1 Einleitung
Der typische Beitrag eines Historikers zur Diskussion eines systematischen Problems besteht im Nachweis von dessen Historizität. In diesem Sinne wird im vorliegenden Aufsatz versucht, einige mit der Frage, ob Musik „nicht nur eine Textur, sondern ein Text“1 sei, zusammenhängende Probleme einer interdisziplinären Diskussion zugänglich zu machen, zugleich aber auch die historische Bedingtheit dieser Frage zu verdeutlichen. Dazu wird ein vorneuzeitliches Kapitel der Vorgeschichte des hier nicht zum ersten Mal erörterten Themas aus diskursgeschichtlicher, begriffsgeschichtlicher2 und mediengeschichtlicher Perspektive neu in den Blick genommen.3
Unter ‘Textlichkeit’ soll dabei die „Gesamtheit aller Eigenschaften, die einen Text zum Text machen“4 verstanden werden. Darüber, welche Eigenschaften das sind, ist zurzeit ein Streit im Gange. Die Gesamtheit dieser Eigenschaften entspricht der Menge der Merkmale, die den Bedeutungsinhalt (die Intention) des Begriffes ‘Text’ ausmachen und somit dessen Bedeutungsumfang (seine Extension) festlegen. Textlichkeit bleibt demnach solange ein prekäres Attribut von Musik, solange die Grenzen des Textbegriffs problematisch sind.
Der Streit darüber, was ein bestimmtes Medium zu einem Text macht, lässt sich auch am Medium Musik austragen, aber an diesem einen Medium nicht entscheiden. Statt die Antwort auf die Frage, ob Musik ein Text sei, vom Ausgang eines Streitfalls abhängig zu machen, zu dessen Beilegung er nicht beitragen kann, wendet sich der vorliegende Beitrag den Bedingungen der Möglichkeit zu, diese Frage überhaupt zu stellen. Sie hat sich ja nicht immer schon gestellt. Und das liegt nicht darin begründet, dass Kulturen der Vergangenheit, die wir als ‘Textkulturen’5 auffassen, der Begriff des Textes unbekannt war, sondern weil ihnen der Gedanke selbst fernlag, Texturen nicht-sprachlicher Klänge optimistisch Eigenschaften zuzuschreiben und Leistungen zuzutrauen, die Eigenschaften sprachlicher Lauttexturen gleichen und an deren Leistungen heranreichen; Gleiches gilt für den Impuls, nicht-sprachliche Klänge lesbar oder auch nur sichtbar machen zu wollen. Auch solche Klangformen, die vergangenen Kulturen als Träger religiöser Zuschreibungen oder als eminente Wissensgegenstände teuer waren, haben sie dem Zustand ungebrochener Klanglichkeit und ungestörter Unsichtbarkeit niemals ohne Anlass entfremdet. Worin dieser Anlass bestand, ist freilich nicht immer evident. Deshalb gilt es, wenn eine Kultur beginnt, diesen vertrauten Zustand eines nicht-sprachlichen klanglichen Mediums in Frage zu stellen und durch Vertextlichung und Verschriftlichung des Mediums aufzuheben, den - politischen, gesellschaftlichen oder ideologischen - Störfaktor zu ermitteln, der den Medienwechsel ausgelöst hat. Dabei muss - wenn auf aktuelle Forschungspositionen der Mediensemantik Bezug genommen werden soll - nicht davon ausgegangen werden, durch die Explikation und Transkription eines nicht-sprachlichen klanglichen Mediums ‘als Text’ werde ein diesen intermedialen Bezugnahmen vorgängiger, sozusagen medientranszendenter Zustand des Mediums nachträglich verändert.6 Zumal es gerade im Hinblick auf die historische Dimension der Bezugnahmen nur darauf ankommt, wieweit durch sie bestimmte ‘Eigenschaften’ eines Mediums von Gegenständen impliziten, ‘stillen’ Wissens in Gegenstände eines expliziten, geschichtsträchtigen Wissens verwandelt wurden und welche geschichtlichen Folgen diese Verwandlung nach sich zog.7
Im ersten Teil des Beitrags wird die Frage nach der Textlichkeit von Musik in jener Form umrissen, in der sie sich uns heute stellt. Im zweiten Teil wird ein im 9. Jahrhundert einsetzender Diskurs identifiziert, der nicht über Musik geführt wurde, in dessen Thema sich aber so etwas wie eine historische Präfiguration des modernen Themas ‘Musik als Text’ ausmachen lässt. Zugleich wird ein im Rahmen dieses Diskurses ausgearbeitetes Denkmodell rekonstruiert, das als ‘Karolingisches Modell melodischer Textlichkeit’ bezeichnet werden soll. Ziel seiner Rekonstruktion wird sein, das alteritäre Denkmodell als eine, wenn nicht als die diskursgeschichtliche Bedingung der Möglichkeit einer späteren Ausbildung der Denkform ‘Musik als Text’ wahrscheinlich zu machen.
