1. Spurenlesen:
Der drohende Verlust des Ursprungs
âJedem Worte klingt
Der Ursprung nach, wo es sich her bedingt.â1
Goethe
Sobald das UrsprĂŒngliche zur Sprache gelangt, beginnt der Sprechende Schutz bei Metaphern zu suchen. Die Bedeutung des als Ursprung Bezeichneten entzieht sich zunĂ€chst jeglichem verbalen Zugriff. Die vermeintliche Ein- Deutigkeit wird brĂŒchig und muss stets aufs Neue eingeholt und sprachlich behutsam umgrenzt werden, um nicht durch vorschnelle Grenzziehungen eine SchmĂ€lerung seines unvergleichlichen, einmaligen Bedeutungsfeldes zu erfahren. Der Ursprung nimmt als PhĂ€nomen eine ausgezeichnete Position ein, er ist als Beginn einer Abfolge unvergleichbar, ein einzigartiger Anfang. Sowohl der Zeitpunkt, als auch das Wie des Ursprungs erscheinen gleichermaĂen fern, kaum erreichbar zu sein. DemgemÀà bezieht sich das Denken sowohl auf den Inhalt als auch auf die Form der Genese, auf die Art und Weise des anfĂ€nglichen Anhebens, dem Aspekte des zeitlich konnotierenden Vorstellens innewohnen. Das UrsprĂŒngliche ist als erstes Einsetzen dessen denkbar, von dem sich alles Weitere herschreibt, gleichzeitig jedoch auch als das Wie des Anbeginns, auf das sich alles Erinnern bezieht.2 Die Retrospektion als erinnernde Bezugnahme ist stets von besonderer Art, denn das Rekurrieren erfolgt entlang von Spuren, die sich der AnfĂ€nglichkeit des Ursprungs nĂ€hern, um an das Beginnen heranzureichen und dieses sogar zu berĂŒhren. Spuren sind in einem solchen Kontext von eminentem Wert, denn ohne diese droht die FĂŒhlung zum Ursprung verloren zu gehen, das autonome Wissen um die je eigene Herkunft in Gefahr zu geraten. Physischen FĂ€hrten gleich reprĂ€sentieren Spuren jene Verbindungslinien, die sicherstellen, dass ein tragfĂ€higes Bewusstsein individueller IdentitĂ€t bestehen bleibt. Sie versichern und bezeugen, dass ein Anbeginn statthatte und nicht immerzu neue GrĂŒndungen unablĂ€ssig Anfang mit Anfang ĂŒberschrieben.
Vita brevis â GesprĂ€che in SaĂŻs
Das Leben ist kurz, verglichen mit den langen ZeitrĂ€umen, welche der RĂŒckblick durchmisst. Kritias, der gleichnamige GroĂvater des platonischen Kritias â aus dessen Dialog Timaios â erzĂ€hlte als Greis von nahezu 90 Jahren seinem erst zehnjĂ€hrigen Enkel von einem solchen anfĂ€nglichen Anfang. In seinen AusfĂŒhrungen erinnerte der hochbejahrte Kritias an seinen eigenen Vater, Dropides, den UrgroĂvater des platonischen Kritias. Letzterer war ein Freund Solons gewesen, jenes frĂŒhen gesellschaftsphilosophischen Staatsmannes und antiken Berichten zufolge bedeutendsten der Sieben Weisen Griechenlands. Solon erzĂ€hlte dereinst von einer seiner Begegnungen mit Ă€gyptischen Priestern, in der Stadt SaĂŻs im damaligen Nildelta. Seine GesprĂ€che mit den Geistlichen hatten unter anderem die Ă€ltesten Zeiten zum Inhalt, waren doch beide StĂ€dte, SaĂŻs und Athen, den Mythen zufolge GrĂŒndungen derselben Göttin NeĂŻth, die den griechischen Namen Athene trug.3
In ihrem GesprĂ€ch ĂŒber den Ursprung und die ferne Geschichte entdeckte Solon, dass er im Vergleich zu den Ă€gyptischen Priestern nur fragmentarische Kenntnisse hinsichtlich der eigenen griechischen historischen und kulturgeschichtlichen UrsprĂŒnge besaĂ. Die Ăgypter konnten hingegen auf schriftliche Zeugnisse Bezug nehmen und ohne Schwierigkeiten â entlang von Spuren, gleichsam mit sicherem Geleit â zu den weit zurĂŒckliegenden AnfĂ€ngen schreiten; nicht nur zu deren eigenen, sondern auch zu jenen der Hellenen. Die Griechen hingegen wĂ€ren gezwungen gewesen, so der Befund der Ăgypter, die LĂŒcken in ihrem Geschichtswissen mit Narrationen zu fĂŒllen, um die Leerstellen zu vervollstĂ€ndigen. Kriege und Naturkatastrophen hĂ€tten die Spuren in die Vergangenheit vielfach unterbrochen. Mythen mĂŒssten daher den Griechen als Substitute fĂŒr beschĂ€digte Spuren dienen; als Narrationen, die eine durchgĂ€ngige ErzĂ€hlung von den UrsprĂŒngen her, und sohin die je eigene IdentitĂ€t reproduzierend, sicherstellen sollten. Einer der hochbetagten Ă€gyptischen Priester meinte, an Solon gewandt:
