1 Einleitende Bemerkungen zur Applikation literarischer Texte
Am 30. MĂ€rz 1999 war Bernhard Schlink als erster deutscher Schriftsteller in Oprahâs Book Club eingeladen, um mit ausgewĂ€hlten Leserinnen und Lesern ĂŒber seinen Roman Der Vorleser (1995) zu sprechen. Der Roman war 1997 in englischer Ăbersetzung unter dem Titel The Reader publiziert und von Moderatorin Oprah Winfrey, die das GesprĂ€ch leitete, als Buch des Monats ausgewĂ€hlt worden. Als Teil der erfolgreichen Fernsehsendung The Oprah Winfrey Show erreichte die Diskussionsrunde ein Millionenpublikum. In einem GesprĂ€ch, das am 3. April 1999 in der Welt erschien, gab Schlink einen Eindruck davon, worĂŒber die Leser/-innen sich austauschen wollten. Man habe zunĂ€chst darĂŒber geredet,
ob hier sexueller oder emotionaler MiĂbrauch vorliege. Dann kamen wir zu der Frage, ob die Liebesbeziehung zwischen Michael und Hanna nicht doch echt sei. Ob es Kriterien fĂŒr ânormale und gesundeâ Liebesbeziehungen gebe. Weiter kamen wir auf das Problem des Widerstands im Dritten Reich und in totalitĂ€ren Regimen ĂŒberhaupt. Was hĂ€tte man selbst getan? Woraus resultiert Anpassung, wovon lebt Widerstand? Hanna, die sich im Laufe des Romans als KZ-WĂ€rterin entpuppt und die trotzdem nicht einfach ein Monster ist, fĂŒhrte zu der Frage des Dilemmas von Verstehen und Verurteilen. Am Ende der Diskussion sagte Oprah: âThey are usâ, sie sind wie wir â und gerade weil wir die TĂ€ter des Dritten Reiches nicht als Monster weit von uns wegschieben können, sind sie so beunruhigend, bedrohlich.1
Der Journalist, der das GesprĂ€ch mit Schlink fĂŒhrte, kommentierte die in der Diskussionsrunde zum Ausdruck kommende Rezeption literarischer Texte mit den Worten, hier wĂŒrden âBĂŒcher als literarische GebrauchsgegenstĂ€ndeâ verwendet. Das ist zwar latent pejorativ, in der Sache aber durchaus zutreffend. Denn genau das haben die Leser/-innen nach Darstellung von Schlink getan (neben anderen Dingen): Sie haben die im Roman auf eine NS-TĂ€terin entwickelte Sicht als lebensweltlich zutreffend akzeptiert und sind daher zu dem Ergebnis gekommen, dass viele TĂ€ter ânormaleâ Menschen waren â eine Sicht, die sich in dieser Zeit ĂŒbrigens in der Historiographie und bei der populĂ€ren Vermittlung der Geschichte des NS etablierte, nachdem man lange Zeit die Hauptkriegsverbrecher fokussiert hatte. AuĂerdem haben sie verschiedene Sachverhalte, die im Roman geschildert werden, auf sich und ihre Lebenswelt bezogen, etwa wenn die Frage aufgeworfen wurde, wie man selbst sich zu Zeiten der NS-Diktatur oder unter einem anderen totalitĂ€ren Regime verhalten hĂ€tte, oder wenn der Roman Anlass war zu Ăberlegungen, wie es in solchen VerhĂ€ltnissen zu Anpassung und Widerstand kommt. SchlieĂlich haben sie die ungleiche Liebesbeziehung, von welcher im Roman erzĂ€hlt wird, vor dem Hintergrund eigener Ăberzeugungen und Einstellungen zu klassifizieren und zu beurteilen versucht. Anhand dessen kam es zu einem Nachdenken ĂŒber das Wesen von Liebesbeziehungen. Sie haben Schlinks Roman in verschiedenen Hinsichten âgebrauchtâ, âverwendetâ, âangewendetâ oder, wie man etwas treffender sagen kann: Sie haben Gehalte des Romans appliziert.