Wenn ein von Theoretikern des 9. Jahrhunderts ausgearbeitetes Denkmodell von medienwissenschaftlichen Forschungspositionen aus beleuchtet wird, geschieht das selbstredend nicht, um es als rudimentären, allenfalls historisch signifikanten Versuch erscheinen zu lassen, sich an Probleme heranzutasten, die die moderne Medienwissenschaft inzwischen überzeugender gelöst hat. Im Gegenteil mag man einen Vorzug des vormodernen Textlichkeitsmodells darin sehen, dass es unbelastet von Problemen entwickelt wurde, die sich aufwerfen, seit problematisch ist, was einen Text ‘zum Text macht’.
2 Konturen des modernen Problems
2.1 ‘Notenschrift’, ‘Notenlesen’, ‘Notentext’
Lassen sich im Medium Musik Texte bilden, die sprachlichen Texten in systematisch relevanter Hinsicht gleichen? Die Bedenkenlosigkeit, mit der wir Ausdrücke wie ‘Notenschrift’, ‘Notenlesen’ oder ‘Notentext’ verwenden, Töne als ‘Noten’ bezeichnen und statt von einem Klangtext von einem nach den Zeichen der Notenschrift benannten Notentext sprechen, legt diese Frage nahe, ohne sie zu erledigen; denn die theoretische Begründung einer positiven (oder negativen) Antwort nimmt uns der vorbegriffliche Gebrauch solcher Ausdrücke ja nicht ab.
Die Ausdrücke ‘Notenschrift’ und ‘Notenlesen’ bekunden den Anspruch eines klangbezogenen Zeichensystems, als eine Form von Schrift zu gelten, ohne das daran geknüpfte Versprechen der Lesbarkeit von Musik einlösen zu müssen; dass wir ‘Ton’ und ‘Note’ synonym verwenden, unterstreicht, wie eng die Vorstellungen ‘Notentext’ und ‘Notenschrift’ beieinander liegen, ohne anzuzeigen, ob der Notentext zurecht als eine Art von Text, Notenschrift zurecht als eine Art von Schrift bezeichnet wird; und ein aus dem Ausdruck ‘Notentext’ allein abgeleiteter Anspruch von Musik auf Textlichkeit würde erhoben, ohne dass ersichtlich wäre, mit welchen Implikationen dieser tatsächlichen oder vermeintlichen Eigenschaft ernsthaft gerechnet wird: Beglaubigt sie die Sprachähnlichkeit von Musik? Gewährleistet sie ihre Schreibbarkeit und Lesbarkeit? Relativiert sie ihre Klanglichkeit und Zeitlichkeit, indem sie eine Klangkunst zur Produktion vom Erklingen unabhängiger, eine Zeitkunst zur Produktion der Zeit entwundener Werke ermächtigt? Sichert sie dem Komponisten dieser Werke den Status eines Autors? Ermöglicht sie dem Medium Musik, nicht nur ‘Präsenzeffekte’, sondern auch ‘Sinneffekte’ zu produzieren?8 Erlegt sie Verbindungen von Klängen, die keine sprachlichen, ja nicht einmal immer stimmliche Laute sind, eine Bezeichnungsleistung auf, die an die Leistung sprachlicher Lautverbindungen heranreicht? Verbürgt sie die Verstehbarkeit von Äußerungen im Medium Musik? Bedingt sie die Auslegungsbedürftigkeit ihrer Werke? Treten, mit anderen Worten, im notenschriftlich festgehaltenen Notentext, wie es beim schriftlich stillgestellten sprachlichen Text der Fall ist, Geschriebenes und Gemeintes einander gegenüber?
Als der Musiktheoretiker Hugo Riemann im 19. Jahrhundert kanonische Musikwerke der Vergangenheit ergänzt durch Angaben zu ihrer sinngerechten Aufführung herausgab, wollte er seine Zusätze nicht als Eingriff in den Notentext der Werke, sondern als deren musikalischen Sinn erschließende Kommentare verstanden wissen, die den gleichen Zweck erfüllen „wie die Kommentare schwer verständlicher Dichtungen: die Wege z...