Die Tragödie des Episodischen
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Die Tragödie des Episodischen

Kontingenz und Zeitlichkeit in Laurence Sternes Tristram Shandy

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Die Tragödie des Episodischen

Kontingenz und Zeitlichkeit in Laurence Sternes Tristram Shandy

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Im dominierenden chronologisch-linearen Zeitmodell des abendländischen Denkens ereignen sich Geschehnisse immer schon aus einer übergeordneten zeitlich-chronologischen Ordnung heraus und fallen in die linear verfasste Zeit ein. Damit trifft eine offene, als Linie gedachte Zeitdimension innerhalb der Erzählung auf eine geschlossene, zirkuläre Zeitstruktur, deren unauflösbarer Widerstreit im theoretischen Fokus dieser Arbeit steht. Mit Rekurs auf theoretische Arbeiten von Ricoeur und Bachtin wird aufgezeigt, dass es sich bei diesem Widerstreit in modaler Hinsicht um den zwischen einer als ereignishaft und ereignisoffen konzipierten Kontingenz und eines als notwendig und determiniert verstandenen Zufalls handelt.In einer anschließenden Lektüre des Romans Tristram Shandy (1759-1767) von Laurence Sterne, insbesondere der Erzählung von Onkel Toby, zeigt die Arbeit im Weiteren auf, inwiefern sowohl das Genre der Tragödie als auch das der abenteuerlichen Romanze im Text zwei konkrete gegnerische Widerlager bilden, mit deren gegenseitiger Konfrontation die narrativen Manifestationen der Aporien von Zeit und Kontingenz minutiös ausgeleuchtet werden können. Es wird rekonstruiert, inwiefern der Roman sowohl das Etablieren von einfachen Erzähllinien als auch ihr Scheitern erzählt.

