Ein Jahr an der Côte d'Azur
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Ein Jahr an der Côte d'Azur

Reise in den Alltag

  1. 192 Seiten
  2. German
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Ein Jahr an der Côte d'Azur

Reise in den Alltag

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Über dieses Buch

Das sagenumwobene Licht. Die Wärme im Winter, das azurblaue Meer, die köstlichen gefüllten Gemüse. Das ist die Côte d'Azur. Annika Joeres erzählt von ihrem wunderbaren Alltag, der nicht sonderlich mondän ist, aber bildhübsch und warm. Und angereichert mit vielen französischen Freunden, von denen einige wie Louis de Funès mit ihrem ganzen Körper sprechen aber von denen auch wirklich alle unglaublich gelassen sind. Schließlich wird morgen auch wieder die Sonne scheinen.

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Information

Jahr
2014
ISBN
9783451801648

Februar

WIEDERHOLUNG GIBT SICHERHEIT. Sicherheit. Einer von Hans’ Lieblingssprüchen. Und noch treffender in einem fremden Land. Auch hier verleiht es uns Sicherheit, immer wieder dieselben Dinge zu tun. Nach ein paar Wochen haben wir einige Rituale gefunden. Mit dem Rucksack auf dem Markt einzukaufen. Morgens beim Frühstück den Wetterkanal zu gucken. Einmal in der Woche frischen Fisch zu braten. Mit dem Rad auf den Aussichtsberg hinter Nizza zu fahren.
Die Arbeit gibt mir noch nicht das Gefühl, angekommen zu sein. Ich hatte gehofft, in einer Region mit vielen Touristen, aber wenigen deutschsprachigen Menschen recht einfach Arbeit zu finden. Aber schon meine Bewerbung beim Touristenbüro ging gründlich schief. Jeden Tag überlege ich mir nun neue Arbeitsfelder. Ich denke an geführte Rad- oder Wandertouren – aber auch dafür benötige ich eine zweijährige Ausbildung. Ich sinniere über Nachhilfestunden für französische Schüler in Deutsch, über Animationen in Ferienanlagen, sogar darüber, in einer Bäckerei zu arbeiten. Und ich habe meine Eltern vor Augen, die mein Politik-Studium mitfinanziert hatten und mich nun Schokobrötchen verkaufen sehen würden. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, noch einmal neu anfangen zu können. „Das ist doch eine Chance“, meint auch Hans. „Brötchen für sein Viertel zu backen kann wichtiger sein, als die WestLB in Düsseldorf zu kommentieren. Denk dir doch mal eine große Krise – welche Fähigkeiten von heute kannst du dann noch gebrauchen?“ „Ich lebe aber nicht in einer Krise!“
Wenige Stunden später frage ich bei der Handelskammer nach einer Liste mit deutschen Firmen an der Côte d’Azur. Die allermeisten sind in Sophia Antipolis zu finden, einer Hightech-Ansiedlung in den Hügeln von Antibes. Viele sind kleine Start-ups, Autozulieferer, Versicherungen oder Banken. Nicht gerade meine berufliche Heimat, aber ich rufe die fünfzehn Firmen nacheinander an. „Oui, bonjour, mein Name ist Annika Joeres. Ich rufe Sie an, weil ich als deutsche Journalistin inzwischen in Nizza wohne. Ihre Firma ist spezialisiert auf Webdesign/Kommunikation/internationale Kunden, und ich würde mich sehr gerne bei Ihnen vorstellen. Ist das möglich?“ An Antworten gab es nur zwei: „Nein, wir sind komplett/zu klein/schließen bald und benötigen keine neuen Mitarbeiter“ oder auch: „Schicken Sie uns doch einmal Ihren Lebenslauf und ein kurzes Anschreiben, Sie hören dann von uns.“ Gar nicht schlecht! Also bastelte ich an verschiedenen Lebensläufen, schickte an einem Tag sieben Bewerbungen los und hatte ein gutes Gewissen für meine täglichen Ausflüge. Mitten in der Woche am Strand zu liegen macht mir nur Spaß, wenn ich danach wieder schreiben kann. Denn nein, auch an der Côte d’Azur ist es kein Vergnügen, arbeitslos zu sein.
