Was kann die kulturwissenschaftliche Rekonstruktion und Reflexion von Figuren und Narrativen, von Konzepten, Medien und Praktiken der Tiefe leisten, was soll sie leisten? Die Tiefe zĂ€hlt zu den Ă€ltesten und wichtigsten Metaphern der Kulturgeschichte. Dies verdankt sie ihrer engen Bindung an Konzepte von Wahrheit und Erkenntnis, Ursprung und Seele, Substanz und Grund, an Vorstellungen von SubjektivitĂ€t, emotionaler IntensitĂ€t und Echtheit. Diesen positiven Konnotationen stehen freilich ebenso zahlreiche negative Aufladungen gegenĂŒber, in denen die Tiefe â die ikonographische Tradition von Hades und Hölle fortfĂŒhrend â als Projektionsraum fĂŒr das Dunkle, Irrationale und Bedrohliche, fĂŒr unkontrollierbare KrĂ€fte dient. Diese konkurrierenden Besetzungen der Tiefe bestimmen sie zu einer hoch ambivalenten Figur, in der individuelle und kollektive SehnsĂŒchte nach einem Sicherheit, Gewissheit und IdentitĂ€t verbĂŒrgenden Grund auf Ăngste vor verschiedenen Spielarten des Abgrunds treffen â eines Raums, der in der Geschichte der Neuzeit zu einem wachsenden, schrittweise sĂ€kularisierten Zielgebiet von Praktiken der instrumentellen Vernunft avanciert. Nicht weniger ambivalent sind die Kodierungen eines zentralen, mit der Tiefe verknĂŒpften Motivs â der Höhle, die ebenfalls verlangt, die spannungsreichen Verflechtungen zwischen literalen und metaphorischen, praktischen und theoretischen Dimensionen der Tiefe zu analysieren. Aus zivilisationsgeschichtlichen GrĂŒnden zunĂ€chst als RĂŒckzugsort und Schutzraum, als sicheres GehĂ€use und Sehnsuchtsort positiv konnotiert, fungiert die Höhle spĂ€testens seit Platon zugleich als Sinnbild einer be- und gefangenen Erkenntnis und eröffnet damit die Geschichte epistemologischer Debatten ĂŒber Wurzel und Rhizom, Ursprung und HybriditĂ€t.
Ziel des vorliegenden Bandes ist es, die Funktion der Figur der Tiefe in kulturellen, gesellschaftlichen und politischen ZusammenhÀnge der Vergangenheit wie der Gegenwart zu erkunden und das historiografische wie theoretische Potenzial des interdisziplinÀren, kulturwissenschaftlichen Gegenstands aufzuzeigen.
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Mummelsee und Mundus subterraneus: Tiefenwissen bei Grimmelshausen und Athanasius Kircher
JörgRobert
1 Tiefenwissen und Geokosmologie
Hans Blumenberg hat in seiner LegitimitĂ€t der Neuzeit die Um- und Aufwertung der âtheoretischen Neugierdeâ (curiositas) gegenĂŒber der augustinischen Tradition als entscheidende epistemische Wendemarke zur Moderne beschrieben (Blumenberg 1998a, 263 â 509). Diese positivierte curiositas habe u. a. ein neues âInteresse am innerweltlich Unsichtbarenâ (Blumenberg 1998a, 422) und eine Abkehr von metaphysischen Tabus hervorgebracht, die sich zuvor an das âĂŒberweltlichâ bzw. âunterweltlichâ Unsichtbare, Himmel und Hölle also, hefteten.1 Dieses Interesse ist mit realen wie epistemischen Expansionsbewegungen verbunden. Im Zeitalter der frĂŒhen Globalisierung2 weitet sich der planetarische zum