Ethik als Grundlagenforschung
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Ethik als Grundlagenforschung

Eine theologische Ethik

  1. 332 Seiten
  2. German
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Ethik als Grundlagenforschung

Eine theologische Ethik

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Über dieses Buch

Die hohe Anzahl neuer ethischer Entwürfe haben gezeigt, dass zwischen Grundlegung und Anwendung ein Hiatus besteht, der sich nicht deduktiv oder induktiv schließen lässt. Deshalb versteht die vorliegende Studie die Grundlegung der Ethik als Grundlagenforschung, die nur im losen Verhältnis zur Angewandten Ethik steht. Ihr Zweck liegt allein in der Generierung ethischen Wissens, während die Angewandte Ethik eklektisch nach dem Nutzenaspekt die Ergebnisse der Grundlegung aufnimmt. Das Ziel dieses Buches liegt also in der Verständigung über ethische Grundlagen, die unabhängig von ihrer Anwendung Geltung verdienen.
Neben klassischen Fragen, ob das Gute Eigenschaften hat, ob es Vorrang vor dem Richtigen hat und wie mit dem ethischen Pluralismus ethisch umzugehen ist, entwickelt das Buch eine Argumentation für ein unhintergehbares theologisches Element der ethischen Grundlegung. Ethische Phänomene haben einen Widerfahrenscharakter, die einer eigenen Kategorie angehören, die sich von ethischen Gehalten (Inhalte, Werte, Normgehalte usw.) kategorial unterscheidet. Auf diese Kategorie jedoch nehmen Menschen Bezug, wenn sie von Gott reden. Das Buch ist eine pluralismusfähige theologische Argumentation für den allgemeinen ethischen Diskurs.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783110705638

