Aufsätze zum Schwerpunkt Liszt, Wagner und der deutsch-französische Krieg
Dorothea Redepenning
Der deutsch-französische Krieg – La guerre franco-allemande (1870/71)1 – griff tief in die persönlichen Verhältnisse und das künstlerische Schaffen Franz Liszts und Richard Wagners ein. Während Wagner mit patriotischen Werken zur deutschen Siegeseuphorie beitrug und seinem Lebensziel, dem „Nibelungen-Theater“ in Bayreuth, einen großen Schritt näherkam,2 zog sich Liszt, der aus seiner Verehrung für Napoleon III. nie einen Hehl gemacht hatte, soweit es ihm möglich war, aus der Öffentlichkeit zurück und verzichtete fortan auf lautstarke Apotheosen. Zu Wagners kompositorischen Antworten auf diesen Krieg liegen mehrere Studien vor;3 wie Liszt als Künstler auf diesen Krieg reagierte, wurde bislang nicht untersucht. Das soll hier nachgeholt werden. Nach einer Einführung über den Krieg und die Kriegsbegeisterung in Deutschland, wird in drei Hauptabschnitten untersucht, was dieser Krieg für Liszt bedeutete, wie er im Hause Wagner bewertet wurde und wie sich die unterschiedlichen Wahrnehmungen im öffentlichen Auftreten und in den Werken der beiden Komponisten widerspiegeln, wobei das Ineinandergreifen von persönlicher Welt, großer Politik und Kunst anschaulich wird. Die These lautet, dass für Liszt ein Zusammenhang besteht zwischen der Erfahrung dieses Krieges und einer ästhetischen Neuausrichtung, die die Stilideale der Jahrhundertmitte, aber auch den pathetischen Optimismus der Gründerjahre als falsch begreift.
I. Der Krieg
Die deutsche und die französische Geschichtswissenschaft sind sich traditionell einig in der Feststellung, dass dieser Krieg für Deutschland in den Nationalstaat unter preußischer Führung mündete, wobei er als dritter der sogenannten „Einigungskriege“ gezählt wird – nach dem deutschdänischen Krieg (1864) und dem deutschen Krieg (1866), alle drei mit großen Gebietsgewinnen –, während er für Frankreich das Ende des Second Empire, den Beginn der Troisième République und hohe Reparationszahlungen bedeutete. Konkreter Auslöser war die Emser Depesche vom 13. Juli 1870: Die Kandidatur des Prinzen Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen für den spanischen Thron wurde von Frankreich als preußische Provokation aufgefasst; der Prinz zog seine Kandidatur am 12. Juli 1870 zurück, was König Wilhelm I. dem französischen Botschafter Vincent Graf Benedetti tags darauf in Bad Ems bestätigte. Aus dem Wortlaut dieses Gesprächs, der nach Berlin telegrafiert wurde, machte Otto von Bismarck eine Fassung, die an die internationale Presse ging und die die französische Seite so gezielt brüskierte, dass es zur Kriegserklärung kam. Bis heute differieren französische und deutsche Lesart dazu erheblich: „Habilement trompée par la Dépêche d'Ems, la France déclare la guerre à la Prusse, prenant la responsabilité des hostilités.“4 – „Vorsicht ist sicher davor angebracht, in Bismarcks Darstellung und insbesondere ihrer Form den einzigen Kriegsauslöser auszumachen, etwa dahingehend, dass Frankreich ‚nach den damaligen Ehrenvorstellungen‘ nicht anders als durch Kriegserklärung hätte antworten können, um sein Gesicht nicht zu verlieren oder dergleichen.“5