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Information

1. Zufall und Kontingenz in der Narratologie

1.1 Einführung

1.1.1 Das Denken ‘der Zeit’

“Musste man die Zeit denken?” Mit dieser Frage versucht der französische Philosoph und Sinologe François Jullien in seiner Schrift Über die ‘Zeit’ einen Standpunkt einzunehmen, der es ihm erlaubt, das okzidentale Denken der Zeit von einem “Außerhalb” (13) zu betrachten. Dieses ‘Außerhalb’, so glaubt er, könnte das chinesische Denken sein, denn China, so Jullien, habe zwar “den jahreszeitlichen ‘Moment’ und die ‘Dauer’ gedacht, nicht aber eine Hülle, die sie beide enthielte und welche die homogen-abstrakte ‘Zeit’ wäre” (10).1 Wenn der europäische Philosoph seinen Blick auf China richtet, so hofft Jullien, dann frage er sich womöglich, was das für ein Denken sei,
das weder die ‘Körper’ in ‘Bewegung’ gedacht hat, also das, was Ausgangspunkt unserer Auffassung von physikalischer Zeit, von der ‘Zahl der Bewegung’ ist, noch das, woraus die Metaphysik entsteht, nämlich die Entgegensetzung von Zeitlichem und Ewigem oder Sein und Werden, und dessen Sprache es schließlich durch Verzicht auf Konjugation vermeidet, Zeiten, also Futur, Präsens und Vergangenheit, gegeneinander zu stellen?
Julliens primäre Absicht besteht offenbar darin, nach einer Alternative zum bzw. im Denken der Zeit zu fragen (10). In obigem Zitat führt er die für ihn wichtigen drei “Ebenen” (15) des okzidentalen Verständnisses der Zeit auf, mit denen die westliche Philosophie sich in ihrem Denken der Zeit eingerichtet habe: “die der Physik, wo die Zeit dazu dient, die Bewegung zu denken; die der Metaphysik, wo das Zeitliche in Opposition zum Ewigen aufgefaßt wird; die Grammatik, wo die Zeit durch die unterschiedlichen Tempora der Konjugation definiert wird” (15). Jullien zufolge sind diese drei Grundvorstellungen so verschiedenartig und inkommensurabel, dass die unvermeidlichen Aporien, die sich in ihrem reflexiven Übereinanderblenden einstellen, mittlerweile zu Gemeinplätzen des philosophischen Denkens geworden sind:
Wenn ich mir aber die Mühe gemacht habe, diese Gemeinplätze erneut durchzugehen, dann um zwei Dinge zu zeigen oder vielmehr zu verbinden: einerseits das von aller Welt Gewußte […], nämlich daß die Zeit, trotz ihrer scheinbaren, durch althergebrachten Gebrauch gestützten Evidenz, philosophisch notwendigerweise ein enigmatischer Ort ist; und andererseits, daß unsere Diskurse über sie sehr schnell zu erstarren pflegen. […] Diese verschiedenen Furchen, zwischen denen sich die Frage der Zeit entfaltet hat, erweisen sich als ausgetretene Pfade, als Routine – als Gewohnheit. (17)
Die vorliegenden Überlegungen zum Zusammenhang von Zeit und Erzählung werden sich ebenfalls entlang dieser “Furchen” bewegen. Und zwar insofern, als mit der im Hauptteil vorgelegten Lektüre von Laurence Sternes Tristram Shandy diese verschiedenen Ebenen des linear-chronologischen Denkens der Zeit bewusst übereinander geblendet werden sollen. Analog zu Jullien ließe sich nämlich für das Denken der Erzählung fragen: “Müssen Ereignisse erzählt werden?” Paul Ricœur hat bekanntlich genau diese Frage in einem anthropologischen Sinne bejaht, insofern er daran glaubte, dass nur die Erzählung, aufgrund ihrer spezifischen narrativen Verfasstheit, den Aporien des Zeitdenkens eine Antwort zu geben