1 Ethik als Grundlagenforschung

Grundlagenforschung generiert Wissen unabhängig von möglichen Anwendungen. Ihr einziger Zweck besteht darin, ihren Forschungsgegenstand wahr zu beschreiben. Während Anwendungswissenschaften auf Ergebnisse von Grundlagenforschungen immer dann zurückgreifen, wenn sie ihnen nutzen, zielt Grundlagenforschung auf keinen konkreten Zweck oder Nutzen außer der Wissensgenerierung. Anwendungswissenschaften beuten dabei Ergebnisse der Grundlagenforschung eklektisch aus: Sie wählen aus, was für eine bestimmte Anwendung einen Nutzen hat. Dagegen werden für die Grundlagenforschung alle eigenen Ergebnisse berücksichtigt. Sie stehen im selben Wahrheitsraum. Das heißt nicht, dass sie alle zugleich verarbeitet werden müssen. Auch ein logischer Zusammenhang muss zwischen ihnen nicht bestehen. Oder anders: Ob ein logischer Zusammenhang zwischen Einzelereignissen der Grundlagenforschung besteht, ist selbst ein Forschungsthema der Grundlagenforschung. Sie selbst kann nicht zwischen Wahrheit und angewandtem Nutzen differenzieren, weil ihr Nutzen in der Wahrheitsgenerierung liegt. Allenfalls beutet sie ihre Einzelergebnisse aus, um im selben Wahrheitsraum weitere Ergebnisse zu erzielen. Sie mag das aus forschungstaktischen Gründen auch eklektisch tun, allerdings nur, um weitere Aussagen im selben Wahrheitsraum zu treffen, der keiner Auswahl unterliegt.
Es gibt in der Ethik Forschungsgegenstände, die um der bloßen Wahrheit willen interessant sind, und zwar auch dann, wenn sich für sie keine Anwendungen finden lassen. Die Fragen, was gut ist, ob zwischen dem Guten und dem Rechten ein Überordnungsverhältnis besteht, sind ebenso Grundlagenforschungsfragen wie die Problematik um den ethischen Relativismus oder um die Erkenntnisfähigkeit des ethisch Wahren. Auch die Frage, wie sich der ethische Bereich zu Gott verhält, ist zumindest eine Grundlagenforschungsfrage der Theologischen Ethik. Ob sie darüber hinaus auch eine Frage der säkularen Ethik ist und ob damit letztendlich der Widerspruch zwischen Theologischer und säkularer Ethik überwunden werden kann, ist ebenfalls eine Grundlagenforschungsfrage.
Indem ich die Grundlegung der Ethik im Sinne einer Grundlagenforschung verstehe, entlaste ich die Angewandte Ethik von ihrer Aufgabe, sich in ein logisches Verhältnis zur Grundlegung zu stellen. Vielmehr bildet sie es selbst, und zwar jeweils ein Ad-hoc-Verhältnis zu Ergebnissen der Grundlegung, ohne dass sie dabei in einem strengen Sinn ein Ausläufer der Grundlegung wird. Aus der Grundlegung der Ethik müssen sich keine Ergebnisse für die Medizinethik oder die Politische Ethik im strengen Sinn ableiten lassen. Wenn ein Ergebnis gefunden worden ist, worin das Gute besteht, folgt daraus nicht, dass wir schon wissen, wie wir eine gute Entscheidung treffen, dem Klimawandel zu begegnen. Allenfalls wissen wir genauer, wonach wir suchen, wenn wir hier eine Antwort finden wollen. Wir würden also wissen, worin das Gute besteht, dem Klimawandel zu begegnen. Aber die Angewandte Ethik kann entscheiden, diese Antwort der Grundlegung auszulassen. Es kann reichen, den Klimawandel aufzuhalten, ohne zu wissen, worin das Gute besteht, ihn aufzuhalten. Man kann auch Gründe für einen verminderten CO2-Ausstoß finden, die nur eine eklektische Motivation anstoßen, warum die Weltengemeinschaft dem Klimawandel begegnen sollte. Hitzeperioden, Dürrekatastrophen, Flüchtlingswellen und Überflutungen sind schon Anlass genug, den Klimawandel zur ethischen Herausforderung zu erklären.
Oder etwa nicht? Könnte es sein, dass die Grundlegung der Ethik aufdeckt, dass die Klimaschützer einem falschen Begriff des Guten gefolgt sind und es allein deshalb ethisch gut ist, Hitzewellen und Dürrekatastrophen zuzulassen oder sogar weiter anzuheizen? Die Angewandte Ethik macht sich allenfalls freiwillig davon abhängig, inwieweit sich ihre Entscheidungen einem Begriff des Guten verdanken. Die Grundlegung der Ethik kann tatsächlich feststellen, dass in der Diskussion um den Klimawandel ein falscher oder mehrere konträre oder kontradiktorische Begriffe des Guten zirkulieren. Daraus leitet die Grundlegung aber nichts für die Behandlung des Weltklimas ab. Das Klima bleibt ein Thema der Angewandten Ethik. Natürlich sollte sie dabei einen adäquaten Begriff des Guten benutzen, sofern sie ihn benutzt. Ansonsten würde sie selbst in die Rolle der Grundlegung schlüpfen und einen eigenen Begriff des Guten formulieren. Sofern daher die Angewandte Ethik auf den Begriff des Guten zurückgreift, übernimmt sie dabei grundlagenethische Ergebnisse. Aber eben: Sie entscheidet dabei selbst, ob sie den Begriff benutzt und inwieweit sie ihn benutzt. Für die Angewandte Ethik kann es ausreichen, sogar nur Teilbedeutungen des Begriffs des Guten auszuwählen. Sie bleibt auch hier eklektisch.
Auch das Gottesverhältnis der Ethik, das die Grundlegung beschreibt, kann für die Angewandte Ethik weitgehend unbedeutend sein. Zwar sind viele konkrete ethische Fragen religiös imprägniert. Ob es einen Vorrang der Ehe zwischen Mann und Frau gegenüber anderen Lebensgemeinschaften gibt, wird oft mit Verweis auf religiöse Quellschriften beantwortet. Aktive Sterbehilfe gilt unter vielen theologischen Repräsentanten als ethisch ungerechtfertigt, weil Gott das Leben gebe und nur er es auch nehmen dürfe. Ebenso dürften Menschen nicht in die Macht Gottes eingreifen, indem sie Leben synthetisch hervorbringen oder gentechnisch manipulieren. Mit solchen Argumenten muss sich die Angewandte Ethik beschäftigen. Allerdings ist diese Beschäftigung nicht zwingend davon abhängig, dass die Grundlegung das Gottesverhältnis der Ethik bestimmt hat. Eine zwingende Abhängigkeit wäre nur dann erreicht, wenn die Grundlegung zur Angewandten Ethik mutiert bzw. wenn beide sich nicht mehr differenzieren lassen. Das wäre etwa der Fall, wenn Gott als höchster Souverän den ethischen Bereich bestimmt und über ihn verfügt. Wenn also nur ethisch gerechtfertigt ist, was Gott verordnet, dann ergibt sich aus dieser Grundlegung jegliche Anwendung. Ich möchte nicht von vornherein ausschließen, dass dies das Ergebnis einer Grundlagenforschung der Ethik ist. Aber selbst dann ergibt sich die Integration von Grundlagenforschung und Angewandter Wissenschaft erst nachträglich. Das heißt, heuristisch wird offen und vorurteilsfrei begonnen, wenn zwischen Grundlegung und Anwendung methodisch und thematisch unterschieden wird. Dann aber bleibt auch zunächst offen, wie das Gottesverhältnis der Ethik, wie es die Grundlegung formuliert, in der Angewandten Ethik vorkommt. Es wird der Entscheidung der Angewandten Ethik und ihrem eklektischen Umgang mit der Grundlegung überlassen.
Wenn also das Argument im Raum steht, dass aktive Sterbehilfe ungerechtfertigt ist, weil nur Gott das Leben nehmen kann, so muss die Angewandte Ethik selbst nicht auf theologische Ergebnisse der Grundlegung rekurrieren. Sie könnte vielmehr andere Ergebnisse der Grundlegung zu Hilfe nehmen, etwa dass theologische Argumente in einer pluralistischen gesellschaftlichen Situation nicht verallgemeinerungsfähig sind. Das ist ein häufig verwendetes Argument, das aus der Grundlegung der Ethik übernommen wird (und das in diesem Buch überprüft wird). Es geht zwar auf theologische Argumente in der Sterbehilfediskussion ein, ohne aber selbst Aussagen zum Gottesverhältnis aus der Grundlegung zu übernehmen.
Ebenso gut könnte an das theologische Argument zur Sterbehilfe die Rückfrage gestellt werden, woran sich denn erkennen lässt, wann Gott einem Menschen das Leben nehme und wann nicht. Man könnte argumentieren, dass Gott auf vermittelte Weise Leben nimmt, indem eine Krankheit den Tod verursacht oder medizinische Hilfe versagt. Auch aktive Sterbehilfe kann in diesem Sinne dann unter bestimmten Bedingungen als Vermittlung des göttlichen Willens verstanden werden. Zumindest könnte man so argumentieren. Oder man könnte mit dieser Gleichsetzung von Vermittlungen den theologischen Rahmen letztlich aus der Debatte heraushalten, weil es nun allein um signifikante Unterschiede der Vermittlungen geht und nicht mehr um das grundlegende Gottesverhältnis der Ethik. So oder so werden Kontexte einbezogen, die in der Grundlegung nicht vorkommen (Medizin, Krankheit, Sterbehilfe) und die frei mit dem behaupteten Gottesverhältnis der Ethik umgehen. Es wird dann nicht etwas anderes behauptet als in der Grundlegung, etwa dass Gott bei ethischen Fragen keine Berücksichtigung verdient. Aber die Einsicht der Grundlegung zum Gottesverhältnis der Ethik muss in der Sterbehilfediskussion keine Anwendung finden oder bedarf einer anwendungsgerechten Konkretisierung, die nicht der Grundlegung entnommen wird. Grundlegende Einsichten werden nicht geleugnet, müssen aber keine konkrete Relevanz besitzen.

