Kurz vor der Wahl Franҫois Hollandes zum Staatspräsidenten Frankreichs im Jahr 2012 erhielt dieser eine Anfrage für einen blind-test zum französischen Chanson – und sagte sofort zu. Er empfing die Journalisten der Zeitschrift Serge Magazine in der Assemblée nationale und unterzog sich diesem Test. Wie eine Bewährungsprobe für das zukünftige Amt mutet das daraus entstandene Interview an, in dem sich Hollande als Chansonkenner zeigt und souverän die ihm vorgespielten Chansons kommentiert. Mit einem großen Teil der hauptsächlich politischen Chansons verknüpft Hollande persönliche Erinnerungen. So habe die Chansonkünstlerin Barbara aus ihm erst den gemacht, der er jetzt ist und selbst bei den ihm unbekannten musikalischen Werken gelingt es Hollande, einen Bogen zu seinem Privatleben oder auch zu seinem politischen Schaffen zu schlagen. Als das ihm gut bekannte Chanson Au départ (2011) von Alex Beaupin erklingt, das als Hymne seiner Wahlkampagne fungiert hat, äußert er nicht nur seine Begeisterung, sondern stellt en passant auch dessen Funktion als Prototyp eines Chansons heraus: «Pour moi, cette chanson est l’accomplissement même de cet art, c’est-à-dire la rencontre d’un événement historique et d’une histoire personnelle.»1 Dass man von einem zukünftigen französischen Präsidenten eine gewisse Affinität zum französischen Chanson fordert, diese öffentlich abgeprüft und schließlich in höchstem Maße erfüllt wird, zeigt, welcher gesellschaftliche Stellenwert der Gattung offensichtlich eingeräumt wird. Mit seiner expertenhaften Gesamtperformanz verfügt Franҫois Hollande zum einen über eine herausragende Kompetenz, die ihn als Präsidenten prädestiniert, zum anderen ist es auch eben jene Kompetenz, die ihn in ‹égalité und fraternité› mit allen Franzosen2 bzw. mit dem peuple3 verbindet. Er inszeniert sich somit als Teil einer kulturellen Gemeinschaft, die sich über das französische Chanson definiert. An der Beziehung des damals zukünftigen französischen Staatspräsidenten zum französischen Chanson wird die Funktion der Gattung als moderner Mythos bzw. dessen mythische Qualität sichtbar, die im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen sollen. Erstens zeigt sich die kulturelle Relevanz der Gattung als kollektiv gültiges Wissen, das sich Franҫois Hollande auf eine sehr individuelle und persönliche Art und Weise angeeignet hat. Der Zeitpunkt des Interviews, nämlich kurz vor der Wahl, zeugt zweitens davon, dass das Chanson als ein zentraler Motor der französischen Identität im Allgemeinen gelten, aber auch im Sinne der sozialistischen Wahlkampagne funktionalisiert werden kann. Drittens kommt die Wirksamkeit von ihrerseits mythisierten Chanson-Ikonen zum Ausdruck, wenn Hollande Barbara als geradezu existentiell für seine Persönlichkeitsentwicklung beschreibt. Viertens verweist die Definition des französischen Chansons als «la rencontre d’un événement historique et d’une histoire personnelle», die der Präsident wie selbstverständlich liefert, auf eine rege Auseinandersetzung mit der Gattung, die nicht nur von Wissenschaftlern, sondern von zahlreichen Amateuren ausgeht und die durch sehr subjektive Perspektiven und ein starkes Identifikationsbedürfnis die mythische Qualität des Chansons auch auf diskursiver Ebene sichtbar werden lässt.
