Jüdinnen in der frühen italienischen Frauenbewegung (1861–1945)
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Jüdinnen in der frühen italienischen Frauenbewegung (1861–1945)

Biografien, Diskurse und transnationale Vernetzungen

  1. 334 Seiten
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Jüdinnen in der frühen italienischen Frauenbewegung (1861–1945)

Biografien, Diskurse und transnationale Vernetzungen

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Über dieses Buch

Die Studie widmet sich erstmals epochenübergreifend der jüdischen Beteiligung in der italienischen Frauenbewegung. Aus einer transnationalen Perspektive und auf der Basis neu erschlossener Egodokumente, zeitgenössischer Zeitschriften, den Archiven jüdischer Gemeinden sowie der Überlieferung von Polizei und Behörden richtet Ruth Nattermann den Fokus auf die Erfahrungen italienisch-jüdischer Protagonistinnen im liberalen Einheitsstaat, während des Ersten Weltkriegs und der faschistischen Diktatur bis 1945. Das Ziel besteht darin, die Spannungen des Emanzipationsprozesses zwischen Partizipation und Abgrenzung herauszuarbeiten sowie die Marginalisierung und Verfolgung während des faschistischen Regimes aus dem Blickwinkel jüdischer Frauen zu betrachten.

Dass die faschistische Rassengesetzgebung des Jahres 1938 nicht das Ende einer idyllischen Integration, sondern den Höhepunkt einer langfristigen Entwicklung bildete, wird anhand der Untersuchung italienisch-jüdischer Akteurinnen in ihren Beziehungen zur nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft eindrücklich demonstriert. Trotz ihres bedeutenden Einflusses auf die transnationale Orientierung der italienischen Frauenbewegung blieb ihre Emanzipation als Frauen und Jüdinnen unvollkommen.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783110695465
Auflage
1
Thema
History

