Das Kind verstehen
eBook - ePub

Das Kind verstehen

Entwicklung und Erziehung von 0-3 Jahren nach Maria Montessori

  1. 144 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Das Kind verstehen

Entwicklung und Erziehung von 0-3 Jahren nach Maria Montessori

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Die italienische Ärztin Dr. Silvana Montanaro bringt auf anschauliche und verständliche Weise die wichtigsten Ereignisse und Entwicklungen vor, während und nach der Geburt des Kindes nahe. Dabei zeigt sie deutlich auf, worauf es jeweils aus der Sicht der Montessori-Pädagogik besonders ankommt: Es geht es in diesem Handbuch um zentrale Themen wie Bindung und Urvertrauen, Stillen und Schnuller, die Anregung der Sprach- und Bewegungsentwicklung.

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Das Kind verstehen von Silvana Quattrocchi Montanaro, Markus Bennemann im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Bildung & Frühkindliche Bildung. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Jahr
2014
ISBN
9783451801228

9 Die motorische Entwicklung

Einleitung

Die Ausbildung der Motorik ist einer der wichtigsten Aspekte der frühkindlichen Entwicklung. In diesem Kapitel werde ich einen Überblick über diesen Prozess geben und dabei wie gewohnt auf seine physischen und psychologischen Auswirkungen eingehen. Auch ohne viel Geld auszugeben oder komplizierte Apparate zu benutzen, kann man dem Kind gut helfen, diese Entwicklungsstufe erfolgreich zu meistern, wenn man weiß, was dabei vor sich geht. Die Fähigkeit zur selbstständigen Bewegung ist ein wesentliches Merkmal des Lebens. Da sie ihnen erlaubt, das zu erreichen, was sie brauchen, und dem auszuweichen, was ihnen schaden kann, stellt diese Fähigkeit für alle Lebewesen ein unverzichtbares Hilfsmittel beim Überleben dar. Im Laufe der Evolution hat sich die Bewegungsfähigkeit der Lebewesen immer weiter fortentwickelt, von den einfachen Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen einzelliger Organismen hin zu den komplexen Bewegungsabläufen, zu denen wir Menschen fähig sind. Die Art der Bewegung, die hier erörtert werden soll, ist die willkürliche Bewegung, durch die wir einen Gedanken in eine Tat umsetzen. Nur mithilfe solcher willkürlicher Bewegungen kann ein Mensch seine Gedanken und Ideen Realität werden lassen. Sie dienen ihm als Instrument, das er für jeden nur denkbaren Zweck einsetzen kann.
Was ihre Bewegungsfähigkeit angeht, verlassen Kinder den Mutterleib, bevor sie wirklich bereit dafür sind. Die einzigen Körperteile, die sie willkürlich bewegen können, sind ihr Mund (dessen Muskeln dem Kind ermöglichen, an der Brustwarze zu saugen) und die Kehle (deren Muskeln ihm ermöglichen, die über die Brustwarze aufgenommene Milch zu trinken sowie zu schreien, um die Aufmerksamkeit seiner Mutter auf sich zu ziehen). Dies stellt allerdings einen guten Kompromiss dar zwischen der Notwendigkeit, dass das Kind mit seinem Kopf durch den Geburtskanal passt, und dem, was an körperlichen Fähigkeiten zum Überleben in seiner neuen Umwelt unmittelbar notwendig ist. Aus diesem Grund bringen Kinder bei der Geburt nur ein Minimum an Bewegungsfähigkeit mit.
In Kapitel 2 bin ich auf die äußere Schwangerschaft eingegangen, während der das Kind sich weiter entwickelt. Interessanterweise benötigen kleine Kinder genau die gleiche Zeit wie neugeborene Primaten, um motorische Fähigkeiten auszubilden, nämlich acht bis neun Monate. Junge Primatenkinder klammern sich mit den Händen im Fell der Mutter fest und werden von dieser mehrere Monate lang auf dem Rücken getragen. Menschliche Neugeborene hingegen sind dazu nicht in der Lage, denn sie besitzen zwar die nötigen Nervenzellen, jedoch sind die Nervenfasern, welche die Zellen verbinden, noch nicht mit Myelin umhüllt. Diese fettreiche Hülle erfüllt bei den Nervenfasern eine ähnliche Rolle wie das Isoliermaterial, mit dem elektrische Leitungen umhüllt sind, und sorgt für eine effektive Übertragung elektrischer Impulse an die Muskeln. Weil sich bei Neugeborenen diese Hülle aus Myelin um die Nervenfasern noch nicht gebildet hat, sind sie in ihrer Bewegungsfähigkeit stark eingeschränkt. Deswegen können sie zum Beispiel nicht aus eigener Kraft den Kopf aufrecht halten und müssen gestützt werden. Selbst die Augen können sie anfangs noch nicht bewegen, auch wenn sich diese Fähigkeit bei günstigen Umweltbedingungen rasch einstellt. Bis sämtliche Nervenfasern mit Myelin umhüllt sind, dauert es ungefähr ein Jahr. Diese sogenannte Myelinisierung beginnt im oberen Körperbereich und bewegt sich von dort nach unten.
Die Fähigkeit, Bewegungsabläufe bewusst zu steuern, entwickelt sich schnell: Während das Kind bei der Geburt praktisch noch gar keine Körperkoordination besitzt, ist es mit zwölf Monaten bereits zu einem der komplexesten Bewegungsabläufe überhaupt fähig: auf zwei Beinen zu gehen. Dazu ist ein ausgeklügeltes körperliches Gleichgewichtssystem nötig, das sich beim Kind sehr rasch entwickelt. Ein neugeborenes Kind mag hilflos wirken, doch sollten wir uns stets der Tatsache bewusst sein, dass sich trotz der vielen Schwierigkeiten, die es in der Umwelt zu meistern gilt, seine motorischen Fähigkeiten mit jedem Tag ein wenig verbessern. Bei normaler Entwicklung lernen alle Kinder früher oder später, ihre Bewegungen zu steuern. Doch sollte man sich im Klaren darüber sein, dass besonders im ersten Lebensjahr die Einschränkung der Bewegungsfreiheit zu schwerwiegenden psychischen Konsequenzen führen kann, die einer harmonischen Persönlichkeitsentwicklung im Wege stehen.