Applikation ist das Thema der vorliegenden literaturgeschichtlichen Studie, der ersten literaturwissenschaftlichen Arbeit ĂŒberhaupt, in welcher Applikation als auĂerwissenschaftliche Praktik des Umgangs mit Literatur empirisch, das heiĂt hier: quellengestĂŒtzt, untersucht wird.2 âApplikationâ, so lĂ€sst sich in erster AnnĂ€herung sagen, bezeichnet eine TĂ€tigkeit beim Umgang mit Literatur, bei welcher auĂerwissenschaftliche Leser/-innen das Gelesene auf sich selbst, ihre Situation oder die lebensweltlichen Gegebenheiten allgemein beziehen. Das Ergebnis dieser TĂ€tigkeit, welches ebenfalls als âApplikationâ bezeichnet wird, kann darin bestehen, dass die Rezipient/-innen zu neuen Einsichten gelangen oder Ăberzeugungen, die sie haben, modifizieren. Auch ethische Haltungen oder emotionale Einstellungen können durch Applikation gebildet oder verĂ€ndert werden.
Begibt man sich auf die Suche nach Hinweisen auf Applikationen in Rezeptionszeugnissen, dann wird man schnell fĂŒndig. Im Vorgriff auf den Untersuchungsteil der Arbeit können davon ausgewĂ€hlte Beispiele zu den neun Romanen aus vier Jahrhunderten einen Eindruck geben, deren Erstrezeption zur Zeit des Erscheinens der Texte fĂŒr die vorliegende Studie untersucht wurde.
Christian Friedrich von Blankenburg war 1775 der Auffassung, Johann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werthers (1774) verdeutlichten, wie manche Menschen in der RealitĂ€t tatsĂ€chlich sind. Anhand der Figur des Protagonisten könne man âWerthersche Charaktere kennen, richtig beurtheilen; und ĂŒber die VerhĂ€ltnisse zwischen Menschen und ihren ZufĂ€llen, und den gegenseitigen EinfluĂ von Begebenheiten und Charakter, und das Werden und Wachsen aller unsrer Neigungen denken lernenâ.3 Und er fuhr fort: âSo glauben wir, daĂ man ĂŒberhaupt die Werke der Dichter lesen, und anwenden mĂŒsse.â4 Blankenburg hat nicht allein beschrieben, was im Roman Werthers Handeln motiviert, wie âCharakterâ, âBegebenheitenâ und âZufĂ€lle[]â das Figurenhandeln bestimmen. Er hielt das Geschilderte fĂŒr lebensweltlich zutreffend und generalisierbar. Es gibt, so meinte er, âWerthersche Charaktereâ. Der Roman sei geeignet, Einblicke in deren Psyche zu geben, sie richtig zu beurteilen und letztlich, wie er an anderer Stelle in seiner Abhandlung ĂŒber den Roman deutlich macht, eine von Mitleid geprĂ€gte Haltung zu solchen Mitmenschen nahezulegen. AuĂerdem wies er diesem Roman und literarischen Texten allgemein die FĂ€higkeit zu, GefĂŒhle zu kultivieren und zum richtigen Umgang mit ihnen anzuleiten. Blankenburg schrieb: âBeytrĂ€ge zur richtigen Ausbildung und Lenkung der Empfindungen, könnt ihr aus Dichtern am gewissesten, und allein aus ihnen erhaltenâ.5 Das ist, wie in der besagten Schrift deutlich wird, die âAnwendungâ oder genauer: die Anwendungen, welche er empfiehlt â und es sind genuine Applikationen dessen, was seiner Auffassung zufolge im Roman geschildert wird.
FĂŒr Christian Friedrich Daniel Schubart war Johann Martin Millers Siegwart. Eine Klostergeschichte (1776) nicht etwa Anlass zu trĂ€nenseliger Empfindelei, vielmehr vermittelte der Roman in seiner Wahrnehmung ein Liebesideal, das man sich zu eigen machen konnte: âDas MĂ€dgen und das gefĂŒhlvolle Weib sieht in dieser Geschichte, wie sie seyn muĂ, wenn sie einen Kronhelm oder Siegwart finden, und an seiner Brust ein Engelleben fĂŒhren will.â6 Schubart ist nicht bei Aussagen darĂŒber stehen geblieben, wovon der Roman handelt. In der Tat ist die Liebe der beiden Protagonisten, Siegwart und Kronhelm, das zentrale Thema des Romans, welches in vielfĂ€ltiger Weise und unter Einsatz verschiedener Darstellungstechniken entwickelt wird. Er hat die im Roman dargelegte Liebeskonzeption so aufgefasst, dass sie lebensweltlich realisierbar und wĂŒnschenswert ist. AuĂerdem empfahl er deren lebenspraktische Umsetzung. Schubart wies das Publikum also auf eine Möglichkeit hin, den Roman zu applizieren.