Auch wenn mein erstes Ritual, das Einkaufen auf einem Markt in Nizza, sehr schön ist. Es bedeutet viel mehr, als Löcher im Magen zu stopfen. Zwei große Basare gibt es in der Stadt, einen eher touristischen am Cours Saleya in der Altstadt und einen an der Haltestelle Libération hinter dem Bahnhof. Obst und Gemüse sind herrlich und meistens aus der Region. Es gibt Zitronen und Orangen aus dem nicht weit entfernten Menton, Erdbeeren aus den Tälern bei Carros, Zucchiniblüten aus Villefranche, Olivenöl von den Hängen rund um Nizza, eingelegte Tomaten und Auberginen und kleine Kumquat-Bäumchen.
Auf der Mitte des Platzes steht Michelle mit ihrem kleinen Feuerofen. Sie verkauft Socca, einen traditionellen Snack in Nizza. Socca ist ein Fladen aus Kichererbsenmehl und Olivenöl, gebacken in einer runden flachen Form. „Sie müssen viel Pfeffer draufstreuen“, sagt Michelle mir jedes Mal, wenn ich einen Socca verspeise, und das kommt häufig vor. Er schmeckt wie Kartoffelpuffer, nur dünner und weniger fettig. Früher, als die Menschen in Nizza, Antibes und im Hinterland vom Olivenanbau lebten, war es das Arme-Leute-Essen, heute verspeisen es die Niçoiser als Fast Food.
Der Saleya-Markt ist eine Pracht. An einem Stand sind kandierte Früchte ausgelegt, kleine Birnen, Clementinen und Ananasstücke so schwer wie Hefeteig und so süß, wie eben nur gezuckertes Obst schmecken kann. Mein Favorit sind kandierte Walderdbeeren. Ein Händchen voll kostet fünf Euro, aber hier ist es mir das wert.
Franzosen geben doppelt so viel für ihr Essen aus wie die Deutschen, und das sieht man ihnen und ihren Märkten an. Holländisches Gemüse, herangezogen auf Spanplatten, gespeist aus einer künstlichen Nährlösung, so was kennen die Südfranzosen nicht. Ihr kulinarisches Schreckgespenst heißt Spanien – das Land ist in Frankreich bekannt dafür, Gemüse und Obst in riesigen industriellen Anlagen herzustellen und es gegen Tierchen und für den Transport kräftig mit Pestiziden einzusprühen. Eigentlich gibt es diese Waren zu absurd billigen Preisen nur in französischen Supermärkten, auf dem „marché“ trauen sich die Händler nicht, das Obst mit dem schlechten Ruf anzubieten. An einem Stand gibt es Fougasse, ein Weißbrot, mit Olivenöl beträufelt und wahlweise mit Oliven, Salami oder Artischocken belegt und mit Käse überbacken. Der Markt ist ein großer Spaß.
Der frische Fisch auf den Märkten an der Côte d’Azur stammt meist aus dem Atlantik. Im Mittelmeer wird nur noch wenig gefischt, zum Beispiel Oktopusse und Sardinen. Tintenfischsalat wird mein neues Lieblingsgericht. Den gibt es in vielen Restaurants und auch im Supermarkt an der Kühltheke. Aber er ist sehr teuer. Also kaufe ich auf dem Saleya selbst zwei echte Tintenfische, jeweils mit acht beziehungsweise sieben Tentakeln bestückt. Das schwarzrote Tintensäckchen wird noch vor Ort von der Fischverkäuferin mitsamt den nackten roten Armen herausgeschnitten. Als ich nach Hause komme, fragt Hans sofort: „Was stinkt denn hier so?“ Ich halte ihm die kalte Plastiktüte vor die Nase. Er öffnet sie, und ihn glotzen die hervorstehenden Augen der Kraken an. „Die kannst du alleine essen.“ „Wieso, wir wollen doch südfranzösisch essen?!“ So einfach ist das allerdings nicht. Die Augen muss ich mit der Küchenschere herausschneiden und die Tiere als Ganzes in kochendes Wasser werfen. Ein penetranter Fischgeruch durchzieht unsere kleine Wohnung, Hans öffnet die Schiebetüren zum Balkon, so weit es eben geht. Nach zehn Minuten müssen die Glibberkraken mühselig von Hand von ihrer dunklen Haut befreit werden, dann können sie in Stücke geschnitten und mit Öl, Kartoffeln und Zwiebeln gegessen werden. „Ganz schön anstrengend“, sage ich zu Hans. „Aber wirklich köstlich, oder?“
