Die unerhörte Gesellschaft
»Rentner first!«
Sehr geehrter Herr Lilie,
wir finden, dass Flüchtlinge dort bleiben sollten, wo sie herkommen. Warum wir dieser Meinung sind? Wir sind Rentner und erhalten nach 46 Jahren Arbeitszeit im Schnitt 1.250 Euro Rente. Netto. Unsere Mieten liegen aber zwischen 900 und 1.000 Euro. Deswegen müssen wir uns alle etwas dazu verdienen, sonst hätten uns unsere Vermieter längst gekündigt.
Ich bin seit über einem Jahr auf der Suche nach einer Sozialwohnung. Und immer, wenn ich dachte: »Jetzt klappt es!« setzt das Wohnungsamt mir irgendwelche Flüchtlinge vor die Nase. Es ist eine Ungerechtigkeit, dass Flüchtlinge gegenüber deutschen Rentnern bevorzugt werden. Deshalb wird unser Hass auf Flüchtlinge immer größer. Und die Diakonie und andere wollen trotzdem mehr Flüchtlinge in Deutschland aufnehmen. Das geht nicht! Bevor weitere Flüchtlinge kommen, müssen erst ein paar Millionen Sozialwohnungen gebaut werden, damit auch deutsche Rentner, die nicht mehr wissen, wie sie ihre Miete bezahlen sollten, zu günstigen Wohnungen kommen. Erst stehen uns Sozialwohnungen zu und nicht den Flüchtlingen. Rentner first!!!
»Die hören mir nicht zu.« – Die bunte Gesellschaft der Unerhörten
Verlassen in Deutschland
»Unerhört! Diese Flüchtlinge.« Und: »Unerhört! Diese Obdachlosen.« Viele tausend Großplakate, zunächst in Berlin, und dann auch in anderen deutschen Städten, an Flughäfen und Bahnhöfen. Weiße Schrift auf violettem Grund. Darunter: #zuhören. Das ist im Januar 2018 der Startschuss der auf drei Jahre angelegten Diakonie-Kampagne, mit der wir aufstören und für das Zuhören werben wollen. Das Beispiel der eingangs paraphrasierten Mail zeigt, dass das offenbar gelingt. Solche E-Mails erreichen mich täglich, anonym oder mit vollem Namen unterzeichnet. Ich stelle sie diesem Kapitel voran, weil sie für mich den Kern dessen trifft, was mich im Blick auf unser Land beschäftigt: der gefährdete soziale Zusammenhalt, das schwindende Gefühl von Zugehörigkeit, das oft von einem Gefühl der Verlassenheit begleitet wird. Und die Frage, wie ein sozial gerechteres Miteinander der unterschiedlichen Gruppen, Menschen und Milieus in unserem Land gestaltet werden kann, das den Unterschieden und den Unterschiedlichen gerecht wird.
Als 2015 die »Flüchtlingskrise« ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht, arbeitet auch die Diakonie für eine Willkommenskultur. Seitdem ist sie zusammen mit Kommunen, Arbeitsagenturen und anderen Kooperationspartnern im Marathonlauf der Integration engagiert. Wir setzen uns – trotz öffentlichem und politischem Gegenwind – immer noch für den Familiennachzug von engen Familienangehörigen für subsidiär Schutzbedürftige ein. Wir unterstützen die Zuflucht Suchenden bei ihrer Ankunft in unserem Land: in Migrationsberatungsstellen, durch Sprach- und Integrationskurse oder durch andere Beratungsangebote. Wir errichten zusätzliche Kitaplätze und schaffen neuen Wohnraum, nicht nur für Geflüchtete. Dafür wurden und werden wir gewürdigt und gleichzeitig kritisiert. Wie in der Mail eingangs, aber auch in ganz anderer Tonlage: »Flüchtlingsgewinnler« oder »Asylindustrie« schimpfen uns manche. Helfer oder Mitarbeiterinnen der Diakonie werden handgreiflich angegangen, und das, obwohl wir niemals aufgehört haben, uns genauso engagiert auch für all die anderen »Menschen in Notlagen« in Deutschland einzusetzen. Seien es chronisch Kranke in Bochum, alte Menschen mit Pflegebedarf auf dem Land in Mecklenburg-Vorpommern oder junge Erwachsene ohne Schulabschluss in Bremen – mit oder ohne Migrationshintergrund.
