passanten zu den zentralen Anlaufpunkten der Stadt, dem Bahnhof, der Rialto-Brücke und der Piazza San Marco, zu lotsen – mitunter in zwei entgegengesetzte Richtungen zeigen – denn in Venedig, das lernte ich während dieser kalten Februartage schnell, gibt es niemals nur einen Weg, um ans Ziel zu kommen.
Obwohl ich immer wieder aufs Neue feststellte, dass der Stadtplan in vielen Fällen nicht mit der Realität übereinstimmte, manche Wege unerwartet in Sackgassen mündeten und unbedeutende Gassen gar nicht erst verzeichnet waren, gab mir die auseinandergefaltete Karte auf absurde Art und Weise Halt. Mir war, als ob ich ohne sie für immer im Gewirr der unzähligen Ver- und Abzweigungen verloren gehen würde. Erst als ich bei einem dieser Streifzüge am Campo San Polo einer Menschenmasse begegnete, die geschlossen Richtung Rialto strömte, wagte ich es, den Stadtplan in den Tiefen meiner Handtasche zu versenken und meinen Weg von der Topografie der Stadt bestimmen zu lassen. Ich reihte mich zwischen die Spaziergänger ein und beschloss, der Prozession fremder Gesichter an das mir unbekannte Ziel zu folgen. Schon bald stießen immer mehr Leute aus den Seitengassen dazu, viele von ihnen Touristen, so dass ich, eh ich mich versah, von einem vielstimmigen Sprachgewirr eingehüllt wurde. Nach und nach gelang es mir, einzelne Gesichter aus der Masse herauszufiltern. Ich erkannte, dass viele der Touristen Masken in den Händen trugen. Einige schienen unter den Wintermänteln aufwändige Kostüme zu verbergen. Mir war bisher völlig entgangen, dass mit meiner Ankunft offenbar auch der venezianische Karneval begonnen hatte.
Hinter der Rialto-Brücke ließ ich mich von der stetig anwachsenden Masse durch die engen Gassen schieben. Da ich vor lauter Menschen kaum etwas sah, dauerte es eine Weile, bis ich registrierte, dass wir mittlerweile auf dem überfüllten Markusplatz angelangt waren und die Piazza betreten hatten. Wie auf Kommando wurden rings um mich herum Masken aufgesetzt, hier und da verschwanden Mäntel, die bisher Kostüme verdeckt hatten, in den Rucksäcken und Tragetaschen der Urlauber. Sich ihrer Zaungastrolle unangenehm bewusste Touristen in Alltagskleidung gruppierten sich artig längsseitig der Prokuratien. Ich bemühte mich, mir einen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen, ein hilfloser Versuch, auf die andere Seite der Piazza zu gelangen, in der Hoffnung, von dort aus einen besseren Überblick über das Treiben zu bekommen. Als ich gerade aufgeben wollte und mich bereits mit dem Gedanken abgefunden hatte, den Rest des Tages zwischen feierwütigen Karnevalisten gefangen zu bleiben, kam Bewegung in eine größere Gruppe, die in meiner Nähe stand.
Wie aus einer stummen Vereinbarung heraus, bildete sich in der Mitte des Platzes eine Gasse, durch die sich nur wenig später ein Festzug aus verkleideten Gestalten bewegte. Ihre historischen Kostüme glänzten und schimmerten im hellen Tageslicht. Noch während ich die Teilnehmer des Spektakels beobachtete, die sich in alle Richtungen drehten und wendeten, merkte ich, dass die Menge anfing, unruhig zu werden, und sich die Blicke der Umstehenden gen Himmel richteten. Sie schienen auf etwas zu warten, von dem offensichtlich nur ich nicht wusste, was es sein würde. Als ich es ihnen gleich tat und den Kopf in den Nacken legte, entdeckte ich, dass vom Markusturm aus ein gespanntes Seil hinunter zur Erde verlief, an dem nun unter lautem Gejohle eine Gestalt durch die Luft flog, die aus dem Nichts zu kommen schien. Sie trug ein weißes Gewand und war von einer Konfettiwolke umgeben, während sie in einem steilen Winkel von der Spitze des Markusturms auf uns zuraste und unterwegs beängstigend an Tempo gewann. Ich hielt den Atem an, aber zu meinem Erstaunen kam die Wagemutige unversehrt auf der Piazza San Marco an, wo sie mit den Füßen voran auf dem Boden aufsetzte.
Was es mit diesem seltsamen Flug auf sich hatte, erfuhr ich erst am nächsten Tag, als ich bei meinem morgendlichen caffè saß und zum ersten Mal versuchte, die venezianische Tageszeitung Il Gazzettino zu lesen. Nachdem ich in mühevoller Kleinarbeit eine Stunde lang einen einzigen Artikel übersetzt hatte, wurde ich mit der Information belohnt, dass es sich bei dem Spektakel auf dem Markusplatz um den Volo dell’ Angelo handelte, der jedes Jahr den venezianischen carnevale eröffnet. Traditionsgemäß wird bei diesem Engelsflug eine mehr oder minder prominente Venezianerin von der Spitze des Markusturms herab...

Inhaltsverzeichnis

  1. [Titelinformationen]
  2. [Impressum]
  3. Ankunft in Venedig
  4. Februar
  5. März
  6. April
  7. Mai
  8. Juni
  9. Juli
  10. August
  11. September
  12. Oktober
  13. November
  14. Dezember
  15. Januar
  16. Abschied von Venedig
  17. [Informationen zum Buch]
  18. [Informationen zur Autorin]