Die Frage nach der ErzĂ€hlbarkeit von Geschichte wird in literarischen Texten gestellt und verhandelt und vor allem seit dem narrative turn auch in der Geschichtswissenschaft diskutiert.1 Im Werk Daniel Kehlmanns sind es zunĂ€chst die beiden historisch erzĂ€hlenden Romane, Die Vermessung der Welt2 und Tyll,3 in denen Ăberlegungen zur ErzĂ€hlbarkeit von Geschichte mithilfe verschiedener literarischer Verfahren angestellt werden. Bei genauerer Hinsicht wird aber klar, dass auch in anderen fiktionalen Texten Kehlmanns, beispielsweise in Ruhm,4 indirekt ĂŒber das ErzĂ€hlen von Geschichte reflektiert wird. Auch Ă€uĂert sich der Autor essayistisch dazu. Um sich den Reflexionen ĂŒber das ErzĂ€hlen von Geschichte im Werk Kehlmanns analytisch anzunĂ€hern, schlage ich vor, diese als Komplex von Problematisierungen und durchgespielten Lösungsversuchen anzusehen. Anders gesagt betrachte ich so einerseits die Frage nach der ErzĂ€hlbarkeit von Geschichte, die in den Texten auf verschiedene Weise aufgeworfen wird, und andererseits mögliche Antworten darauf. Dabei werde ich mich zunĂ€chst auf die Texte von Kehlmann selbst konzentrieren. Es soll aber auch das dialogische VerhĂ€ltnis betrachtet werden, in das sie mit anderen literarischen Texten und den Geschichtswissenschaften treten, die sich ebenfalls mit diesen Fragen und Antworten befassen.
Wenn ich vom âWerkâ Daniel Kehlmanns spreche, verwende ich einen dynamischen Werkbegriff im Sinne Michel Foucaults: Er erklĂ€rt das Entstehen eines Werkes durch Zuschreibungen an den literarischen Text durch den Autor, aber auch durch Kritiker*innen, den Verlag und (philologische) Leser*innen. Das Werk werde so zum öffentlichen und âoffenenâ Text, und könne âweder als unmittelbare Einheit noch als eine bestimmte Einheit noch als eine homogene Einheitâ angesehen werden.5 Das Werk befinde sich also im stĂ€ndigen Dialog mit der AuĂenwelt. Daher sind auch paratextuelle ĂuĂerungen zu beachten. Laut GĂ©rard Genette bilden diese, weil sie âimmer einen auktorialen oder vom Autor mehr oder minder legitimierten Kommentar enthaltenâ, einen âgeeigneten Schauplatz fĂŒr eine Pragmatik und eine Strategie, ein Einwirken auf die Ăffentlichkeit im [âŠ] Dienst einer besseren Rezeption des Textes und einer relevanteren LektĂŒre â relevanter, versteht sich, in den Augen des Autors und seiner VerbĂŒndeten.â6 Aus dieser Perspektive auf das Werk Kehlmanns untersuche ich auch seine paratextuellen ĂuĂerungen zum historischen ErzĂ€hlen in seinem Essay Wo ist Carlos MontĂșfar?7 Es geht also nicht nur um die Fragen nach der ErzĂ€hlbarkeit von Geschichte und die möglichen Antworten, die Kehlmanns literarisches Werk dafĂŒr bereitstellt, sondern auch um die Frage, was diese Antworten wiederum fĂŒr den Dialog mit der Ăffentlichkeit bedeuten könnten. Es lĂ€sst sich zumindest die Hypothese aufstellen, dass im Werk erörterte Stellungnahmen zur Darstellung und Funktion des ErzĂ€hlens von Geschichte auch als Selbstpositionierung im literarischen Feld der Gegenwartsliteratur genutzt werden.8 Diese voraussetzungsreiche These lĂ€sst sich hier nur andeuten und steht zur Diskussion; in meinem Beitrag werde ich mich vor allem auf die Fragen und Antworten zum ErzĂ€hlen von Geschichte bei Kehlmann konzentrieren.
