Wiedergeburt und Nachschöpfung
João Guimarães Rosa im Diskurs des ‹jagunço de Munique›
1 Genese der Autofiktion
Curt Meyer-Clason (1910–2012) erlangte für einen literarischen Übersetzer außergewöhnliche Berühmtheit. Zweifellos ist dies seiner intensiven Vermittlerrolle für die Literaturen Hispanoamerikas und Brasiliens im deutschsprachigen Raum zu verdanken. Weniger bekannt ist Meyer-Clason als Autor. Im Mittelpunkt dieses Artikels steht sein Werk Äquator (1986), insbesondere der dritte Teil des monumentalen Bildungsromans, der von den Lehrjahren eines jungen Mannes namens Claus Moller-Anderson erzählt. Deutlich ist der Held als Alter Ego angelegt, denn Vorname und Doppelname ähneln denjenigen des Autors. Das dritte und letzte Buch trägt den Titel Die Welt gewinnen und handelt nicht nur von Brasilien, sondern ist auch sprachlich von den Erfahrungen des späteren Übersetzers brasilianischer Literatur geprägt.1 João Guimarães Rosa spielt dabei eine herausragende Rolle.
Bevor wir uns mit Äquator näher beschäftigen, seien Curt Meyer-Clasons Lebensabschnitte knapp umrissen: am 19. September 1910 in Ludwigsburg als Sohn eines Kavallerieoffiziers geboren, war seine Kindheit von der Lebenswelt des hohen Militärs geprägt. Allerdings verarmte die Familie nach der Kapitulation des Deutschen Reichs, insbesondere nach dem Selbstmord des Vaters. Unter diesen Umständen verließ der Junge das Gymnasium und folgte der kaufmännischen Ader der Familie mütterlicherseits, deren Vorfahren nach England emigriert waren. 1937 schiffte er sich im Dienste einer nordamerikanischen Firma nach São Paulo ein und arbeite dort als Angestellter, bis er 1940 in Porto Alegre ein eigenes Handelskontor eröffnete. Wiederholt versuchte er in Argentinien oder Chile Fuß zu fassen, vor allem als das Risiko wuchs, wegen angeblicher Spionage für das NS-Regime von der DOPS festgenommen zu werden. Dies geschah schließlich im März 1942, noch bevor Brasilien im August gegen die Achsenmächte in den Krieg eintrat. Nach zweitägiger Folter gestand Hans Kurt (oder Curt) Werner – so seine kompletten Vornamen in den Akten – seine Tätigkeit als Spion und wurde zu dreißig Jahre Haft verurteilt.2 Als das Urteil dank der neuen Verfassung von 1946 revidiert wurde, kam er wieder frei. Während der nahezu fünf Jahre in der Strafkolonie Cândido Mendes auf der Ilha Grande vor Rio de Janeiro habe er – nach eigener Aussage – die Literatur entdeckt. Es scheint demnach eine Art Bekehrung des bisherigen Kauf- und Lebemanns eingetreten zu sein, wie es später im Laufe der Jahre bei vielerlei Gelegenheiten durch Meyer-Clason selbst beteuert wird. In seinem Diskurs, der nicht frei von Selbstidealisierung ist, verbindet er auch die spätere Freundschaft zu Guimarães Rosa mit seiner Berufung zur literarischen Übersetzung: «Meine Begegnung mit João Guimarães Rosa und seinem Werk hat mein Übersetzer-Abenteuer hervorgebracht», pflegte er zu sagen.3 So bestätigt sich die zentrale Rolle dieses brasilianischen Autors für eine spezifische Autofiktion, in deren Zentrum nicht Autor- sondern Übersetzerschaft steht.4 Mit der Selbstbezeichnung eines «jagunço de Munique»5 idealisiert er sich als jemanden, der durch seine Wiedergeburt im Sertão zu einer genialen Nachschöpfung der besonderen écriture von Guimarães Rosa befähigt wurde. Diese Tätigkeit beginnt mit der Übersetzung von Grande sertão: veredas (1964) und setzt sich fort bis Tutaméia (1994).6 Interessant sind dabei auch seine Kommentierungen wie im Falle der schier unübersetzbaren Erzählung Meu tio o Iauretê (1981).7