1 Italienisch-jüdische Familienidentitäten und säkulare Subkultur

Im Mai 1872 schrieb Sara Levi Nathan aus Genua einen langen Brief an ihre Tochter Janet. Die Weggefährtin Giuseppe Mazzinis, „Heldin“ des Risorgimento, Matriarchin der Familien Nathan und Rosselli, die zehn Jahre später in einem Zivilbegräbnis in Rom beigesetzt werden sollte, gewährte hier einen seltenen Einblick in ihre Einstellung zum Judentum. Im vertrauten Ton der englischsprachigen Korrespondenz zwischen Mutter und Tochter reflektierte Sara über die Affinität ihres 13-jährigen Sohns Beniamino zur jüdischen Religion, die offenbar Gegenstand einer vorausgegangenen Diskussion gewesen war:
„As to Ben being inclined to the Jewish rites I think it is owing to the want of religious expansion which is in almost every heart. It remains how to elicit it. It is very certain that true as the Jewish religion is in the spirit that inspired Moses to proclaim the unity of God and some of his laws, it is false nowadays in the form of following that law. Ben’s religious feeling should be directed towards a larger horizon so that his love should extend not only to a limited circle but to the whole work of God.“1
In dieser persönlichen Stellungnahme, eine der wenigen erhaltenen Aussagen der Protagonistin zum Judentum überhaupt, spiegelte sich ihre ambivalente Haltung zur jüdischen Religion deutlich wider. Sara Levi Nathan lehnte das Judentum keineswegs als solches ab, wie aus ihren Zeilen ersichtlich wird, sah aber die Befolgung der Rituale vor dem Hintergrund jüdischer Emanzipation und Säkularisierung als überholt an. Tatsächlich wurde eine heterogene Einstellung zum Judentum, die sich nicht selten innerhalb von Familien bemerkbar machte, charakteristisch für die jüdische Minderheit des nachemanzipatorischen Italien. Mit den Gesetzen zur Judenemanzipation, der Öffnung der Ghettos und des einsetzenden gesellschaftlichen Integrationsprozesses vollzog das vorher anhand eindeutiger Zugehörigkeiten definierte jüdische Selbstverständnis einen durchgreifenden Wandel. Parallel zum abnehmenden Einfluss der jüdischen Gemeinden und der Erosion des religiösen Normensystems begannen Juden, sich verstärkt über ein nationales italienisches Bewusstsein zu definieren. Da die rechtliche Gleichstellung mit der nationalen Einigung eng verknüpft gewesen war, fühlten sich die italienischen Juden dem jungen Nationalstaat mit großer patriotischer Begeisterung verbunden, was aus ihrer ausgeprägten Beteiligung am politischen und gesellschaftlichen Aufbau des Landes deutlich hervorgeht. Die häufige Distanzierung oder sogar Abkehr von den jüdischen Gemeinden bedeuteten jedoch in den seltensten Fällen die vollkommene Aufgabe jüdischer Identität. Verwandtschaftsnetzwerke und Freundschaften spielten, wie bei den Levi Nathans, eine zentrale Rolle für die Kontinuität eines Gruppenbewusstseins. Guri Schwarz und Barbara Armani betonen in diesem Zusammenhang zu Recht, dass der jüdische Emanzipationsprozess in Italien nicht als individuelle Angelegenheit zu verstehen ist, sondern als Geschichte von Familien interpretiert werden muss. Die emanzipierten Juden hatten aus dieser Sichtweise Anteil an der Erinnerung und dem kulturellen Erbe eng miteinander verflochtener Familienverbände, der selbst bei nicht religiösen Akteuren im Überdauern einer identità famigliare resultierte.2
Die zentrale Rolle jüdischer Frauen innerhalb dieser Entwicklung ist jedoch für den italienischen Kontext noch immer wenig erforscht. Dies gilt im Besonderen für die Akteurinnen der italienischen Frauenbewegung, die im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit stehen. Bei der Betrachtung der gesellschaftlichen Eingliederung jüdischer Frauen muss immer berücksichtigt werden, dass sie aufgrund ihres Geschlechts auch nach der erfolgten Emanzipation noch immer keine gleichberechtigten Staatsbürger waren, dass sich der Integrationsprozess also in anderen Bahnen vollzog als der jüdischer Männer.3 Der emanzipatorische Anspruch, der sich zuvor auf die Situation der jüdischen Gemeinschaft bezogen hatte, war hinsichtlich der Stellung als Frauen nach wie vor unerfüllt und verlor nicht an Aktualität. Gerade weil die Partizipationsräume im italienischen Nationalstaat für Jüdinnen (wie für Frauen insgesamt) beschränkt waren, blieb die Selbstverortung in Familienverbänden eine Konstante weiblicher Existenz. So ereignete sich auch die gesellschaftliche Integration jüdischer Akteurinnen im Kontext ihrer Familien, innerhalb der Interaktion mit Müttern und Schwestern, Vätern, Brüdern, Ehemännern, Kindern und Verwandten. Die Herausbildung des Selbstverständnisses zwischen italienischem Nationalbewusstsein und jüdischer Identität, das für die Protagonistinnen der frühen italienischen Frauenbewegung charakteristisch wurde, stand mit ihrem familiären Hintergrund in unmittelbarer Beziehung.
Da sich die große Mehrheit jüdischer Akteurinnen im 19. und frühen 20. Jahrhundert unter den Vorzeichen von Laizismus, Liberalismus und / oder Sozialismus in der Frauenbewegung engagierte, wird ihre jüdische Identität in der einschlägigen Forschung bis heute weitgehend ignoriert.4 Dabei kann die Untersuchung der jüdischen Ursprünge und des Umfelds der Akteurinnen sowie ihrer keineswegs immer eindeutigen säkularen Selbstverortung einen wesentlichen Beitrag zu einem tiefergehenden Verständnis der Emanzipations- und Integrationsprozesse jüdischer Frauen im vereinten Italien leisten. Vorstellungen einer Herkunftsgemeinschaft, die Weitergabe ethischer Traditionen und Erinnerungen stellten die drei Grundpfeiler für die Konstruktion säkularer jüdischer Familienidentitäten dar, die im Leben und Werk jüdischer Protagonistinnen der frühen italienischen Frauenbewegung lebendig blieben.