vermag. Diese von Ricœur vollzogene Zusammenstellung von Zeit und Erzählung wird in den folgenden theoretischen Überlegungen einen wichtigen Leitgedanken darstellen. Mit Ricœur soll die Annahme geteilt werden, dass die von Jullien aufgezählten unterschiedlichen Sichtweisen der Zeit in der ‘Erzählung’ ihr aporetisches Potenzial entfalten, weil sie in diesem Medium immer schon aufeinander bezogen sind, ohne ihre Widerstreitigkeit dabei zu verlieren. Vorgreifend könnte mit Rekurs auf Jullien die ‘Erzählung’ auch als eine Art kulturelles Artefakt bezeichnet werden, das in seinem Gebrauch stets den Anlass gegeben hat, den von ihm beschriebenen Übergang von enigmatischem Phänomen zu routinierter Reflexion der Zeit immer wieder zu vollziehen. Die Erzählung wäre demnach ein Ort, in dem sich die von Jullien bezeichneten “ausgetretenen Pfade” immer wieder hartnäckig miteinander verschränken und eine Reflexion der Zeit stets aufs Neue provozieren. Dies wäre für sich genommen wohl noch keine genuin neue Erkenntnis. Die narratologische Forschung hat sich schließlich spätestens sei Genette vornehmlich mit grundlegenden temporalen Konstellationen beschäftigt, und die Literaturgeschichte des Romans ist immer wieder als eine Art Reflexion des Genres auf seine eigene temporale Verfasstheit beschrieben worden.
Das grundlegende Desiderat jedoch ergibt sich aus der nahezu ausschließlichen Vernachlässigung modaler Verhältnisse. Weder Jullien noch Ricœur stellen die von ihnen konstatierten aporetischen Spekulationen der Zeit in einen näheren Zusammenhang zur modalen Kategorie der Kontingenz. Eben dies unterlässt auch die traditionelle narratologische Forschung. Wenn etwa Ricœurs Annahme stimmen sollte, dass die Erzählung immer schon aporetische Strukturen der Zeit auf ihre Weise reflektiert, dann kann dies nur hinreichend erfasst werden – so die grundlegende These der vorliegenden Arbeit –, wenn diese Aporien auch in Hinsicht auf eine basale modaltheoretische Dimension beschrieben werden. Das chronologisch-lineare Zeitmodell des abendländischen Denkens ist immer auch schon eines, in dem sich Ereignisse aus einer übergeordneten zeitlichchronologischen Ordnung heraus (als eine “Hülle” der Zeit, um es mit Jullien auszudrücken) ereignen und in die linear verfasste Zeit (der Bewegung) einfallen. Eine offene, als Linie gedachte Zeitdimension trifft innerhalb der Erzählung schon immer auf eine geschlossene, eher zirkuläre Zeitdimension, deren unauflösbarer Widerstreit nur mit einer ereignishaften Verschränkung noch näher zu bestimmender modaler Bestimmungen erfasst werden kann. Ganz gleich, welche Dichotomien in der Erzählung antagonistisch aufeinandertreffen ob Sukzession vs. ‘fließende Bewegung’, Kontinuität vs. Diskontinuität, Irreversibilität vs. Reversibilität oder Indeterminiertheit vs. Determiniertheit, es ist immer der modal-temporale Widerstreit zweier gänzlich unvereinbarer Entitäten, die gleichwohl auf einander bezogen werden müssen. Es ist der Widerstreit zwischen einer als ereignishaft und ereignisoffen konzipierten Kontingenz und eines als notwendig und determiniert verstandenen Zufall. Onkel Toby wird im Tristram Shandy an einer zentralen Stelle seines eigenen Schicksals ganz unbedarft und naiv sagen “—’twas a matter of contingency, which might happen, or not, just as chance ordered it” (693).