Die Autofiktion des Wiedergeborenen nimmt transdiskursive Konturen an, denn sie umfasst nicht nur erklärtermaßen fiktionale Texte — vor allem den Roman Äquator — sondern auch Tagebuch, Reisebericht, Essay sowie Äußerungen in den Interviews, die er über vier Jahrzehnte hinweg gab. Dabei gilt es, zwei Momente hervorzuheben: erstens die Entdeckung der Literatur in der Strafkolonie auf der Ilha Grande, und zweitens die Initiation in Guimarães Rosas Werk, die unmittelbar mit der Berufung zu einer neuen Art des Übersetzens verknüpft ist. Meyer-Clason spricht von einer Praxis des Nachschöpfens: «João Guimarães Rosa, sozusagen die Belohnung für meine literarische Lehrzeit auf der Ilha Grande, war meine erste Arbeit des Nachschöpfens aus eigenem Antrieb.»8 Diese zeitliche Abfolge macht klar, dass erst mit der Rückkehr nach Deutschland, konkret 1954 in die Bundesrepublik – also nicht bereits 1942–1946 auf der Ilha Grande – das Interesse für die brasilianische Literatur erwachte und sich alsbald die Möglichkeit eröffnete, Grande sertão: veredas zu übersetzen. Diese Differenzierung missachtend halten sich Vereinfachungen unter Kritikern und Journalisten, die Behauptungen folgender Art beharrlich wiederkäuen: «Hinter Gittern geschah das Zusammentreffen mit der brasilianischen Literatur, das entscheidend für ihn war, um sich in den 60er Jahren an ersten Übersetzungen zu versuchen.»9
In den ersten Interviews, als Meyer-Clason noch weit davon entfernt war, seine Autofiktion zu entwickeln, heißt es: «Merkwürdig, dass ich in all den Jahren nie etwas von brasilianischer Literatur gelesen hatte. Ich lernte das Portugiesische wie ein Papagei, wie ein Kind.»10 1968 begründete er den Antrieb zur Übersetzung brasilianischer Literatur mit seiner «saudade do Brasil».11 Dieses Narrativ wird drei Jahrzehnte später in einem Essay mit dem Titel Ilha Grande detailliert wieder aufgenommen:
Aus Sehnsucht nach Brasilien besuchte ich Veranstaltungen des Brasilianischen Konsulats, lieh mir Bücher aus, übersetzte für mich Gedichte von Carlos Drummond de Andrade, João Cabral de Melo Neto, Manuel Bandeira. Auf Anraten des Konsuls schrieb ich an João Guimarães Rosa, seinen Kollegen im Außenministerium. [...] Eine von ihm überprüfte Übersetzungsprobe führte zu einem Verlagskontrakt. Er vertraute der deutschen Sprache, den metaphysischen Gehalt und die physiognomische Form seines Werkes nachzuschöpfen, im Gegensatz zum Französischen, [...].12
Guimarães Rosas ist also sehr daran interessiert, dass der metaphysische Gehalt seiner écriture auch in der Übersetzung aufscheine. Die deutsche Sprache, die er gut kannte, schien ihm dafür geeigneter als das Französische. Offenbar wird dieser Wunsch jedoch missachtet, liest man ein früheres Geständnis des Übersetzers: Um dem (angeblichen) Verlangen des deutschen Lesers nach «Farbe, Plastizität, Kraft, zyklischer Vitalität» zu entsprechen, habe er metaphysische Elemente von Rosas Werk abgeschwächt.13 In dieser Projektion zeichnet sich Meyer-Clasons eigenes Brasilienbild ab, wobei er nicht zuletzt über die Lektüre brasilianischer Literatur sein früheres Leben in Brasilien rückblickend verklärt. Davon ist auch seine Übersetzungspraxis geleitet, wie dies eine vergleichende Analyse mit dem Original Grande sertão: veredas bestätigt. Der spätere Essay Ilha Grande ist der einzige, der näher auf seine «Lehrzeit»14 als Übersetzer in Deutschland eingeht. Dabei wird der ersten Auftragsarbeit aus dem Französischen, La vie quotidienne des Aztèques (1956) des Historikers Jacques Soust...