1 Essenz
Kein Jurist zu sein, kann und wird hier ein Vorteil sein. Wie in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft ist auch das Urheberrecht seit etwa 30 Jahren in eine Akzeptanzkrise geraten.1 Es ist nicht zu erwarten, dass sich das Urheberrecht aus dieser Krise über juristische Diskurse alleine wird befreien können. Auch das hat das Urheberrecht gemeinsam mit vielen anderen Großbaustellen der Gesellschaft, wie z. B. Klimawandel, Transformation des Verkehrs, Digitalisierung, Gesundheit, Künstliche Intelligenz oder Datenschutz/Informationelle Selbstbestimmung. Anstöße zur Reform einzelner Rechtsbereiche wurden im Grunde schon immer nicht aus dem Recht selbst entwickelt. Heute werden sie immer mehr aus zivilgesellschaftlichen Gruppen initiiert, zuweilen auch von einzelnen Personen. Die entsprechenden Diskurse laufen überwiegend in den Diensten des Internets. Oft bleibt es nicht bei den Anstößen, vielmehr nehmen die Betroffenen zuweilen das Heft des Handelns selbst in die Hand. Nicht gegen das Recht, aber durchaus unabhängig vom Recht. Für das Urheberrecht steht dafür die Open-Access-Bewegung.
Beschränken wir uns hier auf die Krise des Urheberrechts, speziell auf das Urheberrecht mit Blick auf Wissen und Information in Bildung und Wissenschaft. Auch diese Krise hat viele Ursachen – hier nur erste Hinweise auf vier:
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Die schon länger im Urheberrecht angelegte, aber sich seit ca. 30 Jahren intensivierende Kommodifizierung und Ökonomisierung von Wissen2 – auch für das in öffentlichen Umgebungen produzierte Wissen,
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die vom Recht unzureichende Berücksichtigung zentraler Regulierungsinstanzen wie Technik, Markt und Norm/Ethik und deren Potenziale für den Umgang mit Wissen und Information,
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eine mangelnde kreative Auslegung (juristische Hermeneutik) bestehender Gesetze, Richtlinien, Urteile und Entscheidungen bei den Akteuren in Rechtsetzung und Rechtsprechung,
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die für Bildung und Wissenschaft unpassende Systematik des Urheberrechts mit seinen zum Teil aus dem 19. Jahrhundert stammenden Fundamenten.
(1) Kommodifizierung von Wissen.
Die entscheidende Krise des Urheberrechts, zumindest für Bildung und Wissenschaft, besteht darin, dass das Urheberrecht systematisch und über die konkreten Normen eine fortschreitende Kommodifizierung von Wissen begünstigt hat, auch des mit öffentlichen Mitteln produzierten Wissens (ausführlich in 6.1). Der Verwertung von Wissen und Information und dessen Sicherung wird bis heute von der Politik stärker Rechnung getragen als deren freizügigen Nutzung im Interesse der Öffentlichkeit und dem Nutzen der einzelnen Menschen. Die Vernachlässigung des Gemeinwohlinteresses gegenüber den kommerziellen Verwertungsansprüchen gilt wie für viele andere Großbereiche der Gesellschaft speziell auch für das Urheberrecht. Das Urheberrecht ist dadurch tendenziell zu einem die kommerzielle Verwertung sichernden Handelsrecht geworden – mit der Konsequenz, dass das Urheberrecht für Bildung und Wissenschaft zum Problem geworden ist. Das auf Bildung und Wissenschaft bezogene Urheberrecht wird von den meisten der dort Tätigen eher als behindernd denn als befördernd angesehen. Diese Ökonomisierung war zwar immer schon im Urheberrecht angelegt, im angelsächsischen Copyright sowieso; aber deren negative Auswirkungen waren nicht immer so deutlich zu erkennen. Noch zu Zeiten der letzten umfassenden Urheberrechtsreform von 1965 war Urheberrecht für die in Bildung und Wissenschaft Tätigen kein Thema. Das Zusammenspiel von Urhebern, Nutzern, Verlagen und Bibliotheken funktionierte weitgehend. Zuweilen, im Vergleich zu den heutigen „Sofort“-Erwartungen, war es etwas mühsam, z. B. bei der Fernleihe, wenn die lokale Bibliothek den gewünschten Text nicht präsent hatte, aber im Prinzip war „Frieden“ auf den wissenschaftlichen Informationsmärkten, und um das Urheberrecht musste sich so gut wie niemand kümmern.
Das änderte sich mit der fortschreitenden Telemediatisierung – dem Zusammenspiel von Telekommunikation, Informatik und Multimedia – aller Vorgänge der Produktion, Verwertung, Verteilung und Nutzung von Wissen und Information. Der Zeitpunkt kann ziemlich genau auf Ende 1994 festgemacht werden, als die öffentlich finanzierte National Science Foundation (NSF) das für die Steuerung der verschiedenen Internet-Netze zuständige Backbone-Netz per Vertrag an verschiedene US-amerikanische Telefongesellschaften übergab. Diese stellten damit sofort das, was heute Internet heißt, der gesamten Wirtschaft und damit auch der kommerziellen Informationswirtschaft zur Verfügung. Das war der Beginn von dem, was sich als big business auch auf den internationalen Zeitschriftenmärkten mit überdurchschnittlichen Gewinnspannen etabliert hat (vgl. Kap. 14). Der kommerzielle Wissenschaftsmarkt ist damit ein Teil des „digitalen Kapitalismus“ geworden, den Philipp Staab3 – allerdings in erster Linie mit Blick auf Google, Facebook, Amazon und Microsoft – als „Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Unknappheit“ beschrieben hat.