1 Fragen nach der ErzÀhlbarkeit von Geschichte
Wo ist Carlos MontĂșfar? fragt Kehlmann in seiner 2005 erschienen Essay-Sammlung. In dem gleichnamigen Eröffnungstext erklĂ€rt er, warum der Gouverneurssohn Carlos MontĂșfar, ein langjĂ€hriger Begleiter Alexander von Humboldts auf seinen SĂŒdamerikaexpeditionen, nicht als Figur in der Vermessung der Welt auftaucht â und warum im Gegenzug AimĂ© Bonpland, der diesen historisch nachweislich nur kurz und nie allein begleitet hat, in der Diegese aber ein âverschworenes, streitendes Paarâ (M, 16) mit Humboldt darstellt, das âumgeben bloĂ von den Randfiguren wechselnder FĂŒhrerâ (M, 16) weitestgehend zu zweit reist. Das von Kehlmann bediente ErklĂ€rungsmuster fĂŒr solche schriftstellerischen Entscheidungen, das sich nicht nur paratextuell wiederfinden lĂ€sst, soll im Folgenden thematisiert werden. Hier geht es zunĂ€chst um die Frage nach der ErzĂ€hlbarkeit von Geschichte. Diese wird sowohl im paratextuellen Werk als auch in den literarischen Texten selbst gestellt; allerdings auf unterschiedliche Weise. Die Argumentation im Essay beginnt mit dem Fallbeispiel von GauĂÊŒ Telegraphenanlage, mit der er in der Vermessung der Welt Botschaften mit Wilhelm Weber austauscht (vgl. V, S. 281). Bei einem Besuch in der Göttinger Sternwarte wird dem Autor klar: âMit diesem Apparat jedoch, das zeigte mir in der Sternwarte ein einziger Blick, waren GesprĂ€che unmöglich.â (M, S. 10) Implizit wird hier die Frage Wo ist Carlos MontĂșfar? erneut gestellt: Wenn dem Autor Kehlmann bekannt ist, wie die historischen Fakten liegen, warum erzĂ€hlt er sie dann trotzdem anders? Gleichzeitig wird durch diese Fallbeispiele die Frage nach dem ErzĂ€hlen historischer ZusammenhĂ€nge in den Kontext des literarischen ErzĂ€hlens und die damit einhergehenden Bedingungen gestellt: Es geht um Fragen der Ăsthetik (vgl. M, S. 9), um Leser*innen, um die Bewertung der Art, historisch zu erzĂ€hlen (vgl. M, S. 11) und damit auch immer um die Positionierung im literarischen Feld (âtrivialâ, M, S. 11 vs. âein ganzer Seitenstrom der Moderneâ, S. 12). Diese Kontextualisierung wird bereits deutlich durch den Untertitel des Bandes: Wo ist Carlos MontĂșfar? Ăber BĂŒcher.
Auch in Kehlmanns literarischen Texten steht bei der Frage nach der Entscheidung, wie geschichtliche Fakten erzĂ€hlt werden, der Kontext des literarischen Schreibens und seiner produktions- und rezeptionsĂ€sthetischen Implikationen im Vordergrund. So hat Alexander von Humboldt in der Vermessung genaue Vorstellungen davon, wie fiktionales Schreiben ĂŒber historische Personen und Begebenheiten aussehen muss. Diese gehen einher mit einem normativen KunstverstĂ€ndnis, das das Kriterium der Nachahmung in den Vordergrund stellt. Die Aufgabe der Kunst sei âdas Vorzeigen dessen, was seiâ, denn âErfundenes verwirre die Menschen, Stilisierung verfĂ€lsche die Weltâ, wie âRomane, die sich in LĂŒgenmĂ€rchen verlören, weil der Verfasser seine Flausen an die Namen geschichtlicher Personen binde.â Deshalb spricht er sich aus fĂŒr âListen der Eigenschaften wichtiger Persönlichkeiten, von denen abzuweichen dann nicht mehr in der Freiheit eines Autors liegen dĂŒrfe.