1.1 Das Verhältnis von Grundlegung und Anwendung

Die bisherigen Einstiegsüberlegungen wären nicht richtig platziert, wenn das Verhältnis zwischen Grundlegung und Angewandter Ethik nicht selbst ein Thema der Grundlegung wäre. Indem ich die These aufstelle, dass die Grundlegung der Ethik den Rang einer Grundlagenforschung hat, behaupte ich einen nur losen Zusammenhang zwischen ihr und der Angewandten Ethik. Dennoch besteht dieser Zusammenhang und wird auch in der Grundlegung skizziert. Das bedeutet auch, dass die Grundlegung ein Verständnis davon entwirft, was Angewandte Ethik ist und was sie zu leisten hat.
Diese Frage ist zum jetzigen Zeitpunkt der Untersuchung noch nicht abschließend zu klären. Momentan ist nur meine These weiterzuentwickeln, dass beide Ethiken in einem losen Zusammenhang zueinanderstehen. Lässt sich weiter bestimmen, was hier „lose“ heißt?
Peter Dabrock1 hat den Zusammenhang grob in drei Ethik-Typen eingeteilt:
  1. Ein Top-Down-Ansatz, der aus allgemeinen Prinzipien die Anwendung ableitet.
  2. Ein umgekehrter Bottom-Up-Ansatz, der aus der Fülle von Einzelentscheidungen in Anwendungsproblemen Verallgemeinerungen erzielt.
  3. Die Vorstellung einer wechselseitigen Vermittlung zwischen allgemeinen Prinzipien und konkreten Anwendungen in einem sogenannten „Überlegungs-Gleichgewicht“.
Während der erste Typ die Anwendung zu einem Teil der Grundlegung macht, indem die Angewandte Ethik nur Einzelfälle der Prinzipien beschreibt, wird im zweiten Typ umgekehrt die Grundlegung zu einem Teil der Angewandten Ethik. Dabrock kritisiert beide Typen: Der erste Typ rechne nicht mit der Eigendynamik ethischer Situationen.2 Der zweite lasse keine kritische Distanz zur moralischen Situiertheit zu, aus der heraus jeweils agiert wird.3 Diese Gegenläufigkeit der Kritik zeigt, dass Dabrock mit dem dritten Typ sympathisiert.