August Lafontaines Klara du Plessis und Klairant. Eine Familiengeschichte Französischer Emigrierten (1794, vordatiert auf 1795) weist eine Beschaffenheit auf, die es plausibel erscheinen lĂ€sst, dass der Roman zeitgenössisch eine Applikation ermöglichte, welche der Autor an anderer Stelle programmatisch umrissen hat. Der Roman als Gattung, so meinte Lafontaine in einer Vorrede, sei âeine Schule der Selbstkenntnis, eine Moral in Beispielen, und wie die Sachen jetzt liegen, beinahe die einzige Schule wenigstens fĂŒr das weibliche Geschlechtâ.7 Jungen Frauen solle der Roman den angemessenen Umgang mit GefĂŒhlen der Liebe zeigen. Betrachtet man die Art und Weise, wie in Klara du Plessis und Klairant ĂŒber Liebe geredet und wie der Umgang mit ihr gezeigt wird, dann kann man den Eindruck gewinnen, dass der Text recht gut zu dieser Beschreibung passt. Festzuhalten ist jedenfalls, dass es auf Seiten der Leserinnen der Applikation bedurfte, um die Funktion zu realisieren, welche der Autor fĂŒr Romane in Anspruch nahm. Sie mussten den im Roman dargestellten Umgang mit Liebe als realisierbar, ratsam und richtig ansehen und sich zu eigen machen.
Applikationen sind allerdings nicht allein bei der Rezeption solcher empfindsamen Romane zu beobachten, sie mögen Briefromane (Werther), Entwicklungsromane (Siegwart) oder Zeitromane (Klara du Plessis und Klairant) sein. Sie sind nicht auf eine Epoche beschrĂ€nkt, in welcher die vorherrschende Literaturkonzeption Praktiken wie der Applikation vielleicht besonders gĂŒnstig war. Die Rezeption von Romanen in der Zeit der literarischen Moderne zum Beispiel lĂ€sst ebenfalls RĂŒckschlĂŒsse auf das Vorkommen von Applikationen zu. Gabriele Reuters vielgelesener und kontrovers diskutierter Entwicklungsroman Aus guter Familie. Leidensgeschichte eines MĂ€dchens (1895) schildert, wie eine preuĂische Beamtentochter daran scheitert, Hausfrau und Mutter zu werden und somit den ihr gesellschaftlich vorgeschriebenen Weg zu gehen, den sie selbst internalisiert hat. Der Roman wurde rasch mit der Frauenbewegung in Verbindung gebracht und als Beitrag zur sogenannten âMĂ€dchenfrageâ aufgefasst, worunter man das in den Augen der Zeitgenossen drĂ€ngende Problem verstand, wie unverheiratete bĂŒrgerliche Frauen angemessen leben konnten. Bereits diese grobe Beschreibung zeigt, dass der Roman appliziert wurde.