Mir geht es hier aber gar nicht darum, irgendein Loblied auf die Diakonie zu singen. Mir geht es um etwas Grundsätzliches: All diese Menschen, die Neuankömmlinge, Kranken, Arbeitslosen oder andere, gehören zu unserer Gesellschaft und wir alle gemeinsam tragen Verantwortung, unser Zusammenleben so zu organisieren, dass alle teilhaben können. Ich jedenfalls will in einer friedlichen, gerechten, freiheitlichen und vielfältigen Gesellschaft leben; und ich will, dass das nicht nur für unsere vier Kinder und deren Kinder eine selbstverständliche und von der breiten Mehrheit der Bevölkerung getragene Leitvorstellung in unserem Land bleibt. Das Fäuste-Recken, die kalte Wut in den Gesichtern mancher Merkel-Kritiker, der blanke Hass in den Äußerungen vieler Menschen, die nicht einverstanden sind mit dem Kurs der Regierung und unseres Landes, hat viele in den Medien, in der Politik, den Gewerkschaften und auch in der Freien Wohlfahrt oder den Kirchen verstört. Auch mich. Die aggressiven fremdenfeindlichen Debatten, Wahlerfolge wie der Donald Trumps mit seiner polternden »America First«-Politik oder die Zustimmungsraten für die AfD mit ihrem teilweise rechtspopulistischen Personal, aber auch Recep Erdogans despotische Machtentfaltung in der Türkei zeigen, dass öffentliches Eintreten und tägliches Arbeiten für eine offene und sozial gerechte Gesellschaft der Unterschiedlichen wichtiger sind denn je. Das Ausmaß von Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus, die Verrohung in den sozialen Medien, die groben populistischen Vereinfachungen komplizierter Problemlagen, die nationale Verengung des Denkens sind bestürzend. Nichts von dem hilft die komplexen Herausforderungen der Gegenwart zu bearbeiten, genauso wenig wie der Straßenkampf und die Plünderungen beim G20-Gipfel in Hamburg 2017. Doch: Wie umgehen mit der Gewalt und den Gewalttätern, dem Populismus und den Populisten? Wie umgehen mit den vielen wütenden, enttäuschten Menschen, die mit ihrer Wut genauso zum bunten Deutschland gehören wie fastende Muslime, grillende Hipster, grölende Fußballfans, bibelfeste Evangelikale, feministische Krankenschwestern oder konventionelle Schweinezüchter – um wahllos nur einige zu nennen? Diese Fragen treiben mich um. Ich möchte besser verstehen, woher die Wut und die Ängste dieser Menschen kommen, die Empörung und die Resignation, die ich nicht teile. Warum finden die oft kruden und krausen, rückwärtsgewandten politischen Ideen und Konzepte so viele Freundinnen und Freunde in allen Schichten unserer Gesellschaft? Haben sie Gründe, womöglich gute Gründe für ihre Empörung? Was sehe ich nicht, was sie sehen? Was empfinden sie, was ich nicht empfinde? Ich möchte diese Emotionen ernst nehmen und besser verstehen. Mit dem Soziologen Heinz Bude bin ich überzeugt, dass sich »die Wahrnehmung dieser Menschen, ihr Leben sei insgesamt unsicherer geworden (…), nicht mit Wahrscheinlichkeitstheorien wegrationalisieren« lässt.
Mich beschäftigt – wie viele andere – auch die zunehmende Schräglage in manchen Debatten zwischen »rechts« und »links«. Auch hier kommt die Mail vom Anfang ins Spiel: Wenn von »Unerhörten«, von den Vergessenen, den Abgehängten geredet wird, wie es in den politischen Debatten, im Streiten um die Werte, die unser Gemeinwesen leiten sollen, zu Recht geschieht, gehören auch wohnungssuchende deutsche Rentner mit Hass auf Flüchtlinge dazu. Ich teile ihre politische Meinung und ihren Hass nicht, aber auch ich finde es schwer erträglich, dass sie unter den Folgen der Vernachlässigung des sozialen Wohnungsbaus zu leiden haben. Jeder Mensch hat ein Recht auf bezahlbaren Wohnraum, selbstverständlich ohne Gesinnungs- oder Herkunftsprüfung.
Es gibt in diesem Land offensichtliche Probleme mit Gerechtigkeit, mit gerechter Teilhabe und dem Gefühl, gehört zu werden. Es gibt Probleme mit bezahlbarem Wohnraum, mit ungerechten Zugangschancen zu Bildung und ungleichwertigen Lebensbedingungen, mit abgehängten Stadtteilen und ganzen Regionen, um die sich niemand mehr wirklich kümmert. Und es gibt massive Probleme mit der Art der sich verändernden öffentlichen medialen und politischen Auseinandersetzung, auch wenn es dabei um berechtigte Anliegen wie Zugehörigkeit, Gerechtigkeit und Teilhabe geht.