Ein Oligopol von wenigen großen Verlagskonsortien hat es seitdem verstanden, die Wissenschaftler an ihre Produkte zu fesseln und deren Karriere, auch über den Impact Factor, vom Publizieren in deren Zeitschriften abhängig zu machen. Seitdem ist der Frieden vorbei. Bildung und Wissenschaft sind natürlich keineswegs im Krieg. Aber tatsächlich hat sich um die Jahrhundertwende weltweit der Widerstand gegen die fortschreitende Kommodifizierung und Ökonomisierung von wissenschaftlichem Wissen artikuliert (ausführlich in 14.6), z. B.
Boykott großer Verlagskonsortien – keine Publikation in deren Zeitschriften, keine Mitarbeit als Herausgeber oder Peer Reviewer; Kündigungen von Zeitschriften-Abonnements durch Bibliotheken; Petitionen, oft getragen durch viele tausend Unterzeichner an die politischen Instanzen zugunsten eines freien Umgangs mit öffentlich finanzierten Wissen; spontane und organisierte Proteste aus der Zivilgesellschaft; Nutzung von als widerrechtlich einzuschätzenden, aber sich moralisch legitimierenden Internetangeboten wie Sci-Hub […].
Der größte Widerstand gegen die Kommerzialisierung von Wissen und Information ist aus der Wissenschaft selbst durch das Engagement für Open Access bzw. Open Science gekommen. Dies findet ihren Niederschlag in der fortschreitenden Transformation der traditionellen kommerziellen Publikationsmärkte in Open-Access-Märkte (vgl. Kap. 14).
All das hat aber bis heute die Realität der Kommodifizierung von Wissen, die Dominanz der kommerziellen Verwertung und deren Unterstützung durch das Urheberrecht nicht verändert.
(2) Widersprüche im Urheberrecht durch Vernachlässigung der Nutzungspotenziale der laufenden Transformationsprozesse.
Gemeint sind die Prozesse, die sich a) durch Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT), b) durch Umschichtungen auf den Informationsmärkten ergeben und vor allem c) dadurch, dass in der Öffentlichkeit sich ein moralisches Bewusstsein zugunsten freier und offener Nutzung von öffentlich gemachtem Wissen entwickelt hat.
(a)
Das Urheberrecht gerät oft genug in Widerspruch zu den Potenzialen der gegenwärtigen IKT.4 Viele Beispiele dafür werden später aus den Urheberrechtsreformen seit 2003 gegeben. Hier nur eins: 2008 (!) wurde den Bibliotheken nicht erlaubt, vollelektronische Dateien in der Fernleihe an die Nutzer zu senden; erlaubt waren nur grafische, also nicht recherchierbare und nicht so leicht bearbeitbare Dateien. Erst 2018 wurde das korrigiert. Die Vernachlässigung der Potenziale durch IKT hat nicht nur zu Belästigungen geführt wie durch die Vorschrift für grafische Dateien, sondern insgesamt zu einer paradoxen Situation:
Die Potenziale der IKT ermöglichen an sich einen freien Umgang mit Wissen und Information. In der Realität aber ist vor allem die Nutzung des publizierten Wissens immer komplizierter und eingeschränkter geworden. Verantwortlich dafür war und ist immer noch das zu starke Zusammenspiel von kommerziellem Markt und regulierender Politik. Das, was analog wie selbstverständlich erlaubt war, wird im elektronischen Umfeld als regulierungsbedürftig angesehen – meistens mit dem Ergebnis einer verknappten Nutzung. Hätte um 1970 jemand von einem Dozenten verlangt, seinen Studierenden kleine Teile bzw. 15 % eines Textes als Papierkopien in einen Semesterapparat zu stellen, dann hätte das nur ungläubiges Staunen produziert. Seit 2003 durch den sogenannten Ersten Korb der Urheberrechtsreform sind solche Nutzungseinschränkungen verbindlich. Auch durch die letzte Reform 2017/18 bleiben solche, dem System von Bildung und Wissenschaft fremden Beschränkungen erhalten, z. B. 15 % eines Werks für elektronische Kopien für den „Zweck der nicht kommerziellen wissenschaftlichen Forschung“ (§ 60c UrhG).5
(b)
Das Urheberrecht gerät oft genug in Widerspruch zu den Potenzialen des Wandels auf den wissenschaftlichen Informationsmärkten. Das Urheberrecht hat sich zu lange an dem Geschäftsmodell des Publizierens aus der analogen Welt orientiert. Das bisherige Modell, das auf der Anzahl der verkauften Exemplare beruht, trägt im elektronischen Umfeld nicht mehr. Die Nutzung jeden einzelnen Exemplars muss im alten Geschäftsmodell verknappt, und die Verknappung muss durch das Recht geschützt werden, damit nicht die Dystopie der Verlage eintritt, nämlich dass im Prinzip nur ein einziges elektronisches Exemplar nötig ist, aus dem dann beliebig viele identische Kopien erstellt werden können. Das war tatsächlich nie eine reale Dystopie. Sie wurde aber und wird auch heute noch immer wieder von den Organisationen der Verlagsindustrie als Gespenst der Piraterie an die Wand gemalt. Dem ist der Gesetzgeber oft genug gefolgt.
