Sprache, Wissen und Gesellschaft
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Sprache, Wissen und Gesellschaft

Eine EinfĂŒhrung in die Linguistik des Deutschen

  1. 313 Seiten
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Sprache, Wissen und Gesellschaft

Eine EinfĂŒhrung in die Linguistik des Deutschen

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Über dieses Buch

Das EinfĂŒhrungsbuch beschreibt die deutsche Sprache in allen Dimensionen und RĂ€ngen unter der Leitfrage, wie Sprache, Wissen, und Handeln zusammenhĂ€ngen und mit der kulturellen und sozialen Gemeinschaft verwoben sind. Es greift den aktuellen empirischen und theoretischen Forschungsstand zur deutschen Sprache auf und stellt ihn in Form eines Lesebuchs dar Die gebrauchsbasierte und soziokognitive Beschreibungsperspektive ist in der aktuellen sprachwissenschaftlichen Forschung ein zentrales Paradigma. Hier dient sie erstmals als Grundlage einer linguistischen EinfĂŒhrung in die deutsche Sprache. Im Vordergrund steht dabei der Bezug zur eigenen Sprachverwendung der Leserinnen und Leser. Die EinfĂŒhrung regt dazu an, die zentrale Rolle der Sprache fĂŒr den Menschen zu verstehen und das weitere Studium der Linguistik fĂŒr die eigenstĂ€ndige Erkundung der vielfĂ€ltigen ZusammenhĂ€nge, in denen Sprache steht, zu nutzen. Das geschieht aus einer klaren linguistischen Haltung heraus, aber durchgehend an den Sachverhalten orientiert und terminologisch nicht einer einzelnen linguistischen Schule verpflichtet.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783110699074

1 Sprachlichkeit als kulturelle Basis des Menschen

1.1 Der Wandel von Kooperationsformen und die Entstehung von Kultur — 1
1.2 Menschliche Sprache als spezifisches Zeichensystem — 6
1.3 Der Spracherwerb des Kindes als Teil seiner kognitiven und sozialen Entwicklung — 13
Die KomplexitĂ€t der menschlichen Sprache – und damit aller menschlicher Einzelsprachen – setzt eine besondere DenkfĂ€higkeit voraus, die uns auch von intelligenten Primaten noch deutlich unterscheidet. Menschliches Denken ist umgekehrt eng verwoben mit SprachfĂ€higkeit, und beides wiederum nicht zu trennen von den besonderen Kooperationsformen, die unsere Kultur entwickelt hat. Die These ist also: Menschsein, Gesellschaftlichkeit, Sprache und Geist sind nicht zu trennen. Sie bedingen einander und das lĂ€sst sich ĂŒber den ganzen Verlaufsprozess der historischen Entwicklung verfolgen. JĂŒrgen Habermas hat diesen Gedanken sehr prĂ€gnant ausgedrĂŒckt: „Erst in der Öffentlichkeit einer Sprachgemeinschaft entwickelt sich das Naturwesen zugleich zum Individuum und zum denkenden Menschen.“ (2001: 65)
Das folgende Kapitel wird den fĂŒr unsere menschliche Eigenart kennzeichnenden Zusammenhang zwischen Sprache, Denken und SozialitĂ€t aus drei Perspektiven beleuchten. Die phylogenetische Perspektive verfolgt die Entwicklung von Sprache aus dem Blickwinkel der Evolution des Menschen (1.1). Der zweite Teil widmet sich der Frage, wie Sprache als spezifischer Typ eines mĂ€chtigen Systems von Symbolen beschrieben werden kann (1.2). Der dritte Abschnitt verfolgt die Verbindung von Menschsein und Sprache unter dem ontogenetischen Blickwinkel: Hier geht es um die Frage, wie das einzelne menschliche Kind Sprache erwirbt, welche FĂ€higkeiten dabei vorausgesetzt sind und welche neuen Möglichkeiten es dadurch andererseits hinzugewinnt (1.3).