âSolon, Solon, ihr Hellenen bleibt doch immer Kinder, ... ihr seid alle jung an Geiste, denn ihr tragt in ihm keine Anschauung, welche aus alter Ăberlieferung stammt, und kein mit der Zeit ergrautes Wissen. ... Zahlreich und mannigfaltiger Art sind die vernichtenden Verheerungen, die ĂŒber das Menschengeschlecht hereingebrochen sind und hereinbrechen werden, die gewaltigsten durch Feuer und Wasser, andere geringere durch tausenderlei andere Ursachen.â4
Kaum sei die hellenische Kultur bis zur Herausbildung des Schriftwesens emporentwickelt worden, so der Ăgypter zu Solon, sei jedes Mal aufs Neue eine Katastrophe hereingebrochen und hĂ€tte meist nur jene Robusten ĂŒberleben lassen, die von Bildung und Schriftwesen keine Ahnung gehabt hĂ€tten:
âSo kommt es, dass ihr immer wieder gleichsam von Neuem jung werdet, ohne jede Kunde von dem, was sich in alten Zeiten, sei es hier bei uns oder sei es bei euch ereignet hat.â5
Zahllose versehrte und unterbrochene, jedoch auch unbeschĂ€digte, vollstĂ€ndige Spuren kennzeichnen die Retrospektion, als RĂŒckweg zu jenem Ursprung, an dem das Anheben als AnfĂ€nglichkeit des Anfangs stattfand. Und auch diese AnfĂ€nglichkeit des Anfangs entzieht sich dem phĂ€nomenologischen Zugriff. âChĆraâ6 lautet die platonische Metapher fĂŒr jene dritte Dimension der AnfĂ€nglichkeit, zu der es keinen direkten Sprachweg des Bezeichnens gibt. In ihrem Dialog stellen Timaios und Sokrates hinsichtlich des Ursprungs zunĂ€chst zwei Dimensionen fest: das immer Werdende, das prozesshaft zu denken ist und daher mit Notwendigkeit einen Ursprung zur Voraussetzung haben muss sowie das âimmer Seiende, welches kein Werden zulĂ€sstâ7. ChĆra ist eine dritte EntitĂ€t, zu der keine sprachlichen Denotationen fĂŒhren, sondern nur Spuren und verweisende Metaphern. Dieses Dritte bezeichnet als immaterielle EntitĂ€t nicht den Ursprung selbst, sondern dessen UrsprĂŒnglich-Werden. Ein Begriff, in dessen Bedeutungsraum die Möglichkeit und der Grund fĂŒr das ĂŒberhaupt UrsprĂŒnglich-Sein des Anfangs enthalten sind. Dies umfasst jene Vorstellung einer Möglichkeit, die den Grund dafĂŒr legt, dass sich ein Ursprung hinsichtlich seiner AnfĂ€nglichkeit zu entfalten vermag. ChĆra ist bei Platon ein metaphorisches tertium, je nach Ăbersetzung auch Aufnehmerin bzw. EmpfĂ€ngerin und âAmme alles Werdensâ genannt. Um sich diesem tertium begrifflich anzunĂ€hern, lĂ€sst Platon daher auch Timaios eine dritte Gattung, trĂton gĂ©nos, dialogisch ins Spiel bringen.8 Indem sich die AnfĂ€nglichkeit des Ursprungs jedoch einem bezeichnenden Zugriff widersetzt, bleiben auch die bildlichen AnnĂ€herungen an eine dritte Gattung nur Versuche, die Aspekte der Bedeutung des Nomens AnfĂ€nglichkeit des Ursprungs hinĂŒberzutragen, metaphĂ©rein, um diese dem Verstehen zuzufĂŒhren.9 Die Amme alles Werdens ist demzufolge eine die âAnfĂ€ngnis des Anfangsâ10 sprachlich ermöglichende EntitĂ€t. Sie erfĂŒllt zudem die Rolle jener verbalen Substitute, die in die unterbrochenen Stellen der retrospektiven ErzĂ€hlung, zwischen dem Urbild und dessen Abbildern, narrativ eingefĂŒgt werden. Als ĂŒberschreibender Neubeginn, der in die LĂŒcken des diskontinuierlichen, unvollstĂ€ndigen RĂŒckblicks auf die eigene Geschichte eingefĂŒgt wurde, wie der Ă€gyptische Priester einst dem Solon vorwarf.