Die verschiedenen Stufen der Bewegungsfähigkeit

Die Bewegungsfähigkeit des Menschen entwickelt sich in drei Stufen, von denen jede einzelne ihm neue Bewegungsmöglichkeiten eröffnet. Diese Stufen sind mit jenen Fortbewegungsarten identisch, die sich an verschiedenen Lebewesen im Laufe der Evolution zeigen: Robben, Krabbeln, Laufen.
Bei der Fortbewegung mit dem ganzen Körper den Boden zu berühren (oder einen anderen Untergrund) ist typisch für Reptilien. Selbst wenn Reptilien Beine haben, sind diese meist nur sehr kurz und können nicht den gesamten Körper tragen, sondern stoßen ihn nur vorwärts. Diese Art der Fortbewegung hängt mit jenem sehr alten Teil des Gehirns zusammen, der in Kapitel 1 beschrieben ist. Sich mit erhobenem Kopf und Körper fortzubewegen ist typisch für vierbeinige Säuger. Das erlaubt ihnen, sich sehr schnell fortzubewegen und in kurzer Zeit große Strecken zurückzulegen. Diese Art der Fortbewegung hängt mit dem zweitältesten Teil des Gehirns zusammen. Irgendwo zwischen dem vierbeinigen Gang der Säugetiere und dem aufrechten Gang der Menschen liegt die Fortbewegungsart der Primaten, die ebenfalls auf zwei Beinen gehen können (jedoch stets nur über kurze Strecken). Sie nutzen den zweibeinigen Gang, um mit den Armen besser Nahrung aufsammeln zu können, sowie für eine Reihe anderer Aktivitäten. Das wird ihnen dadurch ermöglicht, dass sich an ihren vorderen Gliedmaßen Hände ausgebildet haben. Auch bei diesen Primaten kümmert sich die Mutter intensiv um ihren Nachwuchs. Schaut man sich die Hände der Primaten jedoch genau an, erkennt man, dass sie sich von denen des Menschen unterscheiden, besonders was die ersten beiden Finger angeht. Gerade die Tatsache, dass Daumen und Zeigefinger einander gegenüberstehen, ermöglichte jene hochkomplizierten Bewegungen, auf denen die gesamte menschliche Kultur basiert – von der Architektur bis zum Schreiben, von der Musik bis zum Malen –, sowie alle technischen Fortschritte, die unser Leben bereichern. Wenn wir zum Menschen kommen und der dritte Teil des Gehirns sich vollständig entwickelt hat, ist die Beherrschung des aufrechten Gangs so perfekt, dass sie eine sehr rasche Fortbewegung ermöglicht. Jetzt müssen auch die Arme nicht mehr eingesetzt werden, um das Gleichgewicht zu halten, sondern dienen nun vorrangig dem Führen der Hände, die zusammen mit dem Mund zu den menschlichsten Teilen des Körpers werden, deren Bewegungen über besonders viele Nervenzellen und Nervenfasern gesteuert werden. Der größte Teil der Hirnrinde dient allein der Steuerung der Hände und des Mundes. An Bildern, die zeigen, welche Teile der Hirnrinde für die Steuerung welcher Körperteile verantwortlich sind, können wir erkennen, welch herausragende Rolle Hände und Mund in unserem Leben spielen. Im Grunde sind wir Monster mit einem riesigen Mund, zwei riesigen Händen und einem winzigen restlichen Körper. Das weist deutlich darauf hin, dass besonders Hände und Mund uns befähigen, zu echten Menschen zu werden.
