Familiale Ressourcen für den Erwerb von Argumentationskompetenz
Quantitative Befunde zur sprachlich bedingten Bildungsbenachteiligung
Abstract
Das vorliegende Kapitel betrachtet die Entwicklung der Argumentationskompetenz als einer Schlüsselkompetenz für Lernerfolg im Verlauf der Sekundarstufe I. Die Fragen nach der Abhängigkeit dieser komplexen sprachlichen Fähigkeit von der sozialen Herkunft sowie die nach den Wirkmechanismen dieser Abhängigkeit stehen dabei im Mittelpunkt. Auf der Grundlage einer breit angelegten quantitativen Längsschnittstudie unter Beteiligung von ca. 1400 Schülerinnen und Schülern und deren Eltern konnten unter Nutzung z. T. eigens entwickelter Instrumente Erkenntnisse generiert werden, die wesentlich zum Abbau sozial bedingter Bildungsbenachteiligung beitragen dürften. So konnte die Relevanz von Argumentationskompetenz für schulische Leistungen nachgewiesen und bestätigt werden, dass sich Argumentationskompetenz und ihre Teilkomponenten von der 6. zur 9. Klasse weiterentwickeln. V. a. konnte gezeigt werden, dass für die (Weiter-)Entwicklung argumentativer Kompetenzen Bedingungen in der Familie relevant sind, die auf eher nicht intentional bereitgestellte informelle Lerngelegenheiten in der Eltern-Kind-Interaktion abheben.
1 Einführung und Fragestellung
Unstrittig ist, dass schulische Leistungen und Bildungsabschlüsse Heranwachsender weltweit, aber hierzulande besonders eng mit sozioökonomischen Bedingungen zusammenhängen (zusammenfassend: Ehmke & Baumert 2008; Baumert, Stanat & Watermann 2006; Conger & Donnellan 2007). Dessen ungeachtet ist der Kenntnisstand über die hiesigen am Zustandekommen primärer sozialer Ungleichheit beteiligten Prozesse unbefriedigend, weil er sich aus weitgehend unverbundenen Forschungslinien speist: Während in der Unterrichtsforschung vorwiegend schulische Determinanten der Lern- und Leistungsentwicklung untersucht werden, stehen im Zentrum der entwicklungspsychologisch ausgerichteten Sozialisationsforschung Unterschiede im sozialen und kulturellen Kapital von Familien unterschiedlicher Milieus, Schichten oder Ethnien im Zentrum, die vorwiegend in ihrer Bedeutung für die psychosoziale Anpassung junger Menschen untersucht werden. Bildungswissenschaftlich fundierte Forschungen wenden sich zwar der Rolle der sozialen Herkunft beim Bildungserfolg zu, fokussieren aber oft auf Faktoren des Bildungssystems wie Übertrittsentscheidungen oder Schulformen (Maaz et al. 2007).
Obwohl spätestens seit der Wahrnehmung der multilingualen Realität in unseren Klassenzimmern (Gogolin 1994) ebenfalls unbestritten ist, dass sprachliche Kompetenzen für Bildungserfolge und gesellschaftliche Teilhabe essentiell sind (Weis et al. 2019; Becker-Mrotzek et al. 2013; Harren 2015), mangelt es immer noch an sprachwissenschaftlich fundierten und gleichzeitig quantitativ belastbaren Studien, die die Rolle von sprachlichen Kompetenzen, insbesondere im Mündlichen, bei Bildungsbenachteiligungen differenziert beleuchten (Redder, Tracy & Naumann 2015) und damit einen theoriefundierten Zusammenhang zwischen ökonomischen und schulischen Variablen herstellen könnten. Das dürfte wesentlich daran liegen, dass größere interdisziplinäre Studien unter Beteiligung der Sprachwissenschaft erst in jüngster Zeit systematisch gefordert und gefördert werden.1
Soziolinguistische Forschungen liefern seit Langem Erklärungen für den Zusammenhang zwischen Sprachverhalten und sozialer Schicht (Bernstein 1987; Collins 1988; Labov 2006; Eckert 2000; Farr et al. (Hrsg.) 2010; Song, Spier & Tamis-Lemonda 2014). Bildungsbenachteiligung entsteht gemäß einem verbreiteten Erklärungsmuster durch eine mangelnde Passung zwischen mitgebrachten sprachlichen Praktiken und schulischen Erwartungen (Heller, Morek & Quasthoff in diesem Band; zsf. Steinig 2016). Studien dieser Art liefern zwar Erklärungen für einen zentralen Mechanismus sprachbedingter Benachteiligungen, sind allerdings oft quantitativ nicht hinreichend substantiiert, um generalisierbar zu sein. Inzwischen verweisen auch quantitativ orientierte pädagogische Studien häufiger auf die Bildungs- und Schulrelevanz von mehr oder weniger reichhaltigen sprachlichen Praktiken, oft gerahmt als Bestandteil des ‚kulturellen Kapitals‘ (Bourdieu 1983), im außerschulischen Sozialisationsprozess (Leseman et al. 2000). Selten jedoch wurden in der Vergangenheit die sprachwissenschaftlichen, sozialisationspsychologischen und psychometrischen Expertisen wirklich interdisziplinär integriert.