1.1.1 Das Überlegungs-Gleichgewicht

Die Idee des Überlegungs-Gleichgewichts stammt von John Rawls.4 Was Dabrock im Hinblick auf das Verhältnis von allgemeiner und angewandter Ethik entfaltet, hat bei Rawls den engen Zweck, eine rein theoretische5 Situation zu konkretisieren, noch dazu eine, die nur die Funktion für eine Gerechtigkeitstheorie ausfüllt und nicht für ein vollständiges moralisches System.6 Bei Rawls bleibt also das Überlegungs-Gleichgewicht ein Instrument innerhalb der Grundlegung und führt nicht zur Anwendung heraus. Rawls entwickelt dazu das Darstellungsmittel7 rationaler Autonomie, eine pure Konstruktion8, die er den „Urzustand“ nennt.9 Zu dieser Situation des Urzustandes gehört es, „daß niemand seine Stellung in der Gesellschaft kennt, seine Klasse oder seinen Status, ebensowenig wie sein Los bei der Verteilung natürlicher Gaben wie Intelligenz oder Körperkraft.“10 Rawls nimmt an, dass Menschen in einem solchen Urzustand gerechte Grundsätze entwerfen, weil sie nicht von kontingenten Eigeninteressen abhängen. Während eine behinderte Person unter faktischen Lebensbedingungen ein höheres Interesse an der politischen Verteilung von Unterstützungsmitteln für Behinderte hat als eine nicht-behinderte Person, wissen beide im Urzustand nicht, ob eine von ihnen behindert sein wird. Daher werden im Urzustand die Gerechtigkeitsgrundsätze nicht durch biografische Zufälligkeiten verzerrt.
Nun stellt sich die Frage, ob Menschen im Urzustand überhaupt wissen können, dass sie im faktischen Leben Menschen behindert sein können. Zudem könnte aufgrund des „Schleiers des Nichtwissens“11 im Urzustand die Unsicherheit zu hoch sein, so dass sich die Teilnehmer im Urzustand nicht auf gerechte Grundsätze einigen können.12 Wie konkret muss also der Urzustand sein, damit seine Teilnehmer hier gerechte Grundsätze entwickeln können? Hierzu setzt Rawls sein Überlegungs-Gleichgewicht ein. Es soll die Situation des Urzustandes soweit konkretisieren, dass sich im Urzustand gehaltvolle, „nicht-triviale“13 Gerechtigkeitsgrundsätze ergeben.
Diese Konkretisierung bemisst sich aber nicht einfach nur daran, dass im Urzustand ein Ergebnis erzielt wird. Vielmehr soll es auch unseren faktischen Gerechtigkeitsvorstellungen einigermaßen entsprechen: „Man muß prüfen, ob die Grundsätze, die gewählt würden, unseren wohlüberlegten Gerechtigkeitsvorstellungen entsprechen oder sie auf annehmbare Weise erweitern. Man kann ja feststellen, ob die Anwendung dieser Grundsätze uns zu denselben Urteilen über die Grundstruktur der Gesellschaft führen würde, die wir jetzt intuitiv und mit größter Überzeugung fällen.“14 Hier wird der Begriff der Anwendung ausdrücklich genannt. Die Vorstellung liegt zugrunde, dass der Urzustand nicht völlig abseitige Grundsätze entwirft, sondern dass wir unsere intuitiven Vorstellungen von Gerechtigkeit darin wiedererkennen können. Denn der Urzustand will unsere intuitiven Gerechtigkeitsvorstellungen rekonstruieren, indem er sie auf eine theoretische Grundlage stellt15 und ihre Verzerrungen kriteriell behebt.16 Schon von Anfang an ist Rawlsʼ Theorie ein hermeneutisch zirkuläres Unternehmen. Am Urzustand wird diese hermeneutisch wechselseitige Bewegung zwischen den Grundsätzen der Gerechtigkeit und unseren Intuitionen davon theoretisch ausgetragen. Deshalb bleibt die Konkretisierung theoretisch. Konkretisiert wird nicht die faktische gesellschaftliche Situation, sondern das theoretische Konstrukt des Urzustande...

Inhaltsverzeichnis

  1. Title Page
  2. Copyright
  3. Contents
  4. Vorwort
  5. 1 Ethik als Grundlagenforschung
  6. 2 Das Ziel der Ethik
  7. 3 Das Gute
  8. 4 Gutes oder Richtiges: Was hat Vorrang?
  9. 5 Das Theologische an der Ethik
  10. 6 Der Einfluss der Bibel auf die Ethik
  11. 7 Ethischer Relativismus und Pluralismus
  12. 8 Ist Freiheit eine Bedingung der Ethik?
  13. 9 Gerechtigkeit und Menschenwürde – Übergänge aus der Grundlegung in die Anwendung
  14. 10 Gibt es eine Rangliste ethischer Prioritäten?
  15. 11 Epilog: Begrenzte Ethik und theologische Selbstbegrenzung
  16. Register