inter- wie zum innerplanetarischen Blick. Das Weltall besteht nunmehr aus einer âPluralitĂ€t von Weltenâ. Die Kryptokosmologie, wie sie sich in der Tradition der literarischen Weltraumreisen seit dem sechzehnten Jahrhundert niederschlĂ€gt, spiegelt die globalen Kulturkontakte, Handels-, Kommunikations- und Informationsströme (grundlegend dazu Guthke 1983; Maus de Rolley 2011). Das Unsichtbare ist nun das noch nicht Sichtbare, ĂŒber das sich spekulieren und literarisch phantasieren lĂ€sst. Expansion und Homogenisierung des neuzeitlichen Raumes der Sichtbarkeit erfolgen dabei in drei Richtungen: in die Weite des Universums, in die geographische Breite der neuen LĂ€nder und Kontinente sowie in die Tiefe der unterirdischen Welten.3
Neben dem Kosmos regt nun auch der âGeokosmosâ die wissenschaftliche Spekulation an. Der jesuitische Polyhistor Athanasius Kircher prĂ€gt diesen Begriff in seinem epochalen zweibĂ€ndigen Werk Mundus subterraneus (1665, 21678), der âerste[n] EnzyklopĂ€die der Geologieâ (Kelber und Okrusch 2002, 131), und zwar als Synonym fĂŒr âErdballâ (âglobus terrenusâ); âGeokosmosâ bezeichnet die physisch-geologische QualitĂ€t des Planeten, eben jene âWelt unter der Weltâ (âsub Mundo mundusâ; Kircher 1665, Bd. 1, praefatio unpag.), die das enzyklopĂ€disch-polyhistorische Werk erstmals als eigenen Gegenstandsbereich zu erhellen versucht. Gott habe, so Kircher, im geocosmus wie âin einer Syntheseâ (âepitomeâ) den gesamten Kosmos zusammengefasst, damit der Mensch als âHerr der Weltâ ihn als Gottes Schöpfung erkennen und wĂŒrdigen könne.4
Damit sind Ziel und Gegenstand der neuen Disziplin bezeichnet. Erst bei Kircher gewinnt die Geologie als âGeokosmologieâ jene disziplinĂ€re Geschlossenheit, die sie zum wissenschaftlichen Pendant der Kosmologie werden lĂ€sst. Erst im Mundus subterraneus konstituiert sich ein Tiefenwissen, das ĂŒber das der modernen Geologie hinausgeht, weil es nicht nur die Tiefen der Erde, sondern auch die des Meeres und des Meeresbodens (samt seiner Bewohner) in einen Wissenshorizont integriert. Dabei nimmt Kircher empirisches Wissen, theosophische Spekulation und tradierte WissensbestĂ€nde â darunter auch Literatur â gleichermaĂen auf und visualisiert sie in zahllosen Illustrationen. Seine âcentrosophiaâ (Kircher 1665, Bd. 1, 55) zeigt aber auch die Schwierigkeiten bei der Erhellung des âinnerweltlich Unsichtbarenâ. Tiefenwissen ist stets prekĂ€res Wissen5, das â wie das Wissen von den fernen Planeten â entweder auf Spekulation und Imagination oder auf die ambivalente Empirie des ungeprĂŒften, subjektiven Augenzeugenberichts angewiesen bleibt. So ist der mundus subterraneus auch eine poetogene Zone: Zum einen findet die Literatur hier einen Spiel- und Imaginationsraum fĂŒr Ander- und Gegenwelten, die die verkehrte Weltordnung ĂŒber der Erde durch eine ideale unter der Erde kontrastieren. Zum anderen kann auch die Wissenschaft am Rande des Sichtbaren nicht auf literarische Strategien der Evidenzerzeugung verzichten.