Um auf das Neugeborene zurückzukommen: Was seine Bewegungsfähigkeit angeht, befindet es sich unmittelbar nach der Geburt eindeutig noch auf der Stufe eines primitiven Reptils und sogar noch etwas darunter, da es den Kopf nicht aufrecht halten kann und nur zu sehr langsamen Bewegungen fähig ist. Doch auch diese geringe Bewegungsfähigkeit sollte von Anfang an erkannt und unterstützt werden. Leider werden Kinder jedoch oft in eine zu kleine Krippe gelegt, bekommen zu enge Kleidung angezogen und werden dazu noch in eine Decke gewickelt. Da sie sich so wenig bewegen, glauben wir, sie seien nicht dazu fähig, und schränken diesen wichtigen Aspekt ihrer Entwicklung noch stärker ein. Das ist einer der größten Erziehungsfehler, die man machen kann. Er beruht auf dem falschen Schluss, dass Kleinkinder, nur weil sie sich nicht bewegen können wie Erwachsene, überhaupt nicht zur Bewegung in der Lage seien. Forschungsergebnisse der vergangenen Jahrzehnte haben aber gezeigt, dass auch sehr kleine Kinder bereits über eine Vielzahl erstaunlicher Fähigkeiten verfügen, und wenn wir daran denken, wie viel bereits im Mutterleib passiert, sollte uns das nicht überraschen. Die Erkenntnisse der Forschung haben sich allerdings noch nicht überall durchgesetzt, und in Geburtskliniken und Krankenhäusern werden Neugeborene immer noch oft in zu kleine Betten gelegt und mit Kleidung ausgestattet, die sie in der Entwicklung ihrer motorischen Fähigkeiten behindert. Da sie nur sehr langsame Bewegungen ausführen und dazu einen gewissen Platz brauchen, werden die Bewegungen von Neugeborenen und Säuglingen oft gar nicht wahrgenommen.
Jeder, der sich schon einmal um ein Neugeborenes gekümmert hat, wird bemerkt haben, dass es oft mit dem Kopf an der Begrenzung des Bettes liegt, wenn man zu ihm kommt. Wie sollte es dort hingekommen sein, wenn nicht indem es sich mit winzigen Bewegungen über die Matratze geschlängelt hat? Doch obwohl wir sie so oft wieder in die Mitte des Bettes zurücklegen müssen, begreifen wir nicht, dass Neugeborene bereits über motorische Fähigkeiten verfügen, wenn diese sich auch noch von den späteren unterscheiden. Darin zeigt sich wieder einmal, wie sehr uns unsere Vorurteile prägen. Das falsche Bild, das wir von Neugeborenen haben, hindert uns daran, zu erkennen, was sich unmittelbar vor unseren Augen abspielt. In den vielen Jahren, in denen ich mit Neugeborenen und Kleinkindern gearbeitet habe, habe ich immer wieder festgestellt, dass sie sofort aufhören zu weinen, wenn man sie von ihrer einengenden Kleidung befreit und sie an einen Platz legt, wo sie sich frei bewegen und ungehindert ihre Umgebung beobachten können. Oft haben sie so viel Freude daran, sich endlich nach Herzenslust zu bewegen, dass sie sogar vergessen, nach Essen zu schreien. Das Gesicht der Kinder ist sehr aufmerksam und konzentriert, wenn sie versuchen, sich schlängelnd über den Boden zu bewegen, und zeigt deutlich, wie eng Geist und Körper zusammenarbeiten. In solchen Momenten lernen Kinder sehr viel über sich und ihre Umwelt.