Vielleicht habe ich ohnehin ein Faible für die Tintenfische. Hans’ Mutter, die homöopathische Wälzer liest, hat mich als den Typ „Sepia“ ausgemacht. Den dürste es nach dem Tintenfischsaft. Früher hätten manche die Tintenfässchen ausgetrunken, „wenn das mal keine Sepia gewesen“ seien. Der Tintenfisch-Typ ist jedenfalls häufig eine frustrierte Hausfrau, wenn sie nicht berufstätig ist, oder eine recht abgebrühte Karrierefrau, die gerne Essig isst und viel tanzt. Trifft alles nur halb auf mich zu, aber der Niçoiser Tintenfischsalat ist gut für mich. Hans’ Kollege Jeremy geht sogar im Frühjahr eigens mit einer Harpune auf Sepia-Jagd und schmeißt sie dann abends für die ganze Familie in den Kochtopf. „Das ist ganz einfach“, sagt er. „Sie sitzen zwischen den Steinen.Du tauchst, und zack!, spießt du die Meduse auf.“
Ab und zu höre ich auf dem Saleya-Markt englische oder deutsche Stimmen, die sich über den „Nepp“ beschweren, weil die Produkte teurer sind als im Supermarkt. Mag sein, aber ich habe jedes Mal Lust, zu widersprechen. Ich finde, sein Gemüse aus dem Nachbarort bei strahlendem Sonnenschein und zwei Minuten vom Strand entfernt zu kaufen ist sehr viel wert. Hier finden sich auch Unikate wie Roselyne. Ihre vielen Altersflecken auf der faltigen Haut hat sie sich sicherlich beim Ernten in ihrem Obstgarten in Villefranche erarbeitet. Roselyne verkauft seit zwei Jahrzehnten auf dem Saleya, vor allem ihre Zitrusfrüchte. Daraus macht sie entzückende Zitronenmarmelade, Zitronensirup, Zitronenseife, Zitronenbalsam, Zitronenbonbons und Zitronenlikör. Wahrscheinlich könnte sie ganze Bücher mit ihren Rezepten füllen. „Wir haben nur vier Bäume, aber die hängen voll“, sagt sie mir. Tatsächlich wachsen Zitrusfrüchte an der Côte d’Azur fast wie Unkraut. Im Frühjahr ragen duftende Stängel, übersät mit weißen Blüten, über die Grundstückszäune, im Sommer dann die grünen Früchte, und erst ab Weihnachten werden die ersten Orangen, Clementinen und Zitronen reif. Der Ort Menton, direkt an der italienischen Grenze gelegen, feiert sogar länger als drei Wochen lang seine „fête du citron“ – eine Art Karnevalsumzug im Fruchtkostüm. Die Frucht hat den Ort einst reich gemacht.
Aber die Zitronenfeier muss noch warten, zuerst muss ich die französische Bürokratie überwinden. Ich dachte immer, Beamte in Nürnberg, Ludwigshafen oder Schleswig seien besonders pedantisch, besonders langsam und besonders nervenzehrend. Aber die Franzosen übertreffen noch deren vermutete Lethargie mit unzähligen Formularen, die für jede Nichtigkeit beigebracht werden müssen. Ein seltsamer Gegensatz zu ihrem Ruf, besonders locker zu sein.
Ein Beispiel? Ich möchte einen Handyvertrag abschließen und bin bereit, für eine Flatrate ins europäische Ausland 80 Euro zu zahlen. Schließlich telefoniere ich für meine Artikel häufig mit deutschen Betroffenen, Politikern, Expertinnen und Redaktionen. Die Summe ist hoch, finde ich, und erwarte dafür insgeheim, besonders nett von dem Verkäufer in dem Geschäft der Mobilfunkkette behandelt zu werden. „Madame, so einfach geht das nicht“, sagt der aber nur spitz. Er schickt mich mit einer Liste von zu besorgenden Dokumenten wieder nach Hause. Ich benötige den Mietvertrag (unserer ist seltsamerweise im Format DIN-A3), Kontoauszüge, die letzten Stromrechnungen zum Beweis, dass ich auch wirklich unter der Adresse meines Mietvertrages zu finden bin, sowie zwei Kopien meines Personalausweises. Und dann muss ich noch einen dreiseitigen Lückentext von der Firma selbst ausfüllen und jedes Papier unterschreiben. „Ich glaube, wir Südfranzosen müssen bei Verträgen immer ein Dokument mehr abgeben als üblich“, wird mir später meine Freundin Hélène erklären. „Wir gelten als besonders unzuverlässig.“ Vielleicht ist es aber auch nur ein Gerücht unter Südfranzosen, die sich oft von den schicken, reichen und geschäftstüchtigen Parisern belächelt fühlen.