1.1 Heiraten und Blutsverwandtschaften

Sowohl die Pionierinnen als auch die jüngeren jüdischen Protagonistinnen der italienischen Frauenbewegung agierten zeitlebens in eng miteinander verflochtenen Familien- und Freundschaftsnetzwerken, die ihre biografische Entwicklung, ihr Selbstverständnis als Frauen und Jüdinnen, ihren Alltag wie ihr öffentliches Engagement maßgeblich bestimmten. Den überlieferten Dokumenten lassen sich trotz einer überwiegend säkularen Gesinnung das Bewusstsein der Verbindung zu den Vorfahren und der Verortung in einer familiären Gemeinschaft deutlich ablesen. Nicht zuletzt kamen jüdische Feministinnen häufig aus Familien, in denen bereits Mütter, Großmütter und weibliche Verwandte ein ausgeprägtes Engagement für die sozialen und kulturellen Belange von Frauen an den Tag gelegt hatten. Auch in dieser Hinsicht werden eine Orientierung an den Vorfahren und der Wunsch nach Kontinuität klar ersichtlich. Für die Schriftstellerin Amelia Rosselli war es die Großmutter ihres Mannes, die eingangs zitierte Sara Levi Nathan, für die Schriftstellerin Laura Orvieto die verwandten Schwestern Errera, für Gina und Paola Lombroso die Großmutter Zefora Levi, die als Vorbilder gesellschaftlichen Engagements und weiblichen Selbstbewusstseins fungierten.5 Der Einsatz dieser jüngeren Aktivistinnen in der italienischen Frauenbewegung wurde so zum Ausdruck einer doppelten Zugehörigkeit, der Identifizierung mit dem italienisch-nationalen wie dem jüdisch-familiären Kontext.
Prominente italienisch-jüdische Familien wie die Rosselli, die Orvieto und die Lombroso stützten und charakterisierten aufgrund der Aneignung bürgerlicher Werte und Verhaltensweisen den gesellschaftlichen Integrationsprozess, hielten aber gleichzeitig ihre jüdische Identität aufgrund der bewussten Weiterführung familiärer Traditionen und Verflechtungen aufrecht, insbesondere durch Heiraten, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Beziehungen.6 Die Subkultur, von der David Sorkin für den deutsch-jüdischen Kontext spricht, war im italienischen Fall hauptsächlich in den Familienverbänden verortet.7 Durch den kreativen Gebrauch der Mehrheitskultur entstand hier ein eigenständiges System von Ideen und Symbolen, das zur Herausbildung komplexer Identitätsformen führte. Die Biografien von Protagonistinnen der frühen italienischen Frauenbewegung sind ein lebendiger Beweis dafür, wie sich jüdische Tradition mit nichtjüdischen bürgerlichen Verhaltensweisen auf unterschiedliche Weise und oft situationsbezogen miteinander verband. Bei den Rosselli und den Lombroso etwa existierte ein Nebeneinander von standesamtlichen Ehen und nach jüdischem Ritus gefeierten Heiraten, in der Familie Orvieto wechselten sich Synagogenbesuche mit Feiern unter dem Weihnachtsbaum ab.8 Zweifellos waren die Grenzen zwischen Subkultur und Mehrheitskultur durchlässig und beweglich, aber immer vorhanden: Auf der einen Seite förderte die Familie, als zentraler Ort auch nichtjüdischen bürgerlichen Ideals,9 den Akkulturationsprozess italienischer Jüdinnen, auf der anderen Seite schuf die ausgeprägte verwandtschaftliche Solidarität und das Festhalten an den aus den Ghettogemeinschaften hervorgegangenen familiären Beziehungen auch geschlossene Räume, in denen Nichtjuden eher selten anzutreffen waren. Die überlieferten Korrespondenzen sind sprechender Beweis für die ausgedehnten Kreise jüdischer Verwandte und Freunde, die einen zentralen Bestandteil der Lebenswelten der Protagonistinnen bildeten. Die Existenz einer säkularen jüdischen Subkultur spiegelt sich im Briefwechsel von Protagonistinnen wie Sara Levi Nathan wider und lässt sich insbesondere auch in den umfangreichen Familienarchiven der Rosselli, Lombroso und Orvieto nachverfolgen.10