Eine bewegungsfreundliche Umgebung

Kinder können sich von Geburt an über den Boden bewegen. Gibt man Neugeborenen genug Platz, benutzen sie ihren gesamten Körper, um kaum merkliche Bewegungen zu machen. Meist bewegen sie sich dabei im Uhrzeigersinn. Legt man es auf eine Matratze oder Decke von normaler Größe, ist schon ein drei Wochen altes Kind in der Lage, sich auf diese Weise einmal komplett um die eigene Achse zu drehen. Auch daran lässt sich wieder erkennen: Jeder Fortschritt entsteht durch eine Kombination aus einer inneren Entwicklung (der Myelinisierung der Nervenfasern) und einer äußeren, durch die Umwelt möglich gemachten Erfahrung (der Bewegungsfreiheit). Um die motorische Entwicklung von Neugeborenen zu fördern, genügt es, ihnen ein Bett zur Verfügung zu stellen, das größer ist als das übliche Kinderbett, und ein paar interessante Objekte als Bewegungsanreiz dazuzulegen.
Der Prozess der Myelinisierung beginnt mit den Nervenfasern, welche die Augenmuskeln steuern, und schreitet sehr schnell voran. Schon mit einem Monat kann das Kind mit den Augen verfolgen, was in seiner Umwelt vor sich geht. Das ist ein wichtiger Fortschritt, da das Kind nun die Freiheit besitzt, zu beobachten, was es will. Wir Erwachsenen sollten diesen Fortschritt erkennen und dem Kind die Möglichkeit geben, seine neue Freiheit zu nutzen. Ein Kinderbett mit Gitterstäben oder gar durchgehenden Wänden schränkt diese Freiheit sehr gravierend ein. Viel besser eignet sich ein großes Bett oder auch nur eine Matratze, die man einfach auf den Boden legt oder für die man eine Holzunterlage mit abgerundeten Ecken und kleinen Rädern baut. So hat das Kind nicht nur ausreichend Bewegungsfreiheit, sondern auch die Möglichkeit, ungehindert seine Umgebung zu beobachten. Schlägt man werdenden Eltern ein solches Bett für ihr Kind vor, lehnen sie dies meist mit der Begründung ab, das Neugeborene könne zu leicht herausfallen. Jahrzehntelange Erfahrungen haben jedoch gezeigt, dass es dazu nicht kommen kann, wenn sich das Kind gleich von Anfang an an das Bett gewöhnt. Das liegt an der Langsamkeit seiner Bewegungen. Erreicht es mit einem Arm oder Bein die Bettkante, merkt es, dass seine Bewegungen dort ins Leere gehen, und zieht sich in die Mitte des Bettes zurück. So kann es nicht passieren, dass es mit dem ganzen Körper über die Kante rutscht. – Man sieht auch nie junge Eidechsen von Bäumen fallen; sie strecken ihren Körper nur so weit von einem Ast ab, wie es ihnen ihr Sicherheitsgefühl erlaubt, jedoch nicht weiter. Sicherlich kann man einem menschlichen Neugeborenen zutrauen, dass es die Signale seines Körpers ebenso klug deutet. Greift die Hand ins Leere, wird diese Information an das Gehirn weitergeleitet, wo sie analysiert und verstanden wird und sofort eine Abwehrreaktion auslöst: Das Kind verändert seine Position so lange, bis es mit dem gesamten Körper wieder auf der Matratze liegt.
IMG_3486.tif
Was passiert hier? Gebannt verfolgt ein junges Kind den Weg des Balls