Der Krieg nahm für Frankreich einen desaströsen Verlauf von verlorenen Schlachten und Belagerung der Städte Metz und Straßburg bis hin zur Gefangennahme des Kaisers bei der Schlacht von Sedan (31. August / 1. September 1870) und bis zur Deutschen Reichsgründung und der Proklamation des preußischen Königs Wilhelms I. zum deutschen Kaiser, die man am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles als Provokation und Demütigung Frankreichs inszenierte.6 Die deutsche Annexion französischer Gebiete führte konkret zum Niedergang des kulturellen Lebens, was für die Musik am Beispiel der Konservatorien Metz und Straßburg untersucht worden ist.7
In beiden Ländern löste der Krieg eine breite Welle an Nationalismus, Patriotismus und Chauvinismus aus, an dem Künstler maßgeblich Anteil hatten. Sie engagierten sich als Sprachrohre der Propaganda, wie Flugblätter, Karikaturen, Pamphlete aller Art8 und vor allem Kampflieder auf beiden Seiten gehörten.9 Auf deutscher Seite zeugen davon an erster Stelle die Lieder zu Schutz und Trutz, die Franz Joseph Lipperheide zwischen August 1870 und Juli 1871 in vier Sammlungen herausgab.10 Hier sind alte und neue Liedtexte zusammengestellt, viele wurden für den Moment geschaffen und viele sind als faksimilierte Handschrift aufgenommen, was die Spontaneität der patriotischen Äußerungen unterstreichen sollte. Bei manchen Liedern ist vermerkt, nach welcher Melodie sie zu singen sind. Besonderer Beliebtheit erfreute sich etwa eine von Emanuel Geibel verfasste Gedichtsequenz Heroldsrufe,11 darunter ein Kriegslied 1870, dessen erste Strophe den viel zitierten „Erbfeind“ benennt:
Empor, mein Volk! Das Schwert zur Hand! / Und brich hervor in Haufen! /Vom heil’gen Zorn ums Vaterland / Mit Feuer laß dich taufen! / Der Erbfeind beut dir Schmach und Spott, / Das Maß ist voll, zur Schlacht mit Gott! /Vorwärts!
Ein anderes, Am dritten September betitelt, nimmt die Schlacht bei Sedan, die Gefangennahme des französischen Kaisers und tausender Soldaten zum Anlass für eine religiöse Symbole pervertierende Darstellung, die in die wechselnden Refrains: „Ehre sei Gott in der Höhe!“ für die Deutschen und „Furchtbar dräute der Erbfeind“ für die Franzosen mündet.
Ingeborg Stark, verheiratete von Bronsart, Pianistin, Komponistin und eine Schülerin Liszts, verfasste eine Reihe patriotischer Lieder und Chöre, darunter Ferdinand Freiligraths auf den 25. Juli 1870 datiertes Gedicht Hurrah Germania! als Männerchor, während ihr Mann, Hans von Bronsart, auch er ein Schüler Liszts und seit 1867 Direktor des Königlichen Theaters Hannover, als Freiwilliger in den Krieg zog.12 Freiligraths Text beschwört in acht Strophen den Rhein als deutsches Symbol und die nationalstaatliche Einheit als Ziel, wobei – natürlich – die Deutschen als friedliebend, die Franzosen als Aggressoren gezeichnet werden. Die fünfte und sechste Strophe lauten:
Schwaben und Preußen Hand in Hand; / Der Nord, der Süd ein Heer! / Was ist des Deutschen Vaterland – / Wir fragen’s heut nicht mehr! / Ein Geist, ein Arm, ein einz’ger Leib, / Ein Wille sind wir heut! / Hurra, Germania, stolzes Weib! / Hurra, du große Zeit! / Hurra, hurra, hurra! / Hurra, Germania!
Mag kommen nun, was kommen mag: /Fest steht Germania! / Dies ist All-Deutschlands Ehrentag: / Nun weh dir, Gallia! / Weh, daß ein Räuber dir das Schwert / Frech in die Hand gedrückt! / Fluch ihm! Und nun für Heim und Herd / Das deutsche Schwert gezückt! / Hurra, hurra, hurra! / Hurra, Germania!13
In welchem Maße ein irrationaler aggressiver Patriotismus ganz Deutschland erfasst hatte, zeigt ein Bericht Liszts, der bei Kriegsbeginn den Maler Wilhelm von Kaulbach in München besuchte. Kaulbach hatte Liszt 1856 porträtiert; die Symphonische Dichtung Hunnenschlacht (1857–1860, LW C 21) ist vom dem gleichnamigen Gemälde Kaulbachs inspiriert und dem Maler gewidmet.