Spuren konstituieren jeweils einen RĂŒckweg unter vielen möglichen FĂ€hrten. Sie sind daher stets entlang jener VerlĂ€ufe zu profilieren, die von einem Anfang ihren Fortgang nahmen. Da jedoch das Fortschreiten aufgrund seines Entwurfcharakters niemals festgelegt ist, sondern eine von zahlreichen Möglichkeiten darstellt, die im Ursprung ihren Ausgang nahmen, sind auch Spuren jeweils nur einer von vielen rĂŒckblickenden Verweisen auf die AnfĂ€ngnis des Anfangs. Den Ursprung demnach nur auf ein temporĂ€res Beginnen festzulegen, kĂ€me einer unzulĂ€ssigen Reduktion gleich, denn das Ausgezeichnete des Anfangs besteht im einzigartigen Möglich-Werden, das gleichzeitig auch eine Einfachheit des AnfĂ€nglichen darstellt. Alles weitere Werden und Geschehen ist zwar im Ursprung angelegt, doch nur Weniges, wie beispielsweise das Wesen der Kunst, ist dem Ursprung selbst zugehörig, von dem aus es sich wachsend ereignet. Spuren sind demzufolge weder Teil des Anfangs, noch entspringen sie aus diesem, sie fĂŒhren jedoch zum sich Ereignenden des Ursprungs zurĂŒck und an diesen heran. Die Gewissheit, die sich mit dem Sichtbarmachen und Vor-Augen-FĂŒhren des ersten Ereignens einstellt, entspricht einer Sicherheit im Range der UnumstöĂlichkeit hinsichtlich des anfĂ€nglichen âso war esâ.
Das Verwischen von Spuren als Verlust der Aura
Gerade deshalb, weil âdas Bedeuten der Spur darin besteht, zu bedeuten, ohne in die Erscheinung zu rufenâ11 entzieht sich diese dem phĂ€nomenologischen Zugriff. Die Spur ist â metaphorisch gewendet â gegen jeglichen phĂ€nomenologischen Zugriff imprĂ€gniert; der Zugang zum Begriff der Spur grĂŒndet geradezu auf deren Nicht-Zuordenbarkeit zur PhĂ€nomenologie. In gleichem MaĂe, wie sich ihr Verbergen nahezu lĂŒckenlos vollzieht, bleibt die Funktion ihres Bezeichnens erhalten; doch nicht als herkömmliches, sondern als besonderes, als ausgezeichnetes Denotieren, das einer verweisenden Bezugnahme-auf entspricht. Spuren begĂŒnstigen das Entstehen von Relationen; ihr Rekurrieren-auf Ă€hnelt jener Funktion, die auch Metaphern erfĂŒllen, indem sie sich sprachlich auf Aspekte eines anderen, fremden Nomens beziehen.12 Kraft ihrer hinweisgebenden Funktion stellen Spuren Verbindungen her, Anspielungen auf jenes Dritte, dem E. LĂ©vinas, einen Neologismus zu Hilfe nehmend, âIlleitĂ€tâ13 attestiert.
Doch Spuren sind auch in der Lage zu verunsichern und zu erschĂŒttern, denn im Unterschied zu den Zeichen im Sinne von C.S. Peirce, die sowohl Abwesendes als auch Anwesendes reprĂ€sentieren, verweisen Spuren auf eine andere QualitĂ€t des Abwesens. Diesem unvergleichlichen Fernsein haften Aspekte jenes endgĂŒltigen, absoluten Abwesens an, zu dem Spuren wie vorgestellte Verbindungslinien oder unauflösbare VerschrĂ€nkungen fĂŒhren. Im Unterschied zu herkömmlichen Zeichen pragmatischer Provenienz stellen Spuren intentionsloses ReprĂ€sentieren dar.14 WĂ€hrend das Zeichen nicht ohne Bedeutungsintention vorstellbar ist, bedeutet die Spur intentionslos, losgelöst von Interesse, per effectum. Ihr Bedeuten geht hervor, es ergibt sich als ein zu Stande Kommen von Vorstellungen, als Gegenstehen vor einem denkenden Anschauen. Doch trotz ihrer grundlegenden Intentionslosigkeit fordern Spuren als Indizien von VorĂŒbergegangenem implizit dazu auf, den gedanklichen Weg zum Abwesenden keinesfalls zu verlassen und dieses zumindest als Schema oder als âSimulacrum eines Anwesensâ15 vorzustellen. Erst eine Synthese von GedĂ€chtnis und Vorstellung bringt es zuwege, in eine Spur des Abwesenden hineinzugelangen und sich fortan in dieser zu halten. Die LeistungsfĂ€higkeit der Spur zeigt sich in ihrer nahezu mĂŒhelos-intentionslosen Weise zu bedeuten, in ihrem gleichsam unaufdringlichen Anbieten von Bedeutung, um auf das Abwesende, das Vergangene oder die Ferne des Ursprungs hinzuweisen.
Im komplexen Geflecht von W. Benjamins Passagenwerk sind direkte materielle aber auch indirekte Verweise...