Im zweiten Lebensmonat gewinnt das Kind in der Regel die Kontrolle über seine Nackenmuskulatur und kann seinen Kopf ohne fremde Hilfe aufrecht halten. Gibt man ihm nun die Möglichkeit, ungehindert seine Umgebung zu beobachten, wandelt sich seine Beziehung zu dieser merklich. Den Kopf selbstständig bewegen zu können, ist der erste Schritt dazu, Kontrolle über die Umwelt zu erlangen.
Abhängig von seinem allgemeinen Gesundheitszustand und besonders den Erfahrungen, die es bereits machen konnte, lernt das Kind im Laufe des dritten oder vierten Monats, auch die Bewegungen seiner Hände bewusst zu steuern. Nun fängt es an, damit nach Gegenständen zu greifen, um sie zu sich zu holen. Das ist ein großer Entwicklungsschritt. Jetzt kann das Kind auch seine Fähigkeit, über das Bett zu robben, weiter fortentwickeln und sich nach Lust und Laune den Objekten in seiner Umgebung nähern und sie mit seinem Seh-, Tast- und Geschmacksinn erforschen. In den ersten Monaten ist es für das Kind sehr wichtig, sich auf diese Weise mit den Dingen in seiner Umwelt vertraut zu machen.
Wenn das Kind anfängt, seine Hände zu benutzen, dürfen wir ihm auf keinen Fall in irgendeiner Form vermitteln, dass das Benutzen der linken Hand etwas Schlechtes sei. Jahrhundertelang wurde Linkshändigkeit als etwas Unnormales betrachtet, und es wurden große Anstrengungen unternommen, um sie Kindern abzugewöhnen. Studien zur Funktion der einzelnen Gehirnhälften haben jedoch gezeigt, dass zehn Prozent der Bevölkerung mit einer genetischen Veranlagung zur Linkshändigkeit auf die Welt kommen. Wird dieser Unterschied im Aufbau der Gehirnstrukturen nicht respektiert, können Sprach-, Lern- und Verhaltensstörungen die Folge sein. Leider gilt: »Gesellschaftliche Tabus und Konformitätsdruck haben in vielen Gesellschaften dazu geführt, dass Linkshändigkeit missbilligt wurde und Kinder gezwungen wurden, sich rechtshändig zu verhalten.«5
Reichen wir dem Kind etwas, beispielsweise ein Spielzeug oder ein Stück Brot, müssen wir ihm die Freiheit lassen, das Objekt mit derjenigen Hand zu ergreifen, die es bevorzugt. Vielleicht sogar ohne uns dessen bewusst zu sein, begehen wir jedoch allzu oft den Fehler, das Objekt zur rechten Hand hinüberzubewegen, wenn das Kind mit der Linken danach greift. Wir geben es ihm erst, wenn es die unausgesprochene Botschaft verstanden hat, dass es die rechte Hand benutzen soll, wenn es etwas haben will.
Mit fünf Monaten wirken Kinder zwar noch sehr klein, sind jedoch bereits in der Lage, mit gezieltem Robben und Schlängeln ihre Umwelt zu erkunden. Mithilfe dieser Bewegungen finden sie heraus, wie viel Spaß es macht, ihre Neugierde zu befriedigen und alles in ihrer Umgebung aufs Genaueste zu untersuchen. Doch wie vielen Kindern wird in diesem Alter die Möglichkeit gegeben, sich auf solche Weise zu entwickeln?
Wenn mit fünf oder sechs Monaten die motorischen Fähigkeiten noch weiter zugenommen haben, wird das Kind das Bett auch öfter verlassen. Dabei lässt es sich mit den Füßen zuerst von der Bettkante herunter. Dies stellt einen weiteren wichtigen Entwicklungsschritt dar, denn jetzt ist das Kind in der Lage, sich selbstständig auf die Suche nach seiner Mutter zu machen, wenn es aufwacht und zu ihr möchte. Das Baby weiß, was es will (es sieht die Mutter in Gedanken) und kann seinen Wunsch mithilfe seiner neu gewonnenen Bewegungsfähigkeit selbstständig erfüllen, ohne nach der Mutter schreien zu müssen. Ist derjenige, der eigenständig seine Bedürfnisse erfüllen kann, nicht viel besser dran, als derjenige, der ständig andere um Hilfe bitten muss? Maria Montessori hat uns gelehrt, dass das Schreien des Kindes folgende Bedeutung hat: »Hilf mir, es selbst zu tun!