1.1 Der Wandel von Kooperationsformen und die Entstehung von Kultur

Direkte Zeugnisse zu den UrsprĂŒngen von Sprache beim modernen Menschen sind uns nicht zugĂ€nglich. Allerdings ist die Entwicklung des menschlichen Zusammenlebens durch Ausgrabungen erforscht worden, die auch auf die Evolution der Sprache RĂŒckschlĂŒsse zulassen. So interpretieren Anthropologen z. B. aufwĂ€ndige GrabstĂ€tten als Beleg fĂŒr eine entwickelte Kultur, die mythische Vorstellungen zu einem Leben nach dem Tod pflegt – und diese Tradition von Generation zu Generation weitergibt. Das ist ein Prozess, der ohne Sprache kaum vorstellbar ist (vgl. MĂŒller 1997). Andere wichtige Indizien fĂŒr den Beginn einer Sprache sind die Zunahme des Gehirnvolumens, das aufgrund jeweils gefundener SchĂ€del errechnet werden kann; oder die Absenkung des Kehlkopfs, die Voraussetzung dafĂŒr war, dass frĂŒhe Menschen – anders als andere Primaten – die ganze Palette menschlicher Sprachlaute produzieren konnten. Auf der Basis solcher Ergebnisse wird geschĂ€tzt, dass die Entwicklung einer menschlichen Sprache vor ca. 120.000 Jahren begonnen haben könnte. Erste schriftliche Symbolverwendungen in Höhlenzeichnungen werden dagegen deutlich jĂŒnger datiert; sie liegen nur ca. 40.000 Jahre zurĂŒck.
Im Vergleich selbst zu „nahen Verwandten”, v. a. den großen Primaten wie Schimpansen und Orang-Utans, hat sich die Intelligenz der Menschen in dieser Zeit in unvergleichbarer Weise weiterentwickelt. Wie ist das zu erklĂ€ren? Anthropologen haben auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage bei beiden Spezies die spezifischen KommunikationsfĂ€higkeiten untersucht (vgl. Tomasello 2011; 2014). Sie können auf der Basis ihrer Ergebnisse inzwischen eine nachvollziehbare Hypothese fĂŒr einen wahrscheinlichen Verlauf vorschlagen. Danach haben sich die Unterschiede in Bezug auf Kooperationsformen, Sprache und DenkfĂ€higkeit wĂ€hrend eines langen Zeitraums in zwei großen Entwicklungsschritten herausgebildet.
Der erste Schritt ergab sich aus der Notwendigkeit, bei der Nahrungssuche zu zweit oder in kleinen Gruppen zusammenzuarbeiten. Dadurch mussten die frĂŒhen Menschen Möglichkeiten der Kooperation mit anderen erfinden, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Gemeinsame Ziele sind mit gemeinsamer Aufmerksamkeit in der jeweils geteilten Situation verbunden – das ist die Keimzelle geteilter IntentionalitĂ€t, die nach dieser gut gestĂŒtzten Hypothese allen Weiterentwicklungen von Kultur zugrunde liegt. Zur Koordinierung der Perspektiven z. B. bei der Jagd wurden zunĂ€chst in kleinen Gruppen natĂŒrliche Gesten des Zeigens verwendet, vielleicht auch Pantomime – damit sind die AnfĂ€nge symbolischer Kommunikation gelegt (vgl. unten 1.2). Auch in dieser Phase ist es beim Kommunizieren bereits erforderlich, AbschĂ€tzungen der Relevanz der jeweiligen Gesten vorzunehmen und das vom Partner konkret Gemeinte muss jeweils vor einem Hintergrund gemeinsamen Wissens aktiv erschlossen werden – das ist bereits diesen frĂŒhen Formen mit der spĂ€teren, ausgebauten Sprache gemeinsam.