Der im 19. und frühen 20. Jahrhundert mit etwa 0,1 % äußerst geringe Anteil von Juden an der italienischen Gesamtbevölkerung verstärkte zusätzlich das Phänomen familiärer Netzwerke und der überregionalen, häufig auch transnationalen Verknüpfung von Familienverbänden.11 Nicht wenige junge Juden und Jüdinnen verließen aus objektivem Mangel an „geeigneten“ Kandidaten und Kandidatinnen ihre Geburtsorte, um auf Wunsch der Eltern standesgemäße Partner bzw. Partnerinnen zu ehelichen.12 Auf diese Weise wurden auch wirtschaftliche Beziehungen zwischen Familien gestärkt und weitergeführt. Die aus Pesaro stammende Pionierin Sara Levi Nathan, die den vermögenden englischen Staatsbürger deutsch-jüdischer Herkunft Moses Meyer Nathan heiratete, steht exemplarisch für diesen Prozess; umgekehrt fand die venezianische Pädagogin Adele Della Vida Levi in dem aus Piemont nach Venedig „zugewanderten“ Textilwarenhändler Mosè Levi einen in den Augen ihrer Familie ebenbürtigen Ehemann.13
Heiraten innerhalb jüdischer Familien bildeten generell eine bedeutende Voraussetzung für die Kontinuität jüdischer Identität, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend von einem religiösen Selbstverständnis löste.14 Dies gilt für die große Mehrheit der Vertreterinnen der frühen italienischen Frauenbewegung: Die meisten von ihnen entfernten sich von der jüdischen Religion, heirateten aber Männer aus jüdischen Familien.15 Während in Italien zwischen 1884 und 1885 knapp ein Viertel der jüdischen Eheschließungen (22,9 %) mit Nichtjuden erfolgten und der Anteil zwischen 1925 und 1934 auf 38,9 % anstieg, waren Mischehen bei den hier thematisierten Akteurinnen kaum anzutreffen.16 Ihre Beteiligung in den überkonfessionellen Institutionen der Frauenbewegung bedeutete in den allerwenigsten Fällen die Aufgabe einer partikularen jüdischen Identität. Trotz eines ausgeprägten laizistischen Selbstverständnisses blieben nicht nur die Pionierinnen Sara Levi Nathan und Adele Della Vida Levi, sondern auch ihre Söhne und Töchter aufgrund von Heiraten in jüdischen Familiennetzwerken verortet. Weitere prominente Beispiele unter den jüngeren Protagonistinnen sind die Mitgründerin und langjährige Vorsitzende der überkonfessionellen, sozialistisch geprägten Mailänder UFN, Nina Rignano Sullam, die den Juden Eugenio Rignano ehelichte, oder die in Florenz wirkende Schriftstellerin Laura Orvieto, geborene Cantoni, die mit ihrem jüdischen Ehemann Angiolo Orvieto sogar verwandt war.17(Abb. 1) Heiraten unter Verwandten, insbesondere Cousins und Cousinen dritten und vierten Grades, stellten generell keine Seltenheit auch innerhalb akkulturierter italienisch-jüdischer Familien dar. Sie waren ein sichtbares Zeichen für die Existenz, Weitergabe und kontinuierliche Neuverhandlung säkularer jüdischer Subkultur.18 Gleichzeitig wurden sie zum Spiegel der auch im nichtjüdische...

Inhaltsverzeichnis

  1. Title Page
  2. Copyright
  3. Contents
  4. Einleitung
  5. 1 Italienisch-jüdische Familienidentitäten und säkulare Subkultur
  6. 2 Biografien zwischen Laizismus und jüdischer Selbstverortung
  7. 3 Emanzipation, Integration und Abgrenzung
  8. 4 La Grande Guerra. Italienische Jüdinnen im Spannungsfeld von Pazifismus, Interventionismus und nationaler Euphorie
  9. 5 Marginalisierung, Entrechtung und Verfolgung. Unter faschistischer Herrschaft
  10. „Le emancipate“? Italienische Jüdinnen zwischen Risorgimento und Faschismus
  11. Summary
  12. Abbildungsnachweise
  13. Abkürzungsverzeichnis
  14. Register