« Ein niedriges Bett kann dem Kind helfen, sehr bald sehr vieles ohne fremde Hilfe zu tun. Was sich doch mit einem so einfachen Mittel alles erreichen lässt! Einmal mehr müssen wir erkennen, wie wenig wir über die Fähigkeiten von Kindern wissen. Aufgrund dieses Mangels an Wissen trauen wir ihnen zu wenig zu und behindern so ihre Entwicklung. Unser Fehlverhalten rechtfertigen wir damit, dass es der Sicherheit der Kinder dient.
Mit sechs bis sieben Monaten lernt das Kind, die Muskeln seines Oberkörpers zu steuern und aufrecht zu sitzen. Zwischen dem sechsten und achten Monat verwandelt sich das Robben und Schlängeln allmählich in ein Krabbeln, wobei es viele Zwischenstufen gibt; so stützt sich das Kind zum Beispiel mit den Händen auf, um seinen Oberkörper vom Boden zu stemmen, oder es beugt die Knie und hebt so den hinteren Teil des Körpers in die Höhe. Diese neuen Bewegungen zeigen, wie sich die Myelinisierung immer weiter den Körper hinabbewegt.
Mit acht Monaten hat das Kind die Technik des Krabbelns perfektioniert, und mit neun Monaten kann es sich an etwas hochziehen und aufrecht stehen. Mit etwa elf bis zwölf Monaten beginnt das Kind zu laufen. Dass es das dazu nötige Gleichgewichtsgefühl hat, ist erstaunlich, wenn wir bedenken, dass es vor gerade mal zwölf Monaten noch nicht einmal ohne fremde Hilfe seinen Kopf aufrecht halten konnte. Tragisch an dieser Entwicklung ist jedoch, dass Kinder meist umso stärker in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden, je besser sie sich bewegen können. Vom Kinderbettchen geht es in den Kindersitz, dann in die Sportkarre, den Hochstuhl und den Laufstall. Adele Costa Gnocchi formulierte es mir gegenüber einmal folgendermaßen: »Das Kind ist von dem organisierten Bemühen umgeben, es in seiner Entwicklung zu behindern!« Die Monate vergehen, doch dem Kind wird nie Gelegenheit gegeben, sich frei zu bewegen und seine Koordinationsfähigkeit zu verbessern. Dabei braucht es nur ein wenig Platz, und schon beschäftigt es sich die ganze Zeit mit sich selbst, ohne jemanden zu stören. Der innere Drang zur Bewegung ist der stärkste Antrieb, den das Kind in dieser Phase spürt, und ihn zu befriedigen ist sein höchstes Glück.
IMG_3518.tif
Junge Kinder verwenden viel Energie auf die Entwicklung der Grobmotorik
Durch die zunehmende Koordinationsfähigkeit des Kindes verändert sich die Beziehung zur Mutter. Das Kind kann nun stärker am Leben der Erwachsenen teilnehmen, hält sich mit ihnen im selben Raum auf, beobachtet sie und lauscht...

Inhaltsverzeichnis

  1. [Titelinformationen]
  2. [Impressum]
  3. Geleitwort
  4. Vorwort der Autorin
  5. Teil I: Erziehung als »Hilfe zum Leben«
  6. Teil II: Alles, was wir mit dem Kind tun, ist »Erziehung«
  7. Teil III: Die ganzheitliche Entwicklung des Menschen
  8. Literatur
  9. Anmerkungen