Ein zweiter Schritt ergab sich mit dem GrĂ¶ĂŸerwerden der zusammenlebenden Gruppen, die in der Folge auch miteinander konkurrierten. So entstand ein Gruppenleben mit einer ĂŒber lĂ€ngere Zeit geteilten Gemeinschaft der zugehörigen Menschen, die immer mehr auch ein Bewusstsein dieser Gemeinsamkeit ausbildeten – also eine Kultur. Ihre Kultur stĂŒtzte sich jeweils auf einen Hintergrund von kollektiv anerkannten Konventionen, Normen und schließlich auch Institutionen. Wesentlicher Teil dieser Entwicklung war die Entstehung sprachlicher Kommunikation.
Searle (2004) entwirft zur Illustration dafĂŒr, wie sich soziale Institutionen entwickeln, das anschauliche Beispiel einer frĂŒhen Gemeinschaft, die um ihre Behausungen einen Wall baut – um Feinde fernzuhalten und die Mitglieder am Ort zu halten. Diese SteinanhĂ€ufung hat ihre Barriere-Funktion zunĂ€chst dank physischer Eigenschaften: Es wĂ€re einfach anstrengend, sie zu ĂŒberwinden. Wir können uns aber leicht vorstellen, dass der Wall im Verlauf der Zeit allmĂ€hlich verfĂ€llt – bis nur noch ein paar Steine in einer Reihe ĂŒbrigbleiben. Es könnte durchaus sein, dass die Bewohner diese Reste des Walls nicht anders behandeln als den ursprĂŒnglichen Wall – also seine Funktion respektieren, diese Linie als Grenze anzusehen und nicht zu ĂŒberschreiten. Damit ist ein entscheidender Schritt getan: Der Wall erfĂŒllt jetzt seine Funktion dadurch, dass die Bewohner ihn in eben dieser Rolle akzeptieren. Sie erkennen an, dass er einen spezifischen Status besitzt – und dass an diesen Status eine gewisse Funktion gekoppelt ist. Searle nennt diese Funktionen „Statusfunktionen“ und sagt darĂŒber (Searle 2004: 151): „Ich glaube, dass dieser Schritt, der Schritt von der physikalischen Beschaffenheit hin zur kollektiven Akzeptanz einer Statusfunktion, die grundlegende begriffliche Struktur hinter institutioneller Wirklichkeit bildet.“
Ein Beispiel fĂŒr die Macht dieses Prozesses in der modernen Welt ist Geld. Anders als bei anderen GegenstĂ€nden (z. B. Badewannen oder Messern) kann es seine Funktion nicht aufgrund seiner physikalischen Beschaffenheit ausĂŒben. So war selbst zu der Zeit, als Geld noch aus Gold oder Silber gemacht wurde, der Wert der einzelnen MĂŒnze eine erst durch entsprechende PrĂ€gung verliehene Funktion. Aber sie basierte in diesem Fall noch auf dem tatsĂ€chlichen Wert des fĂŒr die MĂŒnze verwendeten Materials. Das Papiergeld der Moderne hat sich davon vollkommen gelöst: „Der Schein hat als Ware keinen Wert, und er hat als Vertrag keinen Wert; es ist ein reiner Fall von Statusfunktion.” (Searle 2004: 153).
Solche Prozesse der Symbolisierung – wo sich also Menschen verabreden, dass etwas fĂŒr etwas Anderes stehen soll – liegen auch der Sprache zugrunde. Wir kommen darauf in 1.2 zurĂŒck.
Sprachlichkeit und die Entwicklung des Denkens
Nach der oben dargestellten Hypothese ist vor allem die Teilhabe an geteilter, in spĂ€teren Phasen der Evolution auch kollektiver IntentionalitĂ€t der Ursprung fĂŒr besondere Denkprozesse, die den Menschen im Verlauf der Jahrtausende so verĂ€ndert haben. Es ist damit der soziale Aspekt des Denkens, der der Macht dieser Entwicklung zugrunde liegt. Diese neuen Möglichkeiten umfassen vor allem die symbolische und damit gleichzeitig perspektivische ReprĂ€sentation von Erfahrung – indem sprachliche Zeichen als Stellvertreter fĂŒr ein bestimmtes PhĂ€nomen in der Sprachgemeinschaft geteilt werden, enthalten sie auf diese Weise eine intersubjektiv vermittelte Fassung und eine besondere Sichtweise. Dazu schreibt Tomasello (2002: 126):