Gegen so viel Kopierstress helfen nur schöne Ausflüge. Und an der Küste ist nichts leichter als das: Fast alle zwanzig Minuten fahren wochentags die Züge zwischen Cannes im Westen und Menton an der italienischen Grenze. Und ich mag diese komfortablen Pendlerlinien. Wie allerdings gehbehinderte Menschen je damit fahren können, ist mir ein Rätsel, denn je nach Gleis sind die Stufen ins Abteil wahnsinnig hoch, sechzig Zentimeter und mehr. Frauen oder Männer mit Kinderwagen werden oft gemeinschaftlich und an vielen Händen in den Zug gezerrt. Dafür kosten die französischen Bahntickets nur halb so viel pro Kilometer wie deutsche. Vielleicht, weil die SNCF nach wie vor staatlich ist und kein börsenbegeisterter Manager je versucht hat, das Ding an Aktionäre zu verkaufen. 1868 wurde die Bahnstrecke eingeweiht, damals fuhren die Waggons noch durch landwirtschaftliche Einöde und ärmliche Fischerdörfer an der Küste. Die 25 Minuten bis Menton drücke ich mein Gesicht an die Scheibe, so schön ist die Aussicht. Unser Zug fährt direkt an Wasser und Palmen entlang, vorbei an der halbkreisförmigen Bucht von Villefranche, an den Villen von Beaulieu. In Èze winken wir heimlich Bonos Villa zu, der U2-Sänger lebt seit Jahren an der Côte d’Azur. Enttäuscht sind wir über die Tunnelfahrt in Monaco, ich hatte auf Ausblicke auf das Fürstentum gehofft. Doch der Ministaat lässt seine Bahn seit gut fünfzehn Jahren unterirdisch fahren, um überirdisch Hochhäuser bauen zu können. Die sind dann aber später vom Zug aus in Cap d’Ail zu betrachten, bevor er in Menton einrollt, der letzten Stadt vor der Grenze nach Italien.
Die Häuser in Menton sind frisch pastellfarben angestrichen, auf dem kleinen Markt werden teure Antiquitäten und echte Pelzmäntel verkauft. Menton gilt als Rentnerparadies, in dem Engländer, Deutsche und zunehmend auch Russen ihren warmen Lebensabend verbringen wollen. Menton ist sauber, fast ein bisschen zu geleckt und geschrubbt, von oben bis unten renoviert. Außerdem rühmt es sich – wie jede Stadt an der Côte d’Azur – eines eigenen Mikroklimas, das noch ein bisschen wärmer sein soll als üblich. Tatsächlich fallen hier die Alpen steiler ins Meer als weiter westlich, und so schützen sie Menton vor kalten Winden. Die Zitronenund Clementinenbäume sind eine Wucht.
Jetzt, im Februar, ist die Stadt mit diesen Früchten geschmückt, die Fête du Citron steht an. Begeistert pflücke ich auf dem Weg vom Bahnhof zum Meer eine Mandarine, die mir paradiesisch über dem Kopf baumelte. Sie ist entsetzlich sauer, und ihr Inneres besteht fast nur aus weißen Fasern. „Haha“, lacht ein Bauarbeiter, der mich aus seiner Grube anspricht. „Die sind doch nicht zum Essen. Da können Sie höchstens Likör draus machen.“ Ich wurde also Opfer der südfranzösischen Art, sich vor ausgehungerten Touristen zu schützen: Alle öffentlich gepflanzten Zitrusfrüchte sind bitter und roh ungenießbar. Deshalb hängen die Bäume auch monatelang unberührt so voll mit den gelben und orangefarbenen Bällchen, mitten in der Stadt.
Kurz nach dem Hafen wollen wir unsere Wanderung starten. In Menton beginnt der GR 52, ein europäischer Fernwanderweg, der einmal quer durch Frankreich bis nach Amsterdam führt. Ich bin froh, an diesem Ende des GR 52 zu laufen – es ist Mitte Februar, und ich trage eine kurze Hose und Top. „Amsterdam liegt sicherlich in einer nebligen Dunstwolke“, sage ich zu Hans. „Und der feine Nieselregen kriecht langsam in die Krägen der Wintermäntel“, ergänzt Hans. Die Sonne hat uns schadenfroh gemacht.