Gesellschaftlich getragen und perpetuiert wird der Chansonmythos durch das Singen und Mitsingen französischer Chansons,4 auch im Sinne einer das peuple einenden gesellschaftlichen Praxis, von der Marseillaise über die verschiedensten Erzeugnisse der französischsprachigen Musikkultur, ob die Klassiker Jacques Brel, Georges Brassens oder Léo Ferré, der Rocksänger Johnny Hallyday, Bands wie Noir Désir oder die international erfolgreiche Chansonkünstlerin Zaz – im französischen Verständnis ist all dies Teil der chanson franҫaise. Eine detailgenaue Kenntnis des Textes bzw. des inhaltlichen Aspektes eines einzelnen Chansons sind dabei nicht immer konstitutiv für das Mythische des Chansons, im Gegenteil: Das Singen bzw. das Summen selbst wird zum zentralen identitätsstiftenden Akt und nicht nur – wie man vermuten könnte – die Identifikation mit dem Text. Dessen Bedeutung scheint häufig hinter den Wiedererkennungseffekt der Melodie und ein über die Jahre automatisiertes Mitsingen, oft nur des Refrains oder charakteristischer Textpassagen, zurückzutreten. So verwundert es nicht, dass Marine Le Pen in einem Fernsehinterview die Einführung der Marseillaise in den französischen Eliteschulen fordert und gleichzeitig nicht in der Lage ist, auf Nachfrage den Text der dritten Strophe zu vervollständigen.5 Sie muss zugeben, dass sie diesen nicht kennt. Hier offenbart sich eine weitere Eigenschaft des Chansonmythos: Es geht weniger darum, das Phänomen in Gänze kognitiv oder gar intellektuell durchdrungen zu haben, sondern vielmehr um dessen affektive Wahrnehmung. Die Marseillaise wird auch von der rechtskonservativen Marine Le Pen als Quelle kultureller Identität starkgemacht, die maßgeblich durch ihren Chansoncharakter mitkonstituiert wird.6
Es hat schon zahlreiche Definitionen und Kontroversen zum ‹französischen Chanson› und zum ‹Mythos› gegeben. An den beiden aufgeführten Beispielen von Franҫois Hollande und Marine Le Pen ist deutlich geworden, dass das Chanson auch durch seine Nähe zum Mythischen definiert werden kann. Die Wirkungsweise des Mythischen kann wiederum am Beispiel des Chansons veranschaulicht werden. Durch die Verbindung beider Konzepte wird ein neuer Zugang eröffnet, der wegweisend für die Gattungsdebatte ist. Das Ziel der Arbeit ist es, diese Grundidee weiterzuverfolgen.
Im Zuge der Medienrevolution des 20. und 21. Jahrhunderts erfährt die französische Chanson-Kultur insbesondere durch die audio-visuellen Medien wie Radio, Fernsehen und Internet eine gattungsgeschichtlich relevante Weiterentwicklung. So wird z. B. die für das Chanson konstitutive Intermedialität auf besondere Art und Weise entfaltet und potenziert. Es kommt zu einer Neugewichtung bzw. -bewertung der Teilkomponenten Text, Musik und Performanz, deren intermediales Zusammenwirken die Spezifik der Gattung ausmacht. Im Zusammenhang damit steht auch eine verstärkte nationale Markierung des nun international erfolgreichen und universell wirksamen Genres.
Sowohl Chansonklassiker als auch neuere Ausprägungen des Chansons, die mit dem Begriff nouvelle scène franҫaise bezeichnet werden, haben vor allen Dingen auf nationaler, aber auch auf internationaler Ebene Konjunktur. Als «kultureller Aufsteiger»7 entfaltet das Chanson seine Wirkung über seine dialektische und ambivalente Funktion als «französisches»8 und gleichzeitig «universelles Phänomen»9. Zudem kann es die gesamte französischsprachige Musikkultur oder auch nur spezifische Ausprägungen derselben betreffen.
Neben seiner Omnipräsenz in Radio, Filmen und Internetportalen ist das Chanson in den letzten Jahrzehnten auch zunehmend in den Fokus der Literaturwissenschaft gerückt. Dennoch galt es gerade innerhalb dieser als «nicht unproblematische»10 Gattung, und es wurde immer wieder diskutiert, inwiefern es als eigenständige Gattung bezeichnet werden kann. Betrachtet man nun jüngste Entwicklungen moderner Massenkulturen und deren Reproduktionsmechanismen, so lassen sich die Entstehung neuer Formen des Populären beobachten und auch die Aufwertung älterer populärer Formen wie das Chanson. Mit den angloamerikanischen Cultural Studies, die wissenschaftlich auf diese Entwicklung reagieren, erhält das ‹Populäre› nun auch eine besondere Aufmerksamkeit von Seiten der Wissenschaft,11 wobei gerade die Regelwidrigkeit und der Status des nicht Zuzuordnenden nun programmatische Qualität bekommen.12 Daran anknüpfend wird für diese Arbeit von einem Gattungsbegriff ausgegangen, der den Cultural Studies folgend, sich nicht an einem überkommenen triadischen Gattungssystem orientiert, sondern durch ein offenes Gattungsmodell versucht, das Chanson als «transgenerisches»13 Phänomen zu betrachten, welches sowohl hoch- als auch popkulturelle Ansprüche vereint und eine kommunikative Funktion hat.14
Das französische Chanson besitzt – so die Hauptthese der Arbeit – eine mythische Qualität, die sich auf chansonimmanenter, intermedialer, personaler und diskursiver Ebene manifestiert. Im Anschluss an bisherige Studien zum französischen Chanson, die gattungstheoretische Aspekte häufig mit legitimatorischen Absichten fokussieren, wird nun durch mythentheoretische Überlegungen eine neue Perspektive entwickelt, indem die oben genannte mythische Qualität der Gattung ins Zentrum der Untersuchungen gestellt wird.