In einer der ersten Rezensionen hieĂ es, der Roman könne âden Erfolg haben, daĂ Einer oder der Andere an der Vollkommenheit der Normen zu zweifeln beginnt, welche âConvention und Sitteâ der Entwicklung der menschlichen und speciell der weiblichen IndividualitĂ€t gesetzt hatâ.8 Hier geht es nicht um die Textwelt, sondern um die Lebenswelt: Das im Roman Dargestellte soll zu einer kritischen Sicht auf die realen Gegebenheiten anleiten. Das Publikum soll seine Einstellungen zu herrschenden Konventionen und Normen Ă€ndern: â[W]er dieses Kunstwerk mit dem richtigen Begreifen genossen hat, der wird seine Consequenzen selbst zu ziehen wissen.â Man soll das Gelesene auf die herrschenden VerhĂ€ltnisse und auf die eigenen Ăberzeugungen anwenden, so die Empfehlung dieser Rezension. In einer anderen Rezension wurde festgestellt, dass der Roman die âganze innerlich verkommene Existenz eines MĂ€dchens der âguten Gesellschaftââ schildere.9 Die Rezensentin hielt es fĂŒr relevant, das im Roman ĂŒber das Innenleben der Protagonistin Gesagte dahingehend zu verstehen, dass es auf die reale Welt bezogen werden kann: Es gibt Menschen, die so sind, wie die Protagonistin; es ist fĂŒr den Umgang mit dem Roman relevant, einen solchen Bezug herzustellen. In dieser Hinsicht soll das Publikum das Gelesene applizieren. Das Publikum soll aber, so die Rezensentin, auch zu weiterreichenden Einsichten gelangen, nĂ€mlich, dass die Erziehung von MĂ€dchen und jungen Frauen aus dem BĂŒrgertum fundamental verĂ€ndert werden muss: âUnd die Hilfe gegen solch inneres Verkommen? Pflichten, Verantwortung, geistige und körperliche Arbeit, Fortentwicklung, ein lebenswertes Leben statt des leeren TĂ€ndelns â alles das, was man den jungen MĂ€dchen vorenthĂ€lt. Das ist das ernste Motto, das unsichtbar auf dem gelben Umschlag des Buches steht. Entwicklung!â10 Auch das ist eine Applikation des Gelesenen.
Man könnte nun meinen, dass es vielleicht nicht ĂŒberraschend sei, wenn Romane, die zeitgenössische MissstĂ€nde problematisieren, Applikationen veranlassen. Ein in dieser Hinsicht gĂ€nzlich unmarkierter Familienroman wie Thomas Manns Buddenbrooks (1901) konnte gleichfalls Anlass sein fĂŒr Applikationen. Der Roman, so hieĂ es in einer der ersten Rezensionen, stelle âdas Lebenâ dar, genauer: âdas grausame Lebenâ, wie der Autor es sehe, nĂ€mlich âals ein unentrinnbares VerhĂ€ngnis armer, schuldloser, meist lĂ€cherlicher Menschenâ.11 Eine solche Auffassung stimmt, wohl nicht zufĂ€llig, mit einer Selbstaussage des Autors ĂŒberein. In einem Brief von 1902, in welchem er sich unter anderem ĂŒber seinen Roman Ă€uĂerte, schrieb Mann: â[D]as Leben selbst ist dumm und brutal, und das Leben hat immer recht und nicht Diejenigen, welche zu schwach und zu gut dafĂŒr sindâ.12 Wenn im Roman eine bestimmte Sicht auf âdas Lebenâ dargeboten wird, dann ist das zunĂ€chst eine Sache der Perspektive und Perspektivensteuerung. Die Sicht korrekt zu identifizieren, ist eine Sache des Textverstehens. Anzunehmen, dass es eine realweltlich zutreffende Schilderung ist, die man sich zu eigen machen kann, ist eine Sache der Applikation.
Ăhnlich dominant wie bei Reuter war die Applikation bei der Erstrezeption von Erich Maria Remarques Kriegsroman Im Westen nichts Neues (1929). Sie wird kaum verstĂ€ndlich, wenn man nicht berĂŒcksichtigt, dass insbesondere zwei Themen von Belang waren. Zum einen ging es darum, ob der Roman eine wahre, ausgewogene und authentische Darstellung bestimmter Aspekte des Kriegsgeschehens an der Westfront bot. Zum anderen ging es darum, welche Sicht darauf vermittelt wird, eine pazifistische oder (aus heutiger Wahrnehmung ĂŒberraschend) eine bellizistische, und wie das zu bewerten sei. Weder das eine noch das andere ist möglich, ohne den Roman auf Erfahrungen und Ăberzeugungen sowie moralische Einstellungen zu beziehen und folglich zu applizieren. Der Autor wollte nach eigener Auskunft den Kriegsteilnehmern seiner Generation lebenspraktische Hilfe geben und bei anderen VerstĂ€ndnis fĂŒr ihre Schwierigkeiten im Nachkriegsalltag wecken, die lange nach dem Ende der Kampfhandlungen noch anhielten. In beiden FĂ€llen beinhaltete eine erfolgreiche Realisierung der Absicht eine Applikation des im Roman Geschilderten.