1.1.2 Kontingenz und Narratologie

Die vorliegende Arbeit geht von der grundlegenden Annahme aus, dass es sich bei einer Erzählung um ein Ordnungsmodell von einzelnen zeitlichen Ereignissen handelt. Das setzt wiederum voraus, dass mit der Verhandlung von einzelnen Ereignissen im Sinne offener Eventualitäten und einem wie auch immer verfassten übergeordneten Ordnungsprinzip zwei absolut unterschiedliche Dimensionen die Erzählung prägen. Diesen wohl unstrittigen Zusammenhang erläutern etwa Matias Martinez und Michael Scheffel in ihrer Einführung in die Erzähltheorie anhand der von ihnen vornehmlich vorgestellten Ansätze strukturalistischer Provenienz. Demnach bestimmen auch Vertreter solcher Ansätze innerhalb der Erzähltheorie die Aspekte der zeitlichen Ordnung und der erzählten Abfolge von Ereignissen als die beiden konstitutiven Aspekte einer Erzählung. Dabei wird Letztere meist nicht nur in ihrer reinen Sequenzialität erfasst, vielmehr soll an der zu beschreibenden Folge bzw. Verknüpfung der erzählten Ereignisse eine spezifische ‘Veränderung’ – ein ‘change of states’–ablesbar sein. Traditionell werden hierbei bekanntlich nicht nur temporale, sondern meist auch kausal motivierte Verknüpfungsprinzipien bei der Erstellung analytisch-narratologischer Kategorien und Begriffe berücksichtigt. Sieht man einmal von kausalen Zusammenhängen ab und betrachtet hinsichtlich der begrifflichen Beschreibung eines narrativen Ereignisses primär temporale Verknüpfungsprinzipien wie ‘Anfang’ und ‘Ende’ oder ‘früher’ und ‘später’, dann fällt laut Martinez und Scheffel auf, dass solche Begriffe nur verwendet werden können, wenn eine epistemische (oder auch kognitive) Position eingenommen wird, “die dem beschriebenen Ereignis gegenüber zukünftig” (121) ist. Das gesamte Geschehen der erzählten Welt kann als bereits ‘vergangen’ bezeichnet werden, “insofern es von Anfang an als abgeschlossenes Ganzes aufgefasst und im Präteritum erzählt wird, als chronologische Gestalt, in welcher bereits der Anfang sinnhaft auf das Ende bezogen ist” (119). Trotz dieser offenbar konstitutiven ‘Geschlossenheit’ einer jeden Erzählung lässt sich aber auch beobachten, dass die meisten Texte ihre größte Spannung dann entfalten, wenn sie das dargestellte Geschehen als ein offenes und gegenwärtiges erfahrbar machen. Dem Leser wird es mehr oder weniger ermöglicht “die Figuren als in das Geschehen der erzählten Welt verstrickte Personen” (119) zu verstehen. Für ihn stellen sie dann potenziell Handelnde dar, die als Unwissende in eine offene Zukunft blicken, die sie jedoch ihren eigenen Möglichkeiten gemäß zu beeinflussen suchen. Matias Martinez und Michael Scheffel nennen diese vermeintlich paradoxe Struktur geschlossener und offener Ordnungen die “doppelte Zeitperspektive des Erzählens” (119).2
Spätestens seit Genettes triadischer Einteilung der Erzählung in histoire, discours und narration schienen die analytisch-heuristischen Grundlagen aufgestellt zu sein, um die theoretischen Komplikationen dieser beiden perspektivisch konträren zeitlichen Ordnungen beschreiben zu können. Jedoch wurde in grundlegenden Gegenstandsbestimmungen der Erzähltheorie oftmals das Verhältnis von histoire- und discours-Ebene zum ausschlaggebenden Kriterium des ‘Narrativen’ erklärt. Dabei war für die histoire meist der die chronologische Geschlossenheit suggerierende Strukturbegriff ausschlaggebend. Die discours-Ebene wurde hingegen mit Begriffen wie Repräsentation oder Medium erfasst und somit indirekt auf die histoire-Ebene bezogen, wenn nicht gar aus ihr abgeleitet, je nachdem wie stark in ihr das anachronistische Ordnungspendant der histoire gesehen wurde.3 Dies geschah nach Ansicht einiger Kritiker vor allem zuungunsten der als temporal vorgängig gedachten Ebene der Narration, die in der Trias von Genette als diejenige Dimension erscheint, mit der die als ‘offen’ und ‘ereignishaft’ wahrgenommenen erzählten Ereignisse am angemessensten erfasst werden können. Die entscheidende Kategorie, auf die sich diese Kritiker dabei berufen, ist der modale Begriff der ‘Kontingenz’. Zwei argumentative Beispiele, die das Anliegen einer solchen Kritik demonstrieren, seien hier kurz vorgestellt.
Eine vehemente Kritik gegen die strukturalistische Erzähltheorie führt David Wellbery in seinen Aufsätzen “Zur literaturwissenschaftlichen Relevanz des Kontingenzbegriffs” und dem englischsprachigen “Contingency” (beide 1992) aus, in denen er ein ausdrückliches Plädoyer für die Berücksichtigung des Kontingenzbegriffs in der Erzähltheorie vorträgt. Seiner Meinung nach gibt es innerhalb der Erzählforschung einen umfassenden Konsens darüber, dass das Feld des Narrativen in seiner Einheit durch den Begriff der ‘Handlung’ gewährleistet sei und diese wiederum in ihrer inneren Struktur die Form eines Satzes habe. Diese Bestimmung sei nun ihrerseits als zirkulär anzusehen, da sowohl der ‘Satz’ als auch die ‘Handlung’ nichts anderes seien als “die zeitlich-lineare Entfaltung einer Intention oder