â (V, S. 221 f.) Bei der Behandlung der Frage nach dem ErzĂ€hlen von Geschichte in literarischen Texten, die selbst von historischen EntitĂ€ten erzĂ€hlen,9 ist die Dimension der SelbstreferenzialitĂ€t stets mitzudenken. Die Position der Figur von Humboldt gegen âAbweichungenâ (V, S. 221), âStilisierungâ und âErfundenesâ und fĂŒr die literarische Darstellung dessen, was in der vermeintlichen RealitĂ€t âseiâ, steht hier die Position gegenĂŒber, mit der in der Vermessung von der Figur von Humboldt erzĂ€hlt wird, nĂ€mlich gerade mit bewussten Abweichungen von der historischen Person. Humboldts Rede gegen diese Art des historischen ErzĂ€hlens wurde in der Forschung als ironische Vorwegnahme von möglicher Kritik an dem Roman identifiziert, der sich eben nicht an die âListenâ der Eigenschaften halte.10 TatsĂ€chlich blieb in der Rezeption eine flĂ€chendeckende Kritik diesbezĂŒglich aus; vereinzelt wurde sie aber dennoch geĂ€uĂert: Der dargestellte Carl Friedrich GauĂ entsprĂ€che nicht der historischen Person und seine wissenschaftlichen Leitungen wĂŒrden unzureichend erlĂ€utert, heiĂt es in den Mitteilungen der GauĂ-Gesellschaft Göttingen.11 Dass die Buchbesprechung von einem Mathematik- und Wissenschaftshistoriker verfasst wurde, könnte als Hinweis darauf dienen, dass Leser*innen aus nicht-literaturwissenschaftlicher Perspektive fiktionale Texte, die historische EntitĂ€ten behandeln, unter anderen Kriterien lesen und beurteilen.12
Auch in Tyll werden historische Begebenheiten und Figuren genutzt und noch offensiver und offensichtlicher abgewandelt â Till Eulenspiegel wird in die Zeit des DreiĂigjĂ€hrigen Krieges âversetztâ oder âverpflanztâ.13 Auch hier wird die Frage nach der ErzĂ€hlbarkeit von Geschichte in ihrer Ă€sthetischen Dimension behandelt, aber anders als von Humboldt gibt es hier keinen Gegner von âAbweichungenâ â vielmehr werden die Figuren selbst zu ErzĂ€hlern, die diese Technik perfektionieren. Graf Martin von Wolkenstein wird vom Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gesandt, um Tyll in den Kriegswirren zu suchen und an den Hof in Wien zu holen. Seine Erlebnisse wĂ€hrend der Reise hĂ€lt er in seinen Memoiren fest, die er allerdings erst âein halbes Jahrhundert spĂ€terâ (vgl. T, S. 192) verfasst, wobei er sich an einiges nicht mehr genau erinnern kann (vgl. T, S. 192). In anderen FĂ€llen verschweigt er bestimmte Ereignisse bewusst, weil sie ein schlechtes Licht auf ihn werfen könnten. Seine Kompensationsmechanismen orientieren sich dabei eher an stilistischen Kategorien und nehmen dabei auch eine bewusste Fiktionalisierung des vermeintlich Erlebten in Kauf â mit Erfolg, wie die Rezeption der Memoiren zeigt:
In seinem Lebensbericht, dessen Stil noch dem Modeton seiner Jugendtage, das heiĂt der gelehrten Arabeske und der blumigen AusschmĂŒckung, verpflichtet war, schilderte der dicke Graf in SĂ€tzen, die gerade ihrer exemplarischen Gewundenheit wegen den Weg in manches Schullesebuch gefunden haben, den gemĂ€chlichen Ritt durchs WienerwaldgrĂŒn: Bei Melk erreichten wir das breite Blau der Donau, im herrlichen Stift kehrten wir ein, um eine Nacht lang unsere mĂŒden HĂ€upter auf Kissen zu betten.
Das stimmte wieder nicht ganz, in Wirklichkeit blieben sie einen Monat. Sein Onkel war der Prior, und so aĂen sie vortrefflich und schliefen gut. [âŠ] Erst in der vierten Woche ihres Aufenthaltes holte sie ein Brief von Graf Trauttmannsdorff ein, der ihn schon am Ziel wĂ€hnte und fragte, ob sie den Ulenspiegel denn ...