Eine Literaturgeschichte des Wissens muss solche Wechselwirkungen zwischen Wissen und Literatur in beide Richtungen verfolgen: einerseits die Integration von Wissen in Narration, andererseits die Integration von Narration in Wissen. Sie muss also Wissensgeschichte der Literatur und Literaturgeschichte des Wissens verbinden. WĂ€hrend die erste Facette â d. h. die Literarisierung/Narrativierung von WissensbestĂ€nden (= Wissensgeschichte der Literatur) â in quellenphilologischer, dann in wissenspoetologischer Hinsicht zuletzt verstĂ€rkt untersucht wurde,6 liegen zu einer Literaturgeschichte des Wissens, welche die Bedeutung genuin literarischer Elemente und Strukturen in Sachtexten (z. T. Kirchers Mundus subterraneus) behandelt, lediglich programmatische VorĂŒberlegungen und sporadische Einzeluntersuchungen vor (exemplarisch Vogl 1997). Weite Teile der literature and science-Debatte sind âimplizit einem EinbahnstraĂenmodell gefolgt.â (Pethes 2003, 221) Eine Literaturgeschichte des Wissens zielt jedoch auch und gerade auf âdie Poetologie ihrer Formenâ (Vogl 1997, 118). Diese umfasst Fragen der Narrativierung, der Gattungs- und Formengeschichte, der Metaphorologie oder der Speicherung von Wissen (Pethes 2003, 222 â 231). Als poetisch-rhetorische Apriori bestimmen sie den Möglichkeitshorizont der Erzeugung wissenschaftlicher Tatsachen. Dass dabei die Grenze zwischen fiction und non-fiction immer wieder brĂŒchig wird, ist fĂŒr das Tiefenwissen des siebzehnten Jahrhunderts charakteristisch.
Die folgenden Ăberlegungen zielen darauf, diese Wechselwirkung zwischen Textsorten und Wissensformen, wie sie das Tiefenwissen des siebzehnten Jahrhunderts bestimmt, an zwei prominenten Beispielen aufzuzeigen: Athanasius Kirchers Mundus subterraneus und Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausens Roman Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch (1669)7, ein Text, in dem es âum Aneignung und Erprobung ganz unterschiedlicher WissensbestĂ€nde geht, anhand derer der Protagonist seine Position in der Welt zu klĂ€ren sucht.â (Neumeyer 2013, 306) Ihren Schnittpunkt haben beide Autoren bzw. Texte in ihrem Interesse an Tiefenwissen, âGeokosmologieâ und âCentrosophieâ. Im Fall der berĂŒhmten âMummelsee-Episodeâ im Simplicissimus Teutsch, die fĂŒr die weiteren Ăberlegungen den Ausgangspunkt bildet, bestehen textgenealogische Beziehungen zu Kircher, die einen unmittelbaren Vergleich ermöglichen werden. Denn âder vermeintlich naive ErzĂ€hler stand den gelehrten Debatten seiner Zeit erstaunlich naheâ (Martin 2010, 7). Grimmelshausen wie Kircher (hinzu kommt dessen SchĂŒler Kaspar Schott) explorieren in ihren Texten das centrum terrae als jenen Ort, von dem aus sich die göttliche Ăkonomie und die Position des Menschen in dieser erschlieĂen lassen. Nahezu zeitgleich entstanden, zeigen beide Texte die epistemologischen und literarischen Entwicklungspotentiale des barocken Tiefenwissens: Bei Grimmelshausen ist das Zentrum der Erde, zu dem Simplicius in der Mummelsee-Episode vorstöĂt, erzĂ€hlstrukturell ein exzentrischer Ort, weil er kurz vor Ende des Romans (d. h. der ersten fĂŒnf BĂŒcher) den Protagonisten aus der Handlung abzieht, um die grundsĂ€tzlichen Fragen nach der Stellung des Menschen in der Welt und nach der Möglichkeit seiner Erlösung zu stellen. Steht Kirchers âGeokosmologieâ am Anfang der Geologie als Wissenschaft, so setzt die Tradition der fiktiven Unterweltsreisen, der proto-science-fiction, unmittelbar bei Grimmelshausen an. Dass Kirchers Mundus subterraneus zur Quelle fĂŒr Schillers Ballade Der Taucher (1797)8 wie fĂŒr Jules Vernesâ Roman Vingt mille lieues sous les mers (1869/70) werden wird (Zanot 2011), zeigt, wie nachhaltig die Geokosmologie eine Austauschzone zwischen Wissen und ErzĂ€hlen generiert. Blickt man aus der RĂŒckschau auf beide Texte, so zeigen beide eine irritierende HybriditĂ€t und HeterogenitĂ€t â in Form wie Gehalt. Sicheres und unsicheres, ânarrativ und argumentativ geformtes Wissenâ (Struwe 2016, 16 â 23; Bruner 1986) durchdringen sich.
WĂ€hrend Kircher in seiner Widmungsvorrede an Papst Alexander VII. seinen Text als heroische Katabasis in die NĂ€he der Vergilischen Aeneis (Buch VI) rĂŒckt,9 reflektiert Grimmelshausen die HybriditĂ€t seines Romans in dem berĂŒhmten Titelkupfer der Erstausgabe (vordatiert 1669; tatsĂ€chlich 1668), die den Text als emblematisches argumentum einleitet (Abb. 1
; zum Titelkupfer Gersch 2004; Bergengruen 2007, 267 â 285; Bergengruen 2008). Die monströse Kreatur â eine ChimĂ€re mit Satyrkopf â lĂ€sst sich dreifach lesen: Einerseits (1) verweist sie auf die âmoralische MonstrositĂ€tâ (ST, 794) des Protagonisten, der in der subscriptio spricht, andererseits (2) auf den monströsen Text selbst und dies zunĂ€chst (a) im Hinblick auf dessen hybride Form (mixtum compositum), dann b) im Hinblick auf dessen satirische Schreibart. Der Satyr reprĂ€sentiert nach zeitgenössischer Etymologie die Satire, die Grimmelshausen zu Beginn der Continuatio ausdrĂŒcklich gegen den trockenen âTheologische[n] Stylusâ (ST, 564) verteidigt. Der Autor rechtfertigt sich gegen den Vorwurf âob gienge ich zuviel SatyricĂš dreinâ (Continuatio I, ST 563).
Damit ist der Satyr (3) eine Verkörperung bzw. Vermummung des Autors selbst, eine auktoriale Meta-Maske: Denn sie ermöglicht es, eine Welt zu enthĂŒllen, die â wie die auf dem Boden liegenden Th...
Inhaltsverzeichnis
Title Page
Copyright
Contents
Einleitung: Perspektiven einer aktuellen Kulturgeschichte der Tiefe
Supranaturale Tiefen: Religiöse und philosophische Höhlenwelten in der antiken Literatur
Topographien, Praktiken und Phantasien des Unterweltlichen
Pascals Abgrund
Grundlose Tiefe: Eine kleine Geschichte der Bodenlosigkeit von Ignatius und Luther bis Flusser und Derrida
Mummelsee und Mundus subterraneus: Tiefenwissen bei Grimmelshausen und Athanasius Kircher
Helle Kunst der Tiefe: Zur AutonomieÀsthetik von Karl Philipp Moritz
Balladisches ErzĂ€hlen und submedialer Raum um 1800: Eine LektĂŒre von Schillers âDer Taucherâ
Kreaturen der Tiefe
Höhlen: NiemandslÀnder in der Tiefe
âAlle Wissenschaft wĂ€re ĂŒberflĂŒssigâŠâ. Zu Marxâ Tiefe
Haus Vaterland: Siegfried Kracauers Topodiagnostik der Moderne
Vom kreatĂŒrlichen zum erinnernden Tiefsinn: Walter Benjamins Flucht aus der kafkaesken Moderne
Verkehrende Praktiken vertiefter KollektivitÀt: Brecht und Benjamin, Kafka und Schönlank
Euthanasie und individueller Tod in Franz Werfels Stern der Ungeborenen
Die heilige FlÀche oder die doppelte Stunde Null