eines Projekts, die am Ende das verwirklicht, was am Anfang schon vorgesehen war” (“Relevanz des Kontingenzbegriffs”, 167). Demnach würde allem, was im Verlauf der Narration vorkäme – und es ist genau diese Ebene, deren theoretische Implikationen er vernachlässigt sieht – durch eine gewisse Ökonomie ein vorbestimmter Platz zugewiesen und so “die narrative Zeit aus dem überzeitlichen Standpunkt einer Vor- und Rücksicht organisiert” (167). Dieser logifizierten Zeitvorstellung und zirkulären Theorie des Narrativen setzt Wellbery eine achrone Ordnung der Kontingenz entgegen. Polemisch fordert Wellbery “die Zirkularität der Handlungsdefinition aufzubrechen und das Narrative auf sein Anderes zu öffnen; auf die Dimension des jäh eintreffenden Zufalls” (167). Mit der bekannten poststrukturalistischen Argumentation, dass ein theoretisch erfasster Einheitsbegriff seine vermeintliche Geschlossenheit nur aufrechterhalten kann, indem das durch ihn ‘Ausgeschlossene’ zur Möglichkeitsbedingung eben dieser Geschlossenheit avanciert, postuliert er weiter: “Narrative Ordnung ist nur als begrenzte möglich, begrenzt durch eine Nicht-Narrativität, die aus einem Feld disjunktiver Möglichkeiten diese eine selegiert […] Ohne eine solche Selektion gäbe es keine Ereignisse, die sich in narrativen Sequenzen verketten ließen, aber diese Selektion selber – die Tatsache, dass dies und nicht etwas anderes geschieht – gehört keiner Chrono-logik an” (168).
Eine ähnliche, wenn auch von einem weitaus traditionelleren Standpunkt aus argumentierende Kritik einer solchen ‘geschlossenen’ Theorie des Narrativen findet sich in den Arbeiten des amerikanischem Slavisten G.S. Morson.4 Er sieht in den traditionellen poetologischen Konzepten die Tendenz, das Kontingente stark zu marginalisieren bzw. gänzlich aufzuheben. Für ihn sind ‘Struktur’ und ‘Geschlossenheit’ zwar unbestreitbare Gegebenheiten von Erzählungen, jedoch geht es ihm in seinen Untersuchungen vorwiegend darum, das Bestreben literarischer Texte aufzuzeigen, die Zeit, trotz der Tendenz narrativer Geschlossenheit, als eine offene Dimension zu präsentieren. Dabei hebt er hervor, dass auch in der poetologischen Tradition Bedeutung in Erzählungen immer im Zusammenhang mit dem Herauslesen der jeweiligen Ereignishaftigkeit (“eventfulness”) verbunden wurde (“Sideshadowing and Tempics” 600). Jedoch wird ihm zufolge durch die synchrone Struktur der Werke die offene Zeit derart verräumlicht, dass wirkliche ‘eventfulness’ nur noch im übertragenen Sinne für die Figuren des Textes fortbestehe. Infolgedessen wird die Zeit auf eine solche Weise symmetrisiert, dass jedes Ereignis in einem festen und funktionalen Verweisungszusammenhang zu anderen Ereignissen stehe. Die von Morson herangezogene Gegenfolie ergibt sich aus den zeitlich-modalen Verhältnissen des wirklichen Lebens. “But in Life, and for most novelistic characters, time is asymmetrical. While the past is fixed, the future is experienced as open and the present possesses real presentness, in which the weight of chance and choice may lead to many different outcomes” (600). Dieses Idealbild des offenen und kontingenten wirklichen Lebens wird dann bei Morson im Sinne eines spezifischen “realism” wieder an die Texte herangetragen. Der Autor muss entsprechend die geschlossenen Strukturen der Erzählung immer schon durch sein künstlerisches Können überwinden; mustergültig habe dies etwa Dostojewskij gezeigt, der sich Morson zufolge als ein “extreme devotee of realism” der Aufgabe verpflichtet habe “to represent the radical contingency of the world” (599). Im Gegensatz dazu wendet sich Morson gegen einen affirmativen und normierenden Gebrauch geschlossener Strukturen seitens der Romanautoren. Um dem entgegenzuwirken, entwickelt er eine Lesetechnik – die er mit dem Neologismus tempics bezeichnet – welche die Implikationen, die von den Phänomenen ‘Zeit’ und ‘Kontingenz’ ausgehen, bei der Lektüre berücksichtigt (“as a way of reading that takes time and contingency seriously” [599]).
Sowohl anhand Wellberys dezidierter Forderung nach einer Berücksichtigung des ‘achronischen Zufalls’ – bei einer noch ausstehenden Etablierung poststrukturalistischer narratologischer Theoreme innerhalb der Erzähltheorie – als auch anhand von Morsons eher pragmatisch bezogener Lektürekonzeption der tempics sollte deutlich geworden sein, inwiefern die theoretische Reflexion der konträren Ebenen offenen und geschlossenen Erzählens zu fundamenta...

Inhaltsverzeichnis

  1. Decke
  2. Half Titel
  3. Titel Seite
  4. Copyright
  5. widmung
  6. Danksagungen
  7. Inhalt
  8. 1. Zufall und Kontingenz in der Narratologie
  9. 2. “Mulo lentè progrediente” – Die Fabel des Slawkenbergius
  10. 3. Band 1 & 2 – Onkel Tobys determinierende Wunde
  11. 4. Band 6 – Tobys “Track of Happiness”
  12. 5. Band 7 – Flucht und Überwindung
  13. 6. Band 8 – Toby verfällt der Liebe
  14. 7. Band 9 – Die Tragödie des Episodischen: Tobys “Courtship”
  15. Schlusswort
  16. Bibliographie