Für viele der sprachbezogenen Studien gilt darüber hinaus, dass sie sich in unterschiedlicher theoretischer Verortung immer noch stark auf Unterschiede in den grammatischen und lexikalischen Kompetenzen von Kindern konzentrieren. Dies mag mit der starken Aufmerksamkeit für die sprachbedingten Benachteiligungen mehrsprachiger Kinder zusammenhängen, die den Blick auf die Rolle der Sprache in den Forschungsprozessen wie in einem „Brennglas“ (Gogolin 1994) fokussierte. Kindern, die sich das Deutsche im Rahmen von zweit- oder fremdsprachlichen Erwerbsprozessen aneignen müssen, fehlen in der Tat häufig wesentliche sprachstrukturelle Voraussetzungen für die Beherrschung der Unterrichtssprache Deutsch. Allerdings geriet damit lange Zeit aus dem Blick, dass auch muttersprachliche Kinder manchmal sprachlich nicht hinreichend auf die unterrichtlichen Anforderungen vorbereitet sind, und dass diese Anforderungen weit über Grammatik und Wortschatz hinaus in pragmatische und diskursive Bereiche gehen (Ehlich 2007).
Die zunächst aus eher erziehungswissenschaftlicher Sicht angestoßene Debatte um die Rolle ‚bildungssprachlicher‘ Kompetenzen (Gogolin & Lange 2011; Gogolin & Duarte 2016; Feilke 2013) beim Schulerfolg unterstützt die Relevanz von Forschungen zum Erwerb diskursiver Kompetenzen in der Sekundarstufe I und ihrer Rolle im Unterricht: Neuere Ansätze fassen das Konzept ‚Bildungssprache‘ (vgl. zu diesen und anderen grundlegenden Konzepten das Glossar in diesem Band) nicht mehr ausschließlich i. S. eines situativ geforderten Registers mit bestimmten (grammatischen und lexikalischen) Merkmalen, sondern als komplexe wissensbezogene diskursive Praktik, die insbesondere argumentative Fähigkeiten einschließt (Morek & Heller 2012; 2019; Feilke 2013).
Soweit in der Fokussierung auf Sprachbeherrschung im engen Sinn also disparate Spracherwerbsprozesse als Erklärung für sprachbedingte Bildungsbenachteiligungen in den Blick genommen werden, beziehen sie sich oft nur auf einen Teilbereich sprachlicher Kompetenzen (sprachliches Strukturwissen), der im Wesentlichen zudem in frühen Erwerbsphasen (vor dem bzw. bis zum Schuleintritt) erworben wird. Für spätere Spracherwerbsphasen, die durch den Erwerb von satzübergreifenden Fähigkeiten wie dem Erklären oder Argumentieren (sowie dem Ausbau des (Fach-)Wortschatzes) geprägt sind, gibt es demzufolge wenig belastbares Wissen darüber, ob und ggfs. wie genau sprachlich-kommunikative Praktiken in den Familien zum eingeschränkten Erwerb schulrelevanter Kompetenzen führen (O’Neill et al 2004; Quasthoff & Wild 2014). Neuere qualitative Studien zu Familieninteraktionen in unterschiedlichen Milieus konnten aber bspw. zeigen, dass Argumentieren bei vielen Familien gar nicht zum kommunikativen Repertoire gehört (Heller 2012; Morek 2015).
Gleichzeitig zeigen neuere (linguistische) Ansätze zur Unterrichtskommunikation, z. T. im Zusammenhang mit fachlichem Lernen (Harren 2015, Becker-Mrotzek et al. 2013, Erath 2017; Heller 2015), in welchem Ausmaß Diskurspraktiken wie Erklären und Argumentieren die sprachlichen Unterrichtsprozesse bestimmen. Die auf Grund mangelnder Diskurskompetenz eingeschränkte Teilhabe an den unterrichtlichen Lehr-Lern-Diskursen sollte sich also erwartbar negativ auf den Bildungserfolg auswirken (Quasthoff, Heller & Morek in diesem Band). Die institutionelle (Feilke 2013), epistemisch-fachliche und unterrichtskommunikative (Morek & Heller 2012) Relevanz diskursiver Fähigkeiten für die Partizipation von Schülerinnen und Schülern an unterrichtlichen Lernprozessen (Heller 2017; Prediger et al. 2016) dürfte insbesondere im Fachunterricht der Sekundarstufe I zum Tragen kommen, in der soziale Bildungsungleichheiten weiter zunehmen (Neumann, Becker & Maaz 2014). Insbesondere dem mündlichen und schriftlichen Argumentieren kommt dabei fächerübergreifend eine besondere Rolle zu (Heller 2012; Domenech, Krah & Hollmann 2017).
Bestrebungen zum Abbau von sprachbedingter Bildungsbenachteiligung sollten also nicht nur auf Unterric...