Wir brauchen keine populistischen Symboldebatten und auch kein Heimatministerium, wir brauchen vielmehr einen neuen gesellschaftlichen Aufbruch, der auch diesen Rentnern, die 47 Jahre gearbeitet haben, ein Gefühl der Zugehörigkeit vermittelt und eine Perspektive. In einem sich grundlegend ändernden Land in einem kriselnden Europa in einer sich grundlegend verändernden Welt mit einer dramatischen Ungleichheit und einer ökologischen Jahrhundertherausforderung brauchen wir dringend ein neues politisches und gesellschaftliches Klima, das auch diese Rentner mitgestalten können und wollen. Und wir brauchen endlich eine Politik, die ihrer Lebenssituation tatsächlich Rechnung trägt. Wir brauchen Volksparteien, Wohlfahrtsverbände und Kirchen, die in die chancenreichen, aber derzeit vernachlässigten Stadtviertel, Dörfer und Landstriche zurückkehren: an die Orte, in denen nicht nur die öffentlichen Briefkästen, sondern oft die gesamte soziale Infrastruktur verschwunden ist.
Ein solcher gemeinsamer Aufbruch von Zivilgesellschaft und Politik beginnt, und damit sind wir bei der Idee der Unerhört-Kampagne der Diakonie, zuallererst mit qualifiziertem Zuhören, mit Verstehen-Wollen, mit echtem Interesse an der Lebenslage der anderen. Es gibt viel zu viele Unerhörte in unserer Gesellschaft: Menschen, die zunehmend ein Gefühl von Verlassenheit beschleicht, das Gefühl, dass ihnen und ihren Ängsten niemand Aufmerksamkeit schenkt. Menschen, die zu Recht den Eindruck gewonnen haben und täglich die Erfahrung machen, dass ihre Interessen, ihre berechtigten Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Sicherheit und Wohlstand nicht gesehen werden oder bedroht erscheinen. Und die mit ihren Lebensentwürfen in den gesellschaftsbegleitenden und -formenden Diskursen in den Medien und der Politik, und eben auch in unseren Kirchengemeinden oder den Sportvereinen nicht oder zu wenig vorkommen. Über die allenfalls in schlauen Kommentaren geschrieben wird, mit denen aber nicht oder viel zu wenig gesprochen wird. Zu Recht erleben diese Menschen diese permanente Nichtbeachtung als Abwertung ihrer Biografie, ihrer Lebensleistung.
Solche Menschen finden sich nicht nur unter Obdachlosen, Flüchtlingen, Hartz-IV-Empfängerinnen oder anderen Menschen in Notlagen, die von Diakonie und anderen Wohlfahrtsverbänden begleitet und unterstützt werden. Sie finden sich zunehmend – eine schwer zu akzeptierende Einsicht – in allen Schichten der Gesellschaft. Schwer zu akzeptieren, weil diese Haltung auf den ersten Blick leicht wehleidig wirken kann und in einem der reichsten Länder der Welt als eine weitere Spielart der »German Angst« oder als »Jammern auf hohem Niveau« erscheint. Der Eindruck »Die hören uns nicht zu« ist aber der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich gegenwärtig viele sehr unterschiedliche Leute verständigen können, die sonst keine Gemeinsamkeiten aneinander entdecken. »Die hören uns nicht zu« – das ist ein zu weit verbreitetes Gefühl in diesem Land, obwohl Massenmedien, Internet und Soziale Medien uns in nie gekannter Weise mit persönlich zugeschnittenen Nachrichten, personalisierter Werbung und Teilnahmemöglichkeiten überschütten.
Die Gefühle der Verunsicherung und des Ausgeschlossenseins verbreitern sich von den »Rändern« bis tief in die Mitte unserer Gesellschaft und verbinden sich mit tatsächlichen kulturellen, sozialen und ökonomischen Disparitäten. Das ist ein echtes Problem für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie. Oder weniger hochtrabend: Es ist ein zunehmendes Problem für ein friedliches Miteinander und für die konkrete Nachbarschaft von Menschen ganz unterschiedlicher Bildung, Meinung, Gesundheit, Sprache, Weltanschauung, von unterschiedlichem Geschlecht und Alter in unserem Land. Da...