Applikationen lassen sich nicht nur in frĂŒheren Zeiten ausmachen, sondern auch bei der Rezeption literarischer Texte der Gegenwart. In einer Rezension, die 2018 auf der Internet-Plattform LovelyBooks erschien, meinte ein Nutzer, der Patrick SĂŒskinds historischen Roman Das Parfum (1985) bewertete, es sei â[e]in Buch mit vielen Facetten ĂŒber praktizierten Faschismusâ und darin âtopaktuellâ.13 Welche AufschlĂŒsse es im Einzelnen sind, die sich der Nutzer von dem Buch verspricht, lĂ€sst er offen. Allerdings kann festgestellt werden, dass sie das Ergebnis einer Applikation des Romans sind. BezĂŒge zum NS hatte bereits Marcel Reich-Ranicki in seiner Rezension des Romans hergestellt, die 1985 in der FAZ erschien. Er verstand die Geschichte als âGleichnisâ, insofern sie die âkaum zu begreifende[] Wirkung eines widerlichen und verabscheuungswĂŒrdigen Verbrechers auf ein zivilisiertes Volk inmitten Europasâ einsichtig mache.14 Damit der Roman dies leisten kann, muss das Publikum das Gelesene applizieren. In Verbindung mit Wissen ĂŒber den NS, ĂŒber welches die Leser/-innen verfĂŒgen, muss es Einsichten ermöglichen in die Genese und Wirkung von Herrschaft in einem totalitĂ€ren System.
Schlinks zur VĂ€terliteratur zu zĂ€hlender Vorleser wurde in einer Rezension, die 2016 bei LovelyBooks eingestellt wurde, als Aufforderung begriffen, sich mit verschiedenen Fragen zu beschĂ€ftigen, die auf die Zeit des NS bezogen sind und auf die Auseinandersetzung damit in der Zeit danach: âMan kommt nicht umhin, sich wĂ€hrend des Lesens mit ganz unterschiedlichen Fragen zu beschĂ€ftigen, wie zum Beispiel: Wer hat Schuld? Wie mĂŒssen wir, als âKinderâ des Krieges, mit dieser Schuld umgehen? Wie kann aus einer KZ-Aufseherin so ein Mensch wie Hanna werden und umgekehrt?â15 Derartige Fragen werden im Roman aufgeworfen oder zumindest angedeutet. Wenn sie fĂŒr die Nutzerin Anlass sind, in Auseinandersetzung mit dem Roman eine bestimmte Haltung zum Umgang mit den NS-Verbrechen einzunehmen und eine bestimmte Sicht auf die TĂ€ter zu entwickeln, dann appliziert sie den Text.
Eine Nutzerin, die 2011 bei LovelyBooks Daniel Kehlmanns historischen Roman Die Vermessung der Welt (2005) rezensierte, meinte, er betreibe âWissenschaftskritikâ und biete âEntzauberung deutscher Intelligenz und Gesellschaftskritikâ.16 Sofern sie sich diese in ihrer Wahrnehmung von dem Roman angebotene Perspektive zu eigen macht, aber auch, wenn sie sie als unzutreffend ablehnt, hat sie den Roman (positiv oder negativ) appliziert, weil sie das im Roman Geschilderte in Relation gesetzt hat zu ihren Ăberzeugungen und Einstellungen.
Die vorliegende Arbeit stellt die Ergebnisse einer Untersuchung der Erstrezeption der neun genannten Romane vor â von Goethe, Miller und Lafontaine (Kap. 3), Reuter, Mann und Remarque (Kap. 4), SĂŒskind, Schlink und Kehlmann (Kap. 5). Eine Vielzahl von Rezeptionsdokumenten wurde ausgewertet mit Blick auf die Frage, ob die Zeitgenossen den Roman applizierten, wie sie ihn applizierten, wozu und warum. Davon geben die eben erwĂ€hnten Beispiele einen ersten Eindruck. Es ging dabei nicht darum, Applikationen vorzunehmen, sondern darum, Applikationen zu anal...