Der zentrale theoretische Punkt ist, dass sprachliche Symbole die unzĂ€hligen Weisen der intersubjektiven Auslegung der Welt verkörpern, die in einer Kultur ĂŒber einen historischen Zeitraum hinweg akkumuliert wurden; und der Erwerb des konventionellen Gebrauchs dieser symbolischen Artefakte, und damit die Verinnerlichung dieser Auslegungen, verwandelt die Eigenart der kognitiven ReprĂ€sentationen von Kindern grundlegend.
Menschen können also mithilfe der Sprache ihre Erfahrung anders verarbeiten, als sie es sonst tun wĂŒrden: Sie sind beim Miteinander-Sprechen immer wieder neu veranlasst, ihr Denken aus der Perspektive des Anderen bzw. der Anderen zu betrachten.
Mit dieser Perspektivierung ist ein weiterer zentraler Aspekt verbunden: Sprache erlaubt, Verschiedenes unter einen „Nenner“ zu bringen – also Kategorien zu bilden, indem jeweils ein BĂŒndel von Eigenschaften der Gemeinsamkeit zugrunde gelegt wird, andere Eigenschaften des konkreten Gegenstands dagegen nicht beachtet werden. Wenn wir von Autos reden, unterscheiden wir nicht zwischen Cabrios und Lastwagen, erwarten aber von beiden, dass sie fahren und dabei mindestens Personen befördern können.
Kategorienbildung erfolgt also nicht nur auf der Basis wahrnehmbarer Unterschiede (Äpfel schmecken anders als Tomaten und sehen auch anders aus), sondern auch aufgrund von Unterschieden, die wir ĂŒber unser Wissen erschließen mĂŒssen. Ihre (RĂŒck-)Wirkung auf unser Denken zeigt sich in der FĂ€higkeit, abstrakte Gemeinsamkeiten und Analogien zu entdecken und Hierarchien zu entwickeln (wir kommen darauf zurĂŒck; vgl. v. a. Kap. 3 und 10).
Einige allgemeinere Charakteristika menschlicher Sprache
Die FĂ€higkeit zu einer ausgebauten Sprache ist also dem Menschen vorbehalten – die FĂ€higkeit zur Kommunikation mit Artgenossen nicht: auch Bienen und Zebras, Delphine und Ameisen verstĂ€ndigen sich untereinander. Solche Kommunikationssysteme werden von vielen Tierarten verwendet und zeigen erstaunliche Eigenschaften. So können Bienen ĂŒber den sogenannten SchwĂ€nzeltanz eine Futterquelle nicht nur in Bezug auf Flugrichtung und Entfernung, sondern auch auf die Art und Ergiebigkeit des Futters charakterisieren. Sie geben diese Informationen im „Tanz“ ĂŒber genetisch festgelegte Bewegungen und GerĂ€usche an die anderen Sammlerinnen weiter. Das ist zwar auch ein komplexer Prozess der Kommunikation ĂŒber Zeichen, er unterscheidet sich aber doch deutlich von einer Sprache im engeren Sinn. Um diesen Unterschied deutlich zu machen, wird der folgende Abschnitt zunĂ€chst drei allgemeine Eigenschaften menschlicher Sprache vorstellen, ĂŒber die die Kommunikationssysteme der Tiere (soweit wir bisher wissen) nicht verfĂŒgen. Vor diesem Hintergrund gehen wir dann auf die Organisation dieses Systems von spezifischen Zeichen ein, die diese Eigenschaften möglich macht.
Versetzung
Mitteilungen auch der kommunikativsten Vier- oder Mehrbeiner beziehen sich immer auf die aktuell gegebene Situation, das „Hier-und-jetzt”. Das Miauen unserer Katze kann vielleicht verschiedene Botschaften andeuten, die wir mit der Zeit sogar unterscheiden lernen, z. B. Hunger, Freiheitsdrang oder Schmerz. Aber sein Bezugspunkt wird immer die aktuell miteinander geteilte Situation sein. Bei der RĂŒckkehr von ihrem nĂ€chtlichen Streifzug wird sie nichts davon mitteilen können, „wie es gewesen ist”. Wenn ich dem Hund „sitz!” befehle, wird er es verstehen; aber nicht, dass diese Anweisung erst fĂŒr die bevorstehende Busfahrt gelten soll. Botschaften in der menschlichen Sprache dagegen können sich nicht nur auf andere, auch weit entfernte Orte beziehen – sie können solche Orte sogar fĂŒr unser geistiges Auge erst entstehen lassen. Diesen Prozess, der durch die Sprache möglich wird, nennen wir Versetzung. Sie ermöglicht, vergangene oder zukĂŒnftige Ereignisse mit der gleichen Leichtigkeit zu beschreiben wie solche in der Gegenwart. Mit der menschlichen Sprache können dank dieser Eigenschaft auch fiktive Situationen erschaffen werden, ihre Botschaften umfassen also potentiell ein ganzes Universum möglicher Welten. Sie ist dafĂŒr eingerichtet, VorstellungsrĂ€ume zu entwerfen, die ganz neue, bisher nicht gekannte Eigenschaften haben, und so unsere bisherigen Vorstellungen zu erweitern oder zu weiteren Phantasien anzuregen.
Kulturelle Übertragung
Die Haarfarbe oder die Form der Augenbrauen erben wir von unseren Eltern – die Sprache nicht. Jedes Menschenkind kann durch sein Aufwachsen in der entsprechenden Kultur jede menschliche Sprache erwerben. Das nennen wir kulturelle Übertragung. Wird z. B. ein Kind japanischer Eltern von einer Familie in Australien adoptiert, wird es im Prinzip problemlos australisches Englisch als Muttersprache lernen. Die Signale, die Tiere in der Kommunikation verwenden, werden im Grundsatz dagegen mit der genetischen Information weitergegeben – auch ein in eine andere Gemeinschaft adoptierter Hund wird als Geste der Freundlichkeit mit dem Schwanz wedeln.
ProduktivitÀt
Eine gemeinsame Eigenschaft aller Sprachen ist, dass in ihnen ununterbrochen neue, bisher nie verwendete Äußerungen produziert werden. Schon Kinder mit einem noch sehr begrenzten Wortschatz bilden daraus je nach Bedarf in kreativer Weise ihre jeweils ganz eigenen SĂ€tze. Auch beim Bilden neuer Wörter verstehen sie schnell, welche Prinzipien dafĂŒr in ihrer Sprache vorgesehen sind und machen sie sich fĂŒr neue Formen zunutze – nicht nur fĂŒr Äußerungen, die sie schon gehört haben. Menschliche Sprache setzt keine Grenzen des Ausdrucks, sondern lĂ€dt dazu ein, aus zunĂ€chst einfachen Elementen immer neue, komplexere Einheiten zu komponieren. Sie ist also produktiv. Wir kommen im nĂ€chsten Abschnitt darauf zurĂŒck, ĂŒber welche Eigenschaften der sprachlichen Zeichen das im Einzelnen möglich wird.
Signalsysteme der Tiere sind dagegen auf ein festes und beschrĂ€nktes Repertoire festgelegt und mit einer „fixen Referenz” versehen: einem Signal entspricht in der Regel genau eine Funktion. So gibt es bei den Schwarzstirn-Springaffen einen Ruf, der vor Schlangen warnt und einen, der einen Raubvogel ankĂŒndigt. Neue Signale sind typischerweise nicht vorgesehen.
Die ProduktivitĂ€t der Sprachbenutzung von Menschen zeigt sich nicht nur in Bezug auf die Differenziertheit und Hörerspezifik beim Zuschneiden der Information – sie zeigt sich auch in der Vielfalt der Sprechhandlungen, die wir gegenĂŒber unseren GesprĂ€chspartnern Ă€ußern können (vgl. Kap. 11). WĂ€hrend Menschenaffen ihre absichtlichen, gelernten Gesten ausschließlich dazu einsetzen, Handlungen von anderen einzufordern, können wir z. B. eine eigene Handlung rĂŒckblickend bedauern oder zur BegrĂŒndung eine Geschichte erzĂ€hlen, Selbstkritik ĂŒben und ein Versöhnungsangebot machen.

1.2 Menschliche Sprache als spezifisches Zeichensystem

Allen Zeichen gemeinsam ist ihre Eigenschaft, Stellvertreter zu sein: Ein Zeichen steht fĂŒr etwas Anderes. Es ersetzt dieses „Andere” temporĂ€r oder dauerhaft – und ermöglicht damit ganz verschiedene Verwendungen dieser Verweisfunktion: Soll unser Mitbewohner etwas Wichtiges nicht vergessen, könnten wir einen Zettel schreiben, aber auch ein physisches Zeichen erfinden, um an diesen GedĂ€chtnisinhalt zu erinnern, z. B. den Einkaufskorb auf den KĂŒchentisch stellen.
Die Wissenschaft, die sich mit Zeichen allgemein und den Prozessen ihrer Verwendung beschĂ€ftigt, ist die Semiotik. Wir können an dieser Stelle ihre Perspektive nutzen, um das Funktionieren von Wörtern transparenter zu machen. Wörter (und genaugenommen auch Morpheme, dazu Kap. 6) sind die sprachlichen Zeichen par excellence, indem sie als „Stellvertreter” fĂŒr konkrete oder abstrakte Konzepte aufgefasst werden können. Ihre spezifischen Eigenschaften treten deutlicher hervor, wenn wir sie im Vergleich zu anderen Zeichentypen betrachten. Bei der Beschreibung von sprachlichen Einheiten als Zeichen ist ein Modell ganz besonders erfolgreich angewendet worden, das der amerikanische Philosoph Charles Saunders Peirce (1839–1914) eingefĂŒhrt hat: Ordnet man die Zeichen nach der Art der VerknĂŒpfung zwischen Zeichen und Bezeichnetem, lassen sich drei Typen von Relationen unterscheiden – indexikalische, ikonische und symbolische Zeichenrelationen.
Die wichtigste, weil grundlegendste Zeichenrelation ist die indexikalische: Hier stehen Zeichen und Bezeichnetes in einer „natĂŒrlichen” Beziehung, die gleichzeitig obligatorisch ist, weil sie auf einer Grund-Folge-Relation beruht. Fieber erkennt man an (oder auch: es steht fĂŒr) erhöhte(r) Temperatur, Regen an nasser Straße und Feuer an der RauchsĂ€ule am Horizont. Es ist bei nĂ€herem Hinsehen schwierig, eine auf diese Weise definierte Gruppe von Zeichen ĂŒberhaupt noch z...

Inhaltsverzeichnis

  1. Title Page
  2. Copyright
  3. Contents
  4. Zu diesem Buch
  5. Hinweise zur Notation
  6. 1 Sprachlichkeit als kulturelle Basis des Menschen
  7. 2 Perspektiven auf Sprache
  8. 3 Wissen und Sprache
  9. 4 Sprechen und Hören
  10. 5 Schreiben und Lesen
  11. 6 Wortschatz und Wortbildungskompetenz: Wörter verwenden, verĂ€ndern und erfinden
  12. 7 Vom Wort zum Satz
  13. 8 SĂ€tze, Gedanken und TheaterbĂŒhnen
  14. 9 Text – von außen, von innen & in Zukunft
  15. 10 Bedeutung in der Sprache: stabil, flexibel, kreativ
  16. 11 Sprachliches Handeln, Interaktion und GesprĂ€ch
  17. 12 Gesellschaft
  18. Verzeichnis der Abbildungen
  19. Verzeichnis der Tabellen
  20. Sachregister