Siebenhundert Meter schlängelt sich der Weg in Serpentinen steil nach oben, erst durch ein Villenviertel, dann durch Olivenhaine und schließlich durch duftendes Gestrüpp, die berühmte undurchdringliche Macchia, in der sich einst Räuber und Banditen versteckt haben sollen. Heute verbirgt sich hier niemand mehr, aber die stachligen Büsche und dornigen Gräser verkratzen meine Beine, die am Abend mit feinen roten Striemen überzogen sind.
Nach ein paar durchwanderten Stunden erreichen wir auf dem Rückweg das hübsche Dorf Castellar. Wie erwartet fährt hierhin wie zu fast jedem noch so kleinen Weiler in den Bergen der Côte d’Azur ein Bus. Aber leider nur fünf- oder sechsmal am Tag. „So ein Pech“, sage ich. Und: „Guck mal, wir können uns in das Café dort setzen.“ Zwei Stunden sitzen wir auf zwei Brasserie-Stühlen am Marktplatz und dieses lange Ausharren ist sehr entspannend. Am Nebentisch kichern drei sorgfältig frisierte jugendliche Mädchen und trinken ihre Orangina, ältere Männer mit Dreitagebart konsumieren an der Bar ihren Pastis. Sie nehmen kleine Schlucke aus ihren Gläsern und füllen alle paar Minuten einen Eiswürfel und etwas Wasser aus dem Krug nach. Die Langsamkeit des südfranzösischen Dorflebens greift auf uns über. Wir beobachten vorbeistreunende Katzen, halten unser Gesicht in die Sonne und reden wenig.
Als die Sonne untergeht, fährt Enzo auf den Marktplatz. Unser Busfahrer stellt sich direkt mit Namen und Handschlag vor: Enzo! „Ich bin Enzo, und mich kennt jeder“, sagt er zu uns. „Zumindest hat jeder schon einmal von mir gehört.“ Die gesamte dreißigminütige Fahrt den Berg hinunter nach Menton nimmt er uns in Beschlag, bleibt manchmal sogar am Straßenrand stehen, wenn er besonders heftig zu einer seiner Geschichten gestikulieren muss. „Ich komme aus Ventimiglia, dem italienischen Grenzort“, sagt er und verlangsamt seine Fahrt auf zwanzig Stundenkilometer. „Dort ist es auch schön, und ich bin eine kleine Berühmtheit.“ „Warum denn?“ „Na, ich bin Enzo, mich kennt dort jeder, ich bin ja da geboren.“ Und fährt fort: „Ich kann auch gut kochen.“ Er lade immer viele Menschen zu sich ein, und dann feiere man bis in die Nacht hinein. „Mich kennt jeder.“ Noch Monate später lache ich manchmal über den wild fuchtelnden kleinen Mann mit den pechschwarzen Haaren. Er ist eben wirklich eine kleine Berühmtheit.
„Ach, in Castellar wart ihr?“, fragt am nächsten Morgen Hans’ Kollege Benjamin mit gespieltem Entsetzen. „Das ist der mafiöseste Ort an der gesamten Côte d’Azur. Vor wenigen Jahren wurde dort ein Schäfer erstochen – alle sollen gewusst haben, wer der Mörder ist, aber niemand hat gesprochen. Es ist die reine Omerta da oben.“ Und uns schien der Ort so idyllisch!
Der Ausflug war so herrlich, dass wir am nächsten Wochenende direkt wieder losziehen. Diesmal geht es nach Èze, zwischen Nizza und Menton gelegen. Èze besteht aus drei Stadtteilen, jeder auf einer anderen Höhe angesiedelt. Èze-Bord de Mer liegt an der Küste und hat außer ein paar Strandrestaurants wenig zu bieten. Komisch eigentlich, dass sich hier gleich die ganze U2-Band niedergelassen hat. Bono & Co. haben in Èze Häuser am Meer gekauft, und einmal im Jahr gibt Bono dafür der Lokalzeitung ein Interview. Er hat natürlich das größte Anwesen, ganz im Osten der Bucht. Seine Zufahrtstraße ist privat, sie führt durch einen Tunnel unter den Gleisen zur Villa am Meer. Vom Garten aus kann Bono über einen kleinen Steg auf seine Halbinsel treten, auf der er einen Swimmingpool in den Felsklippen angelegt hat.
