Kritische Fallstudien zum Verhalten in Organisationen
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Kritische Fallstudien zum Verhalten in Organisationen

  1. 210 Seiten
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Kritische Fallstudien zum Verhalten in Organisationen

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Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

Obwohl Fallstudien zu den bewĂ€hrtesten Lehr- und Lernmethoden in den Sozialwissenschaften gehören, sind sie im deutschsprachigen Raum immer noch selten zu finden. Dieses Buch bietet eine Reihe von Fallstudien aus dem Bereich organisationales Verhalten und Personalmanagement zu folgenden Themen: Arbeits- und Aufgabengestaltungen (Bore-out, Arbeitsverdichtung, Vertrauensarbeitszeit); Ungerechtigkeit und Benachteiligung am Arbeitsplatz (in Bezug auf Bezahlung, auslĂ€ndische Angestellte, BeschĂ€ftigungsstatus); Mobbing und sexuelle BelĂ€stigung; destruktive FĂŒhrung; UnfĂ€lle in Organisationen.

Die Fallstudien wurden von Studierenden erarbeitet und gehen zum Teil auf ihre eigenen Arbeitserfahrungen zurĂŒck. Dabei werden problematische Aspekte der Arbeitserfahrungen in den Fokus gestellt und/oder aus Sicht einer kritischen Theorieperspektive analysiert. Das Buch bietet den Lehrenden eine Möglichkeit, ihre-Veranstaltungen praxisnah und interaktiv zu gestalten. FĂŒr die Studierenden wird hier ein Einblick in das Arbeitsleben gewĂ€hrt und anhand von gelieferten Beispielen der vielbeschworene, aber nicht einfach zu vermittelnde Praxis-Theorie-Bezug veranschaulicht.

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Information

1 Verhalten in Organisationen und kritische Fallstudien: eine Einleitung

Irma Rybnikova
Anna Fornfeist

1.1 Zusammenfassung

Dieses Kapitel leitet in das Buch ein und gibt eine erste Orientierung ĂŒber seine Entstehungsgeschichte sowie die daraus resultierenden Besonderheiten. Es wird als ein Projekt des „forschenden Lernens“ vorgestellt, bei dem die Studierenden von den Herausgeberinnen angeleitet wurden, ihre eigenen Fallstudien zum Verhalten in Organisationen zu entwickeln und sich dabei in die ausgewĂ€hlten Themen zu vertiefen. Der Fokus der Fallstudien liegt auf kritischen, also problembehafteten Themen, angefangen bei der misslungenen Arbeitsgestaltung, ĂŒber die Ungerechtigkeit und Ungleichbehandlung am Arbeitsplatz bis hin zu UnfĂ€llen in Organisationen. Der kritische Bezug schlĂ€gt sich auch in der theoretischen Analyse der Fallstudien nieder, die des Öfteren auf Machttheorien zurĂŒckgreifen, um das Erlebte in Organisationen zu erklĂ€ren, wie z. B. die RessourcenabhĂ€ngigkeitstheorie oder Theorie der destruktiven FĂŒhrung. Dieses Buch ist nicht nur als Antwort auf den Mangel an Fallstudien im Bereich Personalmanagement und Verhalten in Organisationen entstanden, sondern knĂŒpft auch an bisherige AnsĂ€tze der reflexiven Hochschullehre an, welche darauf abzielt, die persönlichen Erfahrungen der Lernenden als Quelle fĂŒr den Erkenntnisgewinn im Managementbereich fruchtbar zu nutzen. Eine kurze Vorstellung der Inhalte der Fallstudien sowie entsprechende Nutzungsempfehlungen fĂŒr die Fallstudien in der Hochschullehre bilden den letzten Teil dieses einleitenden Kapitels.

1.2 Entstehungsgeschichte des Buches

Das vorliegende Buch könnte „Fallstudienhandbuch“ heißen, enthĂ€lt es doch ausschließlich Fallstudien. Und doch heißt es anders. Im Unterschied zu manch anderen Fallstudien, die im Bereich Personalmanagement und Organisation bereits existieren (z. B. Domsch, Regnet & von Rosenstiel, 2018; Böhmer, Schinnenburg & Steinert, 2012) wurden diese von den Studierenden entwickelt. An der Hochschule Hamm-Lippstadt haben die Studierenden im Rahmen der Seminare zu Personalmanagement im Bachelorstudiengang Betriebswirtschaftslehre keine Fallstudien analysiert, die sie bereits vorgefunden haben, sondern eigenstĂ€ndig die Fallstudien als ihre PrĂŒfungsleistung verfasst und erarbeitet.
Das Buch umfasst das Ergebnis der Leistungen im Sommersemester 2018 und 2019. Damals hießen die Seminare noch kryptisch „Seminar Personalmanagement und Organisation B“. Als eine frisch an die Hochschule berufene Professorin fĂŒr Personalmanagement hat Irma nach geeigneten Fallstudien aus dem Bereich hĂ€nderingend gesucht, neidisch auf die LehrbĂŒcher und Fallstudien aus dem angelsĂ€chsischen Raum schielend, in denen Fallstudien ĂŒberaus hĂ€ufig zu finden und einfach zu nutzen waren. Im deutschsprachigen Raum hingegen war sie kaum fĂŒndig geworden. Entweder waren die Fallstudien nur vereinzelt in verschiedenen LehrbĂŒchern zu finden oder aber viel zu umfangreich, um sie in den Lehrveranstaltungen sinnvoll einzusetzen.
In dieser akuten didaktischen Not lag nichts nĂ€her, als die Studierenden nicht mehr als Ursache des Problems, sondern als die Quelle der Lösung zu erkennen. DafĂŒr sprach auch die ĂŒberaus ĂŒbliche und meist kritisch bewertete aktuelle Praxis des faktischen Teilzeitstudiums: Gerade an den Hochschulen stellt das Studium nicht die alleinige HaupttĂ€tigkeit dar, meist studieren die Lernenden neben einem oder gar mehreren studentischen Jobs. Auch der Umstand, dass ein großer Teil der Studierenden im Vorfeld des Studiums eine Ausbildung absolviert hatte, sprach fĂŒr zahlreiche Praxiserfahrungen, die die Studierenden bereits mitbrachten. Und mit dem Personalmanagement und Verhalten in Organisationen sammelt wirklich jede und jeder ihre oder seine Erfahrungen, sobald sie oder er spĂ€testens einer geringfĂŒgigen TĂ€tigkeit nachgeht.
Im angelsĂ€chsischen Raum ist es ĂŒblich, dass die Professor(innen)en sich zum Schreiben einer Fallstudie von ihrer Lehre befreien lassen und arbeiten – weiterhin bezahlt und nahezu frei von anderen Verpflichtungen – monatelang an einem einzigen Fall. Die hier enthaltenen Fallstudien sind ebenfalls innerhalb von mehreren Monaten entstanden, um genau zu sein innerhalb von vier Monaten. Lediglich haben weder die Studierenden noch wir als ihre Betreuerinnen das Privileg genossen, sich von den anderen Verpflichtungen zu befreien. Entsprechend kĂŒrzer fallen diese Fallstudien aus. Vielen von den Fallstudien wĂŒrde eine ausfĂŒhrlichere Recherche möglicherweise guttun. Und doch stellen diese Fallstudien in vielerlei Hinsicht ein bemerkenswertes Ergebnis dar. Sie sind dabei nicht nur ein Beispiel fĂŒr selbstreflexives, forschendes Lernen an den Hochschulen im Bereich Personalmanagement. Sie bringen auch eine kritische Perspektive auf das Verhalten in Organisationen zum Ausdruck, eine Perspektive, die in den bisherigen deutschsprachigen LehrbĂŒchern fĂŒr Personalmanagement selten vertreten ist.

1.3 Fallstudien als Lehr- und Lernmethode

Die AnfĂ€nge von Fallstudien als Lehrmethode an Hochschulen gehen zurĂŒck bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. An der Harvard Law School (USA) wurden erstmals reelle RechtsfĂ€lle fĂŒr die Ausbildung angehender Juristinnen und Juristen herangezogen. Wenig spĂ€ter wurde diese Methode an der Harvard Business School eingesetzt und trat damit ihren Siegeszug durch die weltweiten Studienprogramme in den Wirtschaftswissenschaften an. Seither gehören Fallstudien zu einem mehr oder weniger festen Bestandteil der Managementausbildung und des wirtschaftswissenschaftlichen Studiums. Als besonderer Vorteil der Fallstudien gegenĂŒber manch anderer Lehrmethoden gilt deren Praxisbezug, der eine hohe RealitĂ€tsnĂ€he gewĂ€hrleistet und damit eine praxisbezogene Vorbereitung auf den Beruf ermöglicht. Von großer lernfördernder Relevanz ist zudem der Umstand, dass in den Fallstudien Probleme in ihrer fast vollumfĂ€nglichen KomplexitĂ€t dargestellt werden. Mitunter fĂŒhrt das zu einer beachtlichen LĂ€nge der Schilderungen. Vor allem sorgt es aber dafĂŒr, dass keine eindeutigen Lösungen fĂŒr die FĂ€lle in Frage kommen. Eine Ungewissheit ĂŒber den Ausgang wohnt allen Fallstudien gewissermaßen inne. Das entspricht ganz und gar nicht der Vorstellung vom scholastischen Lernen, dessen Ergebnisse am effizientesten durch die „Multiple-Choice-Klausuren“ abzufragen sind, was – gefĂŒhlt – in zahlreichen wirtschaftswissenschaftlichen Studienprogrammen Einzug gehalten hat. Im Gegensatz dazu besteht das didaktische Ziel der Fallstudien vielmehr darin, ein reflektiertes Lernen zu ermöglichen: Lernen, welches nicht nur das Wissen vermittelt, sondern Erkenntnisse ermöglicht sowie das Nachdenken ĂŒber das Lernergebnis unterstĂŒtzt.
In der gegenwĂ€rtigen hochgradig volatilen Wirtschaftsumwelt werden von den Hochschulabsolvent(innen)en nicht nur die Fachkompetenzen, sondern vielmehr derartige ReflexionsfĂ€higkeiten erwartet. Es ist daher wenig verwunderlich, dass Fallstudien durchaus stark in verschiedenen Bereichen der Betriebswirtschaftslehre eingesetzt werden, wie z. B. in der Logistik, Finanzwissenschaften oder Organisationslehre. Deren Einsatz in der Hochschullehre ist lediglich meist darauf beschrĂ€nkt, dass die Lehrenden, und nicht die Lernenden, diese Fallstudien recherchieren, in den seltenen FĂ€llen diese selbst verfassen und fĂŒr bestimmte Lehrthemen einsetzen. Den Studierenden bleibt nicht allzu viel ĂŒbrig, als die vorgegebenen Fallstudien zu konsumieren, d. h. diese zu lesen und zu diskutieren.
Im Unterschied hierzu sind die hier dargestellten Fallstudien entstanden, indem den Studierenden eine viel aktivere Rolle zugewiesen wurde: Die ursprĂŒnglichen Konsument(innen)en sollten nun selbst zu Produzent(innen)en von Fallstudien werden. Bislang ĂŒberwiegt in der Managementlehre die Überzeugung, dass das Entwickeln und Schreiben von Fallstudien zu den fordernden TĂ€tigkeiten gehört. Sie setzt vielfĂ€ltige Expertise und ProfessionalitĂ€t voraus, ist also ungeeignet fĂŒr Autodidakt(innen)en oder AnfĂ€nger/-innen. Nicht selten verabschieden sich die Professor(innen)en vor allem im angloamerikanischen Hochschulraum von ihren Lehrpflichten in ein sogenanntes Forschungssemester, um ungestört an einer neuen Fallstudie zu arbeiten. Dieser tayloristisch anmutenden Aufgabenteilung zwischen den Dozierenden und den Studierenden in der Hochschullehre haben wir in den von uns organisierten Seminaren eine Abkehr erteilt. Die Entwicklung einer Fallstudie haben wir zur PrĂŒfungsleistung erklĂ€rt und damit den Studierenden eine aktive Rolle im Lehrgeschehen auferlegt, aber nicht aufgezwungen: Die Studierenden hatten die Wahl, sich fĂŒr eines der zahlreichen Parallelseminare zu entscheiden. Zugleich haben wir die Entwicklung einer Fallstudie als hochgradig geeignet angesehen, die Kompetenzziele des Moduls zu erreichen. Zu denen gehörte laut dem Modulhandbuch das Gewinnen von praktischen Einblicken in das Personalmanagement und die Organisation, das Kennenlernen der KomplexitĂ€t der Problemstellungen sowie das Beziehen des theoretischen Wissens auf praktische Situationen mit dem Ziel, theoretisch begrĂŒndete Lösungen abzuleiten.
Auf diese Art wagten wir einen Demokratieversuch in der Hochschullehre der Wirtschaftswissenschaften. Wir erklĂ€rten Studierende nicht zu passiven EmpfĂ€nger(innen)n des fĂŒr sie zunĂ€chst fremden, von uns aufoktroyierten Wissens, sondern zu Mitgestaltenden des zu erarbeitenden Wissens. Damit haben wir in Anlehnung an demokratische Organisationen (z. B. Dörre, 2015; Oestereich & Schröder, 2017) das Prinzip der Lehre auf Augenhöhe umzusetzen versucht: Studierende und Lehrende begegneten sich im Zuge der Entwicklung der Fallstudien als Kolleg(innen)en oder Genoss(innen)en der Erkenntnisse ĂŒber das Verhalten in Organisationen und haben nach ĂŒberzeugenden Argumenten fĂŒr die nachvollziehbare Darstellung der VorfĂ€lle gesucht sowie fĂŒr eine geeignete ErklĂ€rung aus der Theorieperspektive. Gewiss bleibt dieser Versuch arg beschrĂ€nkt und illusorisch, solange die Rahmenbedingungen es verlangen, dass nur die Lehrenden die Noten vergeben und diese verantworten. Eine Revolution in der Hochschullehre der Wirtschaftswissenschaften musste also ausbleiben.
Aber zumindest rĂŒckte diese Umkehr oder Umgestaltung des ĂŒblichen Lernprozesses den von uns praktizierten Ansatz in die NĂ€he des forschenden Lernens heran. Darunter wird im Allgemeinen die Integration von Lehre und Forschung verstanden, um durch die Lernleistung einen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn zu erzielen (Bogdanow & Kauf‌feld, 2019). Die Studierenden werden hierbei angehalten, die verschiedenen Einzelphasen des Forschungsprozesses, wie die Wahl der Fragestellung, der Methode, die Thesenaufstellung und -prĂŒfung sowie die kritische Reflexion der Ergebnisse, eigenstĂ€ndig zu bestimmen (Huber, 2009). In der Literatur werden verschiedene Einsatzszenarien fĂŒr forschendes Lernen diskutiert, die an unterschiedlichen Forschungsphasen ansetzen, begonnen mit der Themenrecherche, ĂŒber die Bearbeitung von komplexen Aufgabestellungen bis hin zur eigenstĂ€ndigen Erhebung der Daten mit den ausgewĂ€hlten Forschungsmethoden (Bogdanow & Kauf‌feld, 2019).
Obwohl das wirtschaftswissenschaftliche Studium zahlreiche AnknĂŒpfungspunkte fĂŒr forschendes Lernen bietet, werden diese oft kaum umgesetzt. Die GrĂŒnde, die dazu fĂŒhren, sind gewiss vielfĂ€ltig wie ungeklĂ€rt. Ob das auf den dieser Disziplin innewohnenden Konservatismus zurĂŒckzufĂŒhren ist? Oder die tendenziell als Zahlenbringer fĂŒr die Hochschulen geltenden Studienprogramme im Bereich Wirtschaftswissenschaften, die fĂŒr permanent ĂŒberfĂŒllte Leerveranstaltungen und damit wenig FreirĂ€ume fĂŒr neue Lehrinitiativen sorgen, die permanente LehrermĂŒdung und somit eher wenige Initiativen im Bereich forschendes Lernen erklĂ€ren können? Oder die insgesamt stiefmĂŒtterlich behandelten Lehrfragen im Gegensatz zu den weitaus reizvolleren ForschungsbemĂŒhungen im wirtschaftswissenschaftlichen Bereich? Wie dem auch sei, bleiben bisherige Konzepte des reflexiven Lernens in den wirtschaftswissenschaftlichen Studienprogrammen fragmentiert und unsichtbar. Dabei bieten sich nicht nur die Seminare, sondern oft obligatorische oder auch freiwillige Praktika als hervorragende, und doch wenig dafĂŒr genutzte Möglichkeiten fĂŒr forschendes Lernen an der Schnittstelle zwischen der Theorie und der Wirtschaftspraxis an.
Die hier zu prĂ€sentierenden Fallstudien sind hingegen ein Ergebnis eines Experiments mit dem forschenden Lernen in den Wirtschaftswissenschaften, und zwar in Form einer Erarbeitung komplexer Aufgabensituationen, fĂŒr die nicht nur eine einzige Lösung in Frage kommt. Die Entwicklung der Fallstudien ist deswegen als ein Ansatz forschenden Lernens anzusehen, weil hiermit seine wesentlichen Kriterien erfĂŒllt werden. Die Studierenden wĂ€hlen eigenstĂ€ndig das Thema ihrer Analyse und bestimmen selbststĂ€ndig die Strategien fĂŒr das Vorgehen bei der Analyse. Es besteht dabei eine grundsĂ€tzliche Ergebnisoffenheit, insbesondere hinsichtlich der theoriegeleiteten Erkenntnisse zum Thema. Zudem entspricht die Arