Leben ist Jetzt
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Die Kunst des Älterwerdens

  1. 240 Seiten
  2. German
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Die Kunst des Älterwerdens

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Über dieses Buch

Älter werden wir von alleine. Aber zu wissen, wie man auf gute Weise älter wird, das ist eines der schwierigsten Kapitel der Lebenskunst. Körper und Seele sind wichtig. Aber auch Beziehungen, Sinnfragen, und die Art, wie wir mit unserer Zeit umgehen. Der Blick auf das Alte verschärft nur die Fragen, die eigentlich für das ganze Leben gelten. Leben ist jetzt. Und wir leben ja schließlich nicht, um jung zu bleiben, sondern um alt zu werden.

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Information

Jahr
2010
ISBN
9783451333262

1. Wie die Zeit vergeht

Zeit ist Leben. Unser Älterwerden ist auch davon bestimmt, dass wir zu spüren glauben, wie die Zeit vergeht. Wie das Verrinnen des Sandes in Sanduhr wird es uns bewusst. Mit zunehmendem Alter empfinden wir das Tempo, in dem die Zeit vergeht, als sich steigernde Geschwindigkeit: „Die Zeit fährt Auto“, hat Erich Kästner gedichtet. Wenn wir plötzlich Freunde der Kindheit oder der Jugend wiedertreffen und sehen, wie sie sich verändert haben und wie die Zeit ihre Spuren in ihre Gesichter eingegraben hat, dann wird uns – im Spiegel der anderen – bewusst, dass auch an uns die Jahre nicht spurlos vorübergegangen sind. Hugo von Hoffmannsthal, der das Libretto zur Oper „Der Rosenkavalier“ geschrieben hat, hat viel über dieses Thema der vergehenden Zeit nachgedacht. „Die Zeit“, sagt die Marschallin im Rosenkavalier, „die ist ein sonderbares Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Dann, auf einmal, spürst du nichts als sie; sie ist um uns herum und ist in uns drinnen. In den Gesichtern rieselt sie, in dem Spiegel da rieselt sie, und zwischen mir und dir fließt sie dahin, wie eine Sanduhr, lautlos. Manchmal hör' ich sie rinnen, unaufhaltsam; und ich steh' auf, mitten in der Nacht und lass die Uhren alle stehen.“ Uhren kann man anhalten, die Zeit läuft weiter.
Älterwerden hat mit dieser besonderen Erfahrung zu tun. Wir haben das Gefühl, dass die Zeit zwischen unseren Händen zerrinnt, dass sie „abläuft“, dass uns immer weniger Zeit zum Leben bleibt. Manchen macht diese Erfahrung der begrenzten und endlichen Zeit Angst. Die einen reagieren panisch und wollen die Wirklichkeit nicht wahr haben. Sie versuchen, die Spuren der Zeit zu vertuschen, indem sie Cremes benutzen, die die Falten glätten oder indem sie ihre welkende Haut liften lassen. Andere stürzen sich in Hektik und Betriebsamkeit. Sie möchten die Zeit, die ihnen bleibt, möglichst intensiv nutzen und stopfen alles Mögliche in sie hinein. Und sie haben doch den Eindruck, dass ihnen die Zeit davon läuft, immer schneller und unaufhaltsam. Die Zeit wird dann zum Gegner, mit dem sie kämpfen. Doch das ist nicht der Umgang mit Zeit, den uns Jesus empfiehlt oder zu dem uns die griechische Philosophie einlädt.


Die Griechen haben ihre Erfahrung mit der Zeit in einen Mythos gefasst. Durch die Erzählung verdeutlichen sie einen beängstigenden Aspekt dessen, was – bis heute und in jedem einzelnen Leben erfahrbar – für uns das Geheimnis der Zeit ist: Zeit als eine verschlingende Macht. Dieser alte Mythos erzählt uns vom Urgott, dem Chronos. Er hat seine Kinder aufgefressen aus Angst, sie könnten ihm die Herrschaft streitig machen. Doch seine Frau Rhea überlistet ihn. Als Chronos Zeus geboren hat, wickelte sie einen großen Stein in die Windeln. Als Chronos diesen Stein aß, konnte ihn Zeus überwinden. Wir sprechen heute noch vom Chronometer, vom Zeitmesser. Das ist die quantitativ gemessene Zeit, die immer zu wenig da ist, die Zeit, die uns auffrisst, und die Zeit, die wir als Gegner erleben.
Aber das ist nicht die ganze Weisheit der Griechen zur Erfahrung der Zeit. Sie kennen auch noch ein anderes Wort für Zeit: kairos, die angenehme Zeit, die Gelegenheit und Chance ist. Jesus spricht – in der Tradition dieses griechischen Verständnisses – immer vom kairos, von der angenehmen Zeit, von der erfüllten Zeit. Es ist die Zeit, die uns geschenkt ist und die wir genießen dürfen. Ob wir die Zeit als chronos oder kairos erleben, hängt von uns und unserer Einstellung zur Zeit ab. Wenn wir ganz im Augenblick, im Jetzt, leben, dann nehmen wir die Zeit als angenehme Zeit wahr, als kairos, als Zeit, die uns geschenkt ist. Wir spüren etwas vom Geheimnis der Zeit, die wir nicht festhalten können, die aber im Augenblick uns gehört. Wir atmen in der Zeit, wir fühlen in der Zeit. Wir bekommen ein Gespür für die Zeit.
Das Älterwerden wird uns nur gelingen, wenn wir in diesem Sinn Zeit bewusst erfahren und unsere Beziehung zur Zeit bedenken.

Leben – eine lange Zukunft, oder eine kurze Vergangenheit?

Es heißt, vom Standpunkt eines Kindes aus gesehen sei das Leben eine unendlich lange Zukunft, vom Standpunkt des Alters aus eine sehr kurze Vergangenheit. Sicher ist: die Erfahrung von Zeit ändert sich im Verlauf des Älterwerdens. Kinder können es kaum erwarten, bis Weihnachten wird. Für sie dauert die Zeit länger. Wenn sie an ihren nächsten Geburtstag denken oder gar an den Abschluss ihrer Schulzeit, dann haben sie den Eindruck, dass das unendlich weit weg ist. Sie können sich das oft gar nicht vorstellen. Ältere Menschen haben ein anderes Zeitgefühl. Sie sagen: „Schon wieder ein Jahr vorbei. Es ist schneller vorbeigegangen, als man denkt.“ Warum Kinder und alte Menschen die Zeit so verschieden wahrnehmen, darüber kann ich nur spekulieren. Kinder haben die Zeit noch vor sich. Sie möchten ihr Leben leben. Sie sind ganz und gar auf die Zukunft ausgerichtet. Kleine Kinder sind ganz im Augenblick. Aber sobald sie die Zeit wahrnehmen und sich bewusst machen, leben sie im Blick auf die Zukunft, auf den kommenden Urlaub, auf ein besonderes Fest. Sie erwarten von dem künftigen Ereignis eine Steigerung ihres Lebens. Dabei hängt diese Erwartung davon ab, dass sie etwa den Geburtstag oder Weihnachten schon einmal als wunderbare Feste erlebt haben. So sehnen sie sich danach, dass dieses Fest wieder kommt. Und die Zeit des Wartens wird ihnen leicht zu lang.


Alte Menschen haben viel Vergangenheit hinter sich. Sie haben viel erlebt. Oft genug verweilen sie in ihren Gedanken in der Vergangenheit. Gerade wenn ein Ehepartner gestorben ist oder wenn die Gegenwart nicht viel Aufregendes zu bieten hat, leben sie in der Erinnerung. Das Verweilen in der Vergangenheit lässt die Zeit schneller verstreichen. Alte Menschen warten weniger auf die Zukunft. Sie versuchen, ihren Alltag zu meistern. Um ihn meistern zu können, beziehen sie ihre Kraft aus der Erinnerung an Zeiten, in denen es ihnen noch leichter fiel, ihr Leben zu gestalten. Weil sie aus der Vergangenheit leben, geht die Gegenwart schneller an ihnen vorbei. Die Zukunft ist für sie nicht mehr so wichtig. Das Denken an die Zukunft konfrontiert sie mit dem eigenen Sterben. Und so leben sie lieber in der Vergangenheit. Sie ist der Quelle, aus dem sie schöpfen.


Es gibt allerdings auch alte Menschen, die sich darüber beklagen, dass nichts passiert. Sie sitzen einfach nur da und warten, dass andere kommen, um ihre nachlassende Lebenskraft aufzufrischen und ihre Leere zu füllen. Wie ein alter Mensch die Zeit erlebt, hängt also immer davon ab, wie er zu leben versteht. Wer nur von anderen her lebt, wer sich nur lebendig fühlt, wenn andere mit ihm sprechen und ihn besuchen, dem wird die Zeit leer und lange – und langweilig. Wer jedoch die Gegenwart anfüllt mit guten Erinnerungen an früher, dem geht die Zeit schnell vorbei. Er wundert sich, dass das Jahr schon wieder vorbei ist, dass er ein Jahr älter geworden ist.


Andere alte Menschen leben ganz in der Gegenwart. Sie sind damit beschäftigt, diesen Tag gut zu bestehen. Sie haben ihre festen Rituale, die ihrem Tag einen bestimmten Rhythmus geben. Und so geht ein Tag nach dem andern vorüber. Sie fühlen sich im Leben daheim, auch wenn es nicht ständig etwas Neues bietet. Ja vielleicht gerade deswegen. Auch für solche Menschen geht die Zeit schneller vorüber als für die Kinder, die die Gegenwart gerne überspringen möchten und für die sie deshalb umso länger dauert.

Wer bewusst lebt, dem wird die Zeit nicht lang

Unser Verhältnis zur Zeit ändert sich im Verlauf des Lebens. Kinder und alte Menschen haben auch ein anderes Verhältnis zur Zeit als Menschen, die im Beruf stehen: Menschen im Beruf erleben ihre Zeit stark strukturiert. Der Beruf zwingt sie, täglich zur gleichen Zeit aufzustehen und zur Arbeit zu gehen, wenn sie eine regelmäßige Arbeitszeit haben. Wenn ihre Arbeitszeit variiert zwischen Früh- und Spätschicht, dann wird ihre Zeit auch durch die Arbeit bestimmt. Und ihr Erlebnis der Zeit ist davon abhängig, wie weit der Arbeitsrhythmus ihrem eigenen inneren Rhythmus entspricht. Ganz gleich, wie gut es ihnen gelingt, sich auf den vorgegebenen Rhythmus einzulassen, ihre Zeit wird von außen bestimmt. Sie sehnen sich oft während der Woche nach dem Wochenende, an dem sie sich erholen oder das tun können, worauf sie Lust haben. Ihr Zeitempfinden wird vor allem durch den Wechsel von Arbeitszeit und Freizeit geprägt.


Kindern und alten Menschen fehlt diese Bestimmung der Zeit von außen. Doch Kinder haben durchaus ihren Rhythmus. In den ersten Jahren achtet die Mutter darauf, dass sie das Kind immer zur gleichen Zeit stillt und ins Bett bringt. Sie hört auf den inneren Rhythmus des Kindes und versucht, es an einen Rhythmus zu gewöhnen, von dem sie überzeugt ist, dass er für das Kind gut ist. Später wird das Kind dann vom Rhythmus des Kindergartens und anschließend von dem der Schule bestimmt. Trotzdem gehen Kinder nicht so stark im vorgegebenen Rhythmus auf. Sie freuen sich auf das Außergewöhnliche, auf Feste, auf Partys, auf die besonderen Erlebnisse.


Alte Menschen haben weniger Verpflichtungen von außen. Sie könnten morgens lange im Bett bleiben und einfach in den Tag hinein leben. Doch viele ältere Menschen haben ihren Rhythmus so verinnerlicht, dass sie ihn auch im Alter weiter leben. Sie stehen immer um die gleiche Zeit auf. Sie strukturieren ihren Tag so, dass es ihnen gut tut. Wer seinem Tag gar keinen Rhythmus gibt, der erlebt ihn oft als langweilig und leer. Wer jedoch einen guten Rhythmus für sich gefunden hat, der lebt jeden Tag gleich, gleich erfüllt und nicht gleich langweilig. Er freut sich auf seinen täglichen Spaziergang, oder auf das Hobby, dem er täglich bestimmte Stunden reserviert hat. Er steht nicht mehr unter Zeitdruck. So kann er sich ganz seinem inneren Rhythmus überlassen.


So lange der alte Mensch noch gesund ist, kann er sich an seinem Rhythmus und an seinem Leben freuen. Doch sobald er krank wird und jeden Tag als Last empfindet, erlebt er die Zeit anders. Da möchte er gerne, dass die Zeit zu Ende geht. Allerdings gibt es auch kranke Menschen, die trotzdem noch am Leben und an der Zeit hängen. Papst Johannes XXIII. erzählt bei seinem Besuch eines Arbeiterviertels in Rom, er habe einmal eine alte Frau besucht, die im Sterben lag. Er wollte sie trösten, indem er sagte, dass doch diese Welt, die sie jetzt verlassen müsse, nur ein Tal der Tränen sei. Darauf richtete sich die sterbende Frau in ihrem Bett auf und antwortete: ¸Aber, Herr Pfarrer, es weint sich doch so schön in diesem Tal der Tränen!'“ Auch in ihrer Krankheit hing diese Frau noch am Leben: Lieber noch in der Zeit leben, als die Zeit verlassen.