„Ses opinions politiques ne sont pas des plus modérées. Napoléon est pour lui le prototype de la scélératesse et de l’infamie – et les Français un peuple de misérables. Je l’ai laissé dégoiser à son aise, en lui observant cependant en toute politesse que je me permettrai de demeurer d’un autre avis que le sein tant en religion qu’en politique, et même en musique.“14 „Les préoccupations politiques lui [Kaulbach] donnent la fièvre. Il serait maintenant plus disposé à saisir un fusil qu’à manier la palette! Je suis encore allé prendre congé de lui, Lundi – et malgré nos dissentiments religieux et politiques, nous nous sommes amicalement quittés.“15
Die Feindschaft, die Politiker, Demagogen und Propagandisten, auch mit Unterstützung der Künste, zwischen beiden Ländern entfesselten, griffen auf alle Lebensbereiche, die materiellen wie die geistigen, über. Wie die deutschen Militärs französische Kriegsgefangene hungern ließen, wie die französische Zivilbevölkerung unter dem Krieg zu leiden hatte,16 so wurden konfessionelle Zugehörigkeiten, politische Überzeugungen, ästhetische Vorlieben und die gesamte Kultur im Licht der Feindschaft instrumentalisiert, indem aus allen diesen Bereichen einander unversöhnlich gegenüberstehende Weltanschauungen konstruiert und diese Konstruktion mit ethischen Wertungen gekoppelt wurde. Diese diffuse, auf unterschiedlichste Zusammenhänge applizierbare Opposition beherrschte nicht nur die Medien, sondern reichte tief in die Lebensläufe zumal solcher Personen hinein, die wie Liszt und die Seinen zwischen diesen Welten angesiedelt waren. Ihre Briefe und Tagebücher geben einen Einblick, wie die Auswirkungen des Krieges reflektiert wurden, wobei sich Liszt auf der einen, Cosima und Richard Wagner auf der anderen Seite dazu positionierten.
II. Liszts Haltung zum Krieg
Es gibt zahlreiche Zeugnisse dafür, dass Liszt Napoleon III. aufrichtig und bedingungslos verehrt hat. Er achtete ihn für seine Verdienste als Staatsmann, für den Aufschwung, den Frankreich unter seiner Herrschaft genommen hatte, sowohl während der autoritären als auch während der liberaleren Phase, während derer Liszts Schwiegersohn Émile Ollivier zum führenden Politiker aufstieg. Äußere Zeichen der französischen Prosperität waren die Weltausstellungen 1855 und 1867, der Bau des Suezkanals (Eröffnung am 17. November 1869), auch die Erweiterung der Kolonialherrschaft. Als Napoleon III. am 9. Januar 1873 im Londoner Exil starb, schrieb Liszt einen Nachruf, in dem er den französischen Kaiser als zentrale Figur des Jahrhunderts rühmt und die Verdienste als Förderer von Kultur, Kunst und Wissenschaft hervorhebt.17 Liszt verklärte Napoleon III.; für seine Fehlentscheidungen, für allen Schaden, der von ihm ausging, war Liszt blind. In diesem Licht kommentierte er den Krieg, wobei er sich als scharfsinniger und toleranter Beobachter, schließlich als Pazifist zu erkennen gibt. Je weiter die Feindseligkeiten fortschritten, je aussichtsloser Frankreichs Position wurde, desto mehr verzweifelte Liszt, was er der Fürstin Carolyne Sayn-Wittgenstein in aller Offenheit darlegte. Gleich nach dem Weimarer Beethoven-Fest war er nach München gereist, um dort die Uraufführung der Walküre mitzuerleben. Alan Walker betont zu Recht, dass Liszt es eilig hatte, Weimar zu verlassen; denn auch dort rüstete man zum Krieg.18 Aus München berichtete Liszt bei Kriegsbeginn:
„Ici, comme partout en Allemagne, grand enthousiasme pour la guerre. On prétend que l’Empereur a été très mal renseigné sur la disposition des populations allemandes. Elles se...