Wir wandern von Èze-Bord de Mer nach Èze Village hoch, rund dreihundert Meter über dem Meer gelegen. Der Weg heißt „Nietzsche“, weil der Philosoph einige Jahre an der Côte d’Azur verbracht hatte. Wie viele Künstler brauchte er die tägliche Bewegung. Am Eingang der Strecke steht ein Schild mit einem Nietzsche-Zitat: „Meine Muskeln sind am stärksten, wenn ich besonders kreativ bin. Mein Körper ist enthusiastisch ... Ich kann dann, ohne müde zu werden, sieben oder acht Stunden hintereinander durch die Berge wandern. Dann schlafe ich gut und lache viel.“
Wir gehen einen verwunschenen Weg entlang, und auch wir kommen lachend in Èze Village an, knapp vierhundert Meter über dem Meer gelegen. Èze Village ist die eigentliche, historische Stadt, ein richtiges Adlernest. Im Sommer steuern viele Touristenbusse den Ort an, aber nun, im Februar, ist es ruhig, der fußballfeldgroße Parkplatz unterhalb des Dorfes verlassen. Eine steile, kopfsteingepflasterte Gasse führt ins Zentrum, über die Steinmauern rankt lila blühender Rosmarin, ein niedliches Café reiht sich ans nächste. Ich fühle mich in ein impressionistisches Gemälde versetzt. Die einzige Aussichtsterrasse mit Blick aufs Meer gehört dem Fünfsternerestaurant „Chèvre-d’or“. „Das sieht aber hübsch aus“, sage ich, „hier möchte ich einen Milchkaffee trinken.“ Wir gucken auf die Speisekarte, eingefasst in einen schmiedeeisernen Rahmen. Mein Getränk soll 5,60 Euro kosten, etwa so viel wie sechs Baguettes in einer Boulangerie. „Äh, komm, wir gehen picknicken.“ Im botanischen Garten packen wir unsere Camembert-Sandwiches aus. Dem Milchkaffee trauere ich nicht hinterher, dies hier ist ein wunderschöner Platz, von dem aus wir die Küste der Côte d’Azur überblicken können, bis zum Esterelgebirge hinter Cannes reicht der Blick. „Guck mal die Agave neben dir an, die ist ja riesig“, sagt Hans. Tatsächlich, wir sitzen direkt neben einer blühenden Agave. Die Engländer nennen die Pflanze mit den ausladenden, dickblättrigen und spitz zulaufenden Blättern „century plant“, weil sie meistens erst nach vielen Jahrzehnten einmal blüht. Dann wächst innerhalb von wenigen Tagen eine meterhohe Dolde aus dem Inneren, die schon von Weitem zu sehen ist. Tragischerweise ist die riesige Blüte zugleich der Tod der Pflanze – wenn die walnussgroßen Samen zur Erde fallen, stirbt die ganze Agave. Mexikaner machen aus dem Saft im Stamm dann schnell Tequila, in Südfrankreich kommen die Pflanzen einfallslos auf den Kompost. Einige trockene Hänge an der Côte d’Azur sind gepflastert mit diesen Spargelgewächsen, und das Schauspiel der seltenen Blüte ist häufig zu sehen.
Nach Sandwich und ausgiebigem Agaven-Gucken steigen wir wieder zur Küste hinab. Schritt für Schritt nähern wir uns dem türkisfarbenen Meer. Und uns widerfährt wieder eines der seltsamen südfranzösischen Busphänomene. Normalerweise zirkuliert der 100er-Bus täglich alle fünfzehn Minuten zwischen Nizza und Menton. Eine fantastische Strecke an der „basse corniche“, der Küstenstraße entlang, immer nur wenige Meter über dem Meer. Bloß – nach dreißig Minuten ist immer noch kein Bus vorbeigefahren. „Das darf doch nicht wahr sein, was ist denn hier schon wieder los?“, stöhne ich. „Diese Fahrpläne sind aber auch absolut sinnlos“, mault auch Hans. Schon häufig haben wir beobachtet, wie lange Zeit kein 100er kam, dann wieder zwei in einem Abstand von zwei Minuten. Die Pläne geben immer nur an, wann der Busfahrer am Ausgangspunkt losfährt, nicht aber, wann er an der jeweiligen Haltestelle eintreffen soll. Das hatte mir schon die Hausmeisterin erklärt, als ich sie nach einem Busfahrplan fragte: „Ich gehe immer frühzeitig zur Haltestelle und hoffe, einen guten Moment erwischt zu haben.“ Den haben wir an diesem Sonntag jedenfalls nicht erwischt. Eine Stunde lang kommt gar kein Bus, dann fäh...

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  4. Februar
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