Es gibt Unterschiede im Zeiterleben, je nachdem in welchem Lebenszyklus ich gerade stehe. Aber das Zeitlerleben hängt nicht nur vom Lebenszyklus ab, sondern auch von der Art und Weise, wie ich mein Leben verstehe und lebe. Wer sich um das Leben betrogen fühlt, der erlebt die Zeit immer als Last. Dem kann die Zeit nicht schnell genug vorbei gehen. Wer dankbar lebt, der lebt in der Zeit. Der genießt den Augenblick. Und zugleich vergeht ihm die Zeit so schnell. Weil er bewusst lebt, wird ihm nie langweilig. Er genießt die Zeit und weiß zugleich, dass sie begrenzt ist. Gerade im Wissen um die Begrenztheit seiner Zeit erlebt er sie mit allen Sinnen, voller Dankbarkeit und Achtsamkeit.

Wer weise ist hat alle Zeit der Welt

In der Jugend geht es vor allem darum, möglichst viel in der Zeit zu erleben. Man neigt dazu, Zeit mit den Erlebnissen zu verwechseln, die man in der Zeit macht. Je älter wir werden, desto mehr Gespür bekommen wir für den Augenblick, für das Geheimnis der Gegenwart. Wer im Augenblick lebt, der braucht keine äußeren Erlebnisse, um sich lebendig zu fühlen. Er spürt sich selbst. Und er nimmt seine Umgebung wahr. Da genügt ihm ein Spaziergang im Wald, um ganz im Augenblick zu sein und ihn zu genießen. Oder es genügt ihm das intensive Gespräch mit einem Freund, um die Zeit zu vergessen. Oder aber er lässt sich auf die Stille ein. In der Stille der Meditation steht die Zeit still. Da ahnt er mitten in der Zeit etwas von der Ewigkeit, die in seine Zeit einbricht.


Je älter der Mensch wird, desto mehr wird er sich der Endlichkeit seiner Zeit bewusst. Manche versuchen, die Begrenztheit ihrer Zeit mit möglichst vielen Aktivitäten aufzufüllen. Sie haben Angst, sie könnten etwas versäumen. Letztlich ist es die Angst vor dem ungelebten Leben, die sie dazu antreibt, möglichst viel mit der Zeit anzufangen. Doch je mehr sie sich unter Druck setzen, möglichst viel zu erleben, desto weniger erleben sie wirklich. Sie werden unfähig, im Augenblick zu sein und das, was sie gerade wahrnehmen, mit allen Sinnen wahrzunehmen.


Andere nehmen die Endlichkeit ihrer Zeit zum Anlass, sich ganz dem Augenblick zu widmen. Sie überlegen sich, welche Spur sie in diese Welt eingraben möchten, was sie dem, mit dem sie gerade sprechen, sagen möchten, was sie ihm an Lebensweisheit vermitteln möchten. Was ist die Essenz meines Lebens, die ich weitergeben möchte? Solche Menschen könnte man weise nennen: Sie gehen mit ihrer Zeit behutsam um. Sie können die Zeit genießen. Für sie gibt es nichts Wichtigeres als den momentanen Augenblick. Sie sind ganz gegenwärtig. Sie vermitteln den Eindruck, dass sie alle Zeit der Welt haben. Weil sie die Endlichkeit ihrer Zeit zulassen, sind sie gelassen, lassen sie die Zeit sein, was sie ist: ein Geschenk Gottes an den Menschen.

Die erste und die zweite Lebenshälfte

Der französische Moralist Jean de La Brugere hat einmal gesagt: „Die meisten Menschen leben die erste Hälfte ihres Lebens so, dass die zweite Hälfte nur noch schwieriger wird.“ Da ist etwas dran. Wie wir das Alter erleben, das hängt immer davon ab, wie wir bisher gelebt haben. Wer in der ersten Lebenshälfte nur das Äußere kennt, nur Geldverdienen, Arbeiten, ein Haus bauen, der wird sich in der zweiten Lebenshälfte schwer tun, wenn das, was bisher sein Leben ausgemacht hat, wegfällt. Im Alter kann man nicht weiterhin Häuser bauen. Da kann man sich nicht mehr von der Arbeit definieren. Da zeigt sich, worauf ich mein Lebenshaus gebaut habe.


C. G. Jung bringt noch einen anderen Aspekt, warum sich Menschen die zweite Lebenshälfte erschweren. Wer in der ersten Lebenshälfte nicht gelernt hat, zu kämpfen, an sich zu arbeiten, sich in die Konflikte des Lebens einzulassen, der tut sich schwer, in der zweiten Lebenshälfte gelassen zu werden. Wer nicht wirklich gelebt hat, der kann auch sich und sein Leben nicht loslassen. Er hat nichts, was er loslassen kann. Das Loslassen macht ihm Angst. Denn dann hat er nichts in der Hand. Er hat nichts anderes als das Äußere. Den inneren Reichtum hat er vernachlässigt. Wenn der äußere Reichtum ihm genommen wird, steht er arm da. Davor haben viele Menschen Angst. Und so verbringen sie die zweite Lebenshälfte damit, krampfhaft an ihrem Besitz festzuhalten, krampfhaft die Zeit auszufüllen, damit sie ihre eigene Bedeutsamkeit vor aller Welt beweisen. Sie stehen immer unter Druck, sich und ihre Lebendigkeit und ihre Wichtigkeit zu beweisen. Weil sie nicht wirklich leben, müssen sie etwas vorweisen, um zu beweisen, dass sie noch am Leben sind, dass mit ihnen noch zu rechnen ist.

Wer zu seinem Alter steht, der bleibt lebendig

Sich als Erwachsener zu verkleiden macht noch keinen Erwachsenen. Sich als Jugendlicher zu verkleiden macht nicht jung. Offensichtlich gibt es Menschen, die sich schwer tun, sich ihrer jeweiligen Lebensphase und ihrer Wahrheit zu stellen. Wir beobachten heute einen Jugendwahn. Auch manche alte Menschen verfallen diesem Wahn. Sie lassen sich von den Erwartungen der anderen bestimmen. Sie meinen, sie wären von der Gesellschaft nur akzeptiert, wenn sie jung und dynamisch aussehen. C. G. Jung nennt das eine Pervertierung des Menschseins. Man vergisst den Wert des Alters und möchte ewig jung bleiben. Doch dann reift man nicht, dann wird man nicht weise. Man lebt ständig gegen seine eigene Natur. Denn ob man will oder nicht, man wird doch älter.


In einer Zeitung war kürzlich zu lesen, dass die Schönheitsoperationen in den USA in den letzten 10 Jahren um 450 % gestiegen sind. Im Jahre 2007 wurden in den Vereinigten Staaten 11,7 Millionen medizinische Kosmetikbehandlungen vorgenommen. Auch Männer unterziehen sich zunehmend solchen Operationen. Hintergrund dieser Tendenz: Falten und Tränensäcke kann man sich im Beruf nicht mehr leisten. Nur wer jung und hübsch ist, hat Aussicht auf Erfolg. Hier werden Werte wie Erfolg und Jugendlichkeit absolut gesetzt. Die wahren Werte des Menschseins, seine Würde, seine Weisheit, seine Menschlichkeit zählen nicht mehr. Aber wer sich diesem Diktat der Jugendlichkeit beugt, verbiegt sich selbst. Er lebt als ein Gehetzter. Denn ständig hetzt er seinem jugendlichen Aussehen nach, das auch bei noch so vielen Operationen nicht festzuhalten ist. Jemand hat angesichts der hochgeschminkten Alten einmal gesagt, das sei „Kriegsbemalung“ – weil...

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung
  2. 1. Wie die Zeit vergeht
  3. 2. Leben ist Wandel – von Anfang an
  4. 3. Körper und Gesundheit
  5. 4. Beziehungen ändern sich und brauchen Pflege
  6. Eltern-Kinder, Großeltern-Enkel
  7. Männer-Frauen
  8. Partnerschaft: Die Liebe neu entdecken
  9. Soziale Beziehungen: Sich einbringen in die Gemeinschaft
  10. 5. Zu sich selber finden
  11. 6. Sich der eigenen Seele öffnen
  12. 7. Zeit wird kostbar
  13. 8. „Endlich“ leben
  14. Schluss
  15. Literatur