Auf die Auswirkungen einer Schutzpolitik des obsolet Gewordenen in den Urheberrechtsreformen seit 2003 wird hier ausführlich eingegangen. Es kann nicht die Aufgabe des Urheberrechts sein, offensichtlich überholte Geschäftsmodelle der Publikationswirtschaft vor dem zu schützen, was sich als Paradigma, als zentrale Leitidee auf den Wissenschaftsmärkten herausgebildet hat, nämlich uneingeschränkte Nutzungsfreiheit für publiziertes Wissen. Würde diese Idee umgesetzt, könnte nicht mehr durch Verkauf und Lizenz der von der Wirtschaft erstellten Informationsobjekte verdient werden und schon gar nicht durch jede einzelne reale Nutzungshandlung, sondern allein durch eine Vergütung für die Erstellung und elektronische Bereitstellung dieser Objekte. Spätestens 2017/2018 bei der Reform durch das UrhWissG wäre die neue Leitidee der Nutzungsfreiheit auch von der Politik schon deutlich klar zu sehen gewesen. Die Chance, dies ins Recht umzusetzen, war mit einem breiten Konsens zugunsten einer Allgemeinen Bildungs- und Wissenschaftsschranke (ABWS) gegeben und ihr hatte sich die Politik in ihrem Koalitionsvertrag von 2013 an sich auch verpflichtet. Aber realisiert wurde sie nicht. Die Chance wurde vertan.
(c)
Das Urheberecht gerät oft genug in Widerspruch zu den sich entwickelnden und immer mehr sich verfertigenden Leitideen für den Umgang mit Wissen und Information. Das wird hier das zentrale Thema sein. Leitideen fallen nicht vom Himmel, sondern entwickeln sich in den auf Wissen und Information bezogenen Räumen – hier in den Räumen des Internets. Die Gesamtheit solcher Leitideen macht sozusagen das öffentliche moralische Bewusstsein für den Umgang mit Wissen und Information aus. Hierfür wird später die Metapher des Zeitgeists bemüht. Leitideen sind nicht stabil zeitlos. Sie waren in einem analogen Umfeld, in analog bestimmten Räumen, andere als im heutigen elektronischen Umfeld, in den vom Internet dominierten Räumen. Hier das Beispiel für eine Leitidee, die tatsächlich in den letzten 15 Jahren, im öffentlichen Bewusstsein breite Akzeptanz gefunden hat. Man kann dafür die Probe aufs Exempel machen:
Wen immer man auch danach fragte, ob die Öffentlichkeit einen Anspruch darauf habe, dass die mit öffentlichen Mitteln in Bildung und Wissenschaft erzeugten Wissensobjekte6 für jedermann frei genutzt werden können, wird mit großer Mehrheit eine die Frage bejahende Antwort bekommen. Das führt zur Leitidee der Vergütungsfreiheit.
(3) Kreative Auslegung des Bestehenden ist gefragt.
Der vor allem aus der Zivilgesellschaft vorgetragenen Kritik an für Bildung und Wissenschaft unzureichenden Urheberrechtsregelungen wurde von reformfreudigeren politischen Juristen und juristischen Politikern entgegengehalten, dass sie eigentlich viel stärker in Richtung eines wissenschaftsfreundlichen Urheberrechts gehen wollten. Allein sei dies unmöglich gewesen angesichts der bestehenden verbindlichen Systematik des Urheberrechts, aber ebenso unmöglich angesichts der verbindlichen Vorgaben von internationalen Vereinbarungen, vor allem durch den acquis communautaire, also die Richtlinienvorgaben der EU, aber auch durch verschiedene frühere Urteile/Entscheidungen der obersten Gerichte wie Bundesgerichtshof (BGH) und Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und Europäischer Gerichtshof (EuGH).
Diese Argumentation kann nicht akzeptiert werden. Das Grundgesetz gibt großen Spielraum, ja die Verpflichtung, Erweiterungen, aber auch Einschränkungen auch von Grundrechten durch positive Gesetze immer wieder neu festzulegen. Das BVerfG hat den Gesetzgeber immer wieder aufgefordert, diesen Spielraum auch mit Blick auf das Urheberrecht auszuschöpfen. Der Gesetzgeber hat sich allerdings immer wieder verleiten lassen, seinen Spielraum, positive Gesetze zu gestalten, klein zu halten – und zwar i. d. R. durch eine konservative Auslegung bestehender nationaler und internationaler Vorgab...