Andreas Püttmann
Was ist die AfD?
Und wie als Kirche mit ihr umgehen?
In seiner »Berliner Rede 1997« forderte Bundespräsident Roman Herzog: »Durch Deutschland muss ein Ruck gehen!« Inzwischen haben wir einen – doch ganz anders, als wir es uns noch bis vor etwa drei Jahren vorstellen konnten. Ein Rechtsruck schüttelt Deutschland und Europa durch. Sascha Lehnartz skizziert ihn in begrifflicher Reminiszenz an einen Essay von Botho Strauß 1993: »Zunächst enthemmte sich das Reden in obskuren Internetforen, dann zog es in die sozialen Netzwerke und Kommentarspalten der Medien. Ein anschwellender Bocksgesang, der alles abräumen möchte, was unser Gemeinwesen trägt: Parlamente, Medien, Institutionen und ihre Repräsentanten. Der dünne Firnis der Zivilisation wird munter abgeschabt. Der destruktive Charakter, sagt Walter Benjamin, will Platz schaffen. Wofür, weiß er nicht. Als gäbe es ernsthaft etwas Besseres. Das Prinzip Verantwortungslosigkeit hat inzwischen die Wahlkämpfe erreicht. Trumps Kampagne ist dafür ebenso beredtes Beispiel wie Teile der Debatte um den Brexit. In beiden dominiert die Verächtlichmachung des anderen. Es ist ein Hass-Sprechen, das Hass-Taten gebiert.«
Man erfährt es keineswegs nur durch Medienberichte, sondern auch durch Erlebnisse im Bekanntenkreis, sofern man sich in den affizierten Milieus bewegt. Manche Bürger haben sich in erschreckend kurzer Zeit radikalisiert, rechtspopulistisches Vokabular adaptiert und trampeln Widerspruch und Kritik so verärgert nieder, dass man sich an Eugène Ionescos Drama »Die Nashörner« erinnert fühlen kann. Der für die Weimarer Republik verderblichen »Konservativen Revolution« ähnlich, fräste sich antiliberales, antipluralistisches, antidemokratisches und völkisch-nationalistisches Denken, das jahrzehntelang auf sektiererische Zirkel und Zeitschriften der Neuen Rechten beschränkt war, während der Euro-, Schulden- und Flüchtlingskrise bis weit in die bürgerlich-konservative Mitte hinein.
Erschien die »Alternative für Deutschland« (AfD) anfänglich noch als eine Partei der Besserverdienenden (nur jeder Zehnte ihrer Wähler 2014 hatte Sorgen wegen der eigenen wirtschaftlichen Situation, jeder Dritte gehörte zum reichsten Fünftel der Bevölkerung) sowie der formal Höhergebildeten (allerdings mehr der »technischen Intelligenz«), so fanden sich unter den AfD-Wählern bei den Landtagswahlen im März 2016 überdurchschnittlich viele Arbeiter und Arbeitslose; 35 Prozent machten sich nun Sorgen über die eigene wirtschaftliche Lage. Dass die Partei in die sozialdemokratische und linke Kernklientel einzudringen vermochte, ist auch ablesbar am Absacken der SPD von über 30 auf nahezu 20 Prozent – übrigens, wie der Existenzkampf der Liberalen, ein Déjà-vu der späten Zwanziger- und frühen Dreißigerjahre: Die mit 18 Prozent in die Weimarer Demokratie gestartete »Deutsche Demokratische Partei« (DDP) erzielte im September 1930 nur noch 3,8 Prozent, bevor sie, zur »Deutschen Staatspartei« umbenannt, in der Bedeutungslosigkeit verschwand; die SPD sackte von 38 auf 20 Prozent ab. Eine denkwürdige historische Daten-Parallele, selbst wenn man »Die Grünen« als Alternative für Linksliberale aus beiden Parteien mit in Rechnung stellt.
Das »Eigene« gegen das Fremde
Die ängstliche, trotzige oder aggressive Abgrenzung des »Eigenen« vom Fremden, irgendwie Andersartigen ist der Kitt zwischen den sozialen Schichten der AfD-Klientel: »Letztendlich lässt sich alles auf einen Satz reduzieren: Die da oben sind für Immigration, und wir da unten müssen diese ertragen. Wir gegen die. Ein Klassenkampf, der längst klassenübergreifend funktioniert. Auf diesem Level verträgt sich das Großbürgertum glänzend mit dem Proletariat. Rassismus und Xenophobie schweißen die Milieus zusammen.«
Das am prominentesten von Thilo Sarrazin mit seinem Bestseller »Deutschland schafft sich ab« 2010 gemachte Angebot, »sich wenigstens genetisch auf der sicheren, weil ›deutschen‹ Seite zu fühlen«, lässt selbst Arme »einem Mann zujubeln, der Harz IV-Empfängern einst empfahl, sich wärmere Pullover anzuziehen, um Heizkosten zu sparen«. Nationalismus und Rassismus – heute mehr kulturell als biologistisch begründet – sind gleichsam das Opium des »kleinen Mannes«, das ihn über die sozialdarwinistischen Tendenzen der AfD hinwegtäuscht. Diese blitzten etwa in Beatrix von Storchs Distanzierung vom rechtsextremen »Front National« auf, der für die stellvertretende AfD-Bundesvorsitzende keineswegs zu rechts, sondern »eine wirtschafts- und gesellschaftspolitisch sehr linke Partei« ist, die »ihren Sozialismus in Frankreich ausüben« wolle.
Der psychosoziale Mehrwert eines auf Herkunft oder Gesinnung gestützten Selbstwertgefühls ist klar: Dadurch, dass die Ressentimentbürger »jemanden haben, dem sie negative Eigenschaften zuschreiben können, sind sie nicht gezwungen, sich im Vergleich zu ihresgleichen zu betrachten. Selbst der letzte Versager kann sich noch zur Elite zählen.«
Insofern überrascht es nicht, wenn sich das Personal einer Ressentiment-gestützten Partei (spätestens der zweiten und dritten Reihe) als »ein Flohsack an Vorbestraften, mit Haftbefehl Verfolgten, Gescheiterten, Karrieristen, schräg Begabten, Rassisten« darstellt, wie Georg Diez es im »Spiegel« zuspitzte. Wer es objektiver haben will, kann die Leistungsbilanz der AfD-Landtagsfraktionen in Augenschein nehmen: krasser Kenntnismangel, verbale Entgleisungen und Dauerquerelen erschweren die Arbeit der Partei. Wer durch bloße Gesinnungstüchtigkeit und demagogische Begabung nach oben gespült wurde, der wird Anreize zu fleißiger und realistischer Sacharbeit weniger verspüren als jemand, der die »Ochsentour« durch eine Mitgliederpartei in vielfältiger politischer Verantwortung absolviert hat.
Falscher Vergleich zu den »Grünen«
Während die Ende der Siebzigerjahre aufkommenden »Grünen« sich in kleinen Schritten mühsam ins westdeutsche Parteiensystem vorarbeiteten – bei den drei Bundestagswahlen der Achtzigerjahre von 1,5 über 5,6 auf 8,3 Prozent – und erst nach 15 Jahren bei der Europawahl 1994 zweistellig wurden, schnellte die »Alternative für Deutschland« nach ihrer Gründung in nur wenigen Monaten auf 4,7 Prozent bei der Bundestagswahl 2013 und auf zweistellige Ergebnisse bei den Landtagswahlen 2014 empor. In Sachsen-Anhalt wurde sie im März 2016 auf Anhieb zweitstärkste Fraktion, womit es angesichts der vergleichsweise geringen Mitgliederzahl nie eine höhere Chance gab, als Parteimitglied mit einem Parlamentssitz ausgestattet zu werden.
Die Eroberung der politischen Bühne durch die bundesweit fast durchgehend über zehn Prozent liegende AfD erfolgte insofern »geradezu handstreichartig«, stellt Paul Nolte fest: »Was die Dramatik der Entwicklung angeht, muss man weiter zurückblicken als in die 80er-Jahre, nämlich in die Weimarer Republik der 20er- und frühen 30er-Jahre. Völlig unabhängig vom Programm, das eine Partei vertritt, irritiert es einen Historiker, wenn eine neue Formation aus dem Stand 24 Prozent der Stimmen erobert, wie die AfD in Sachsen-Anhalt im März. Darin drückt sich eine quasi-revolutionäre Unruhe aus.«
Nicht nur hinsichtlich der Schnelligkeit ihres flächendeckenden Durchbruchs ist die AfD im Parteiensystem der Bundesrepublik ein Novum. Auch ideologisch ist eine in erheblichen Teilen völkisch-nationalistische bis offen rassistische, die parlamentarische Demokratie mit Diktaturvergleichen diffamierende politische Gruppierung, in der Verschwörungstheorien, Widerstandspathos, Ressentiment und Gewaltverharmlosung wabern, von anderem Kaliber, als die Grünen es je waren, selbst wenn man deren linksradikale Einsprengsel und sexualpolitischen Entgleisungen der Frühzeit beachtet. Im Kern war und ist die Ökopartei links der Mitte trotz gelegentlicher sektoraler Bevormundungstendenzen gesellschaftspolitisch der liberalen Denktradition zuzurechnen, die das Individuum, seine Würde und Rechte in den Mittelpunkt der Staatszwecke stellt.
»Starke Tendenzen, die Systemfrage zu stellen«
Die AfD marginalisierte ihre liberal-konservativen Anteile mit der Abwahl ihres Gründungsvorsitzenden Bernd Lucke auf dem Essener Parteitag im Juli 2015 und dem folgenden Austritt von etwa 2000 Mitgliedern – jedem Fünften. Als Gründe für seinen eigenen Austritt nannte Lucke die Zunahme islam- und ausländerfeindlicher Positionen, eine »antiwestliche, dezidiert prorussische außen- und sicherheitspolitische Orientierung« sowie starke Tendenzen, »bezüglich unserer parlamentarischen Demokratie die ›Systemfrage‹ zu stellen«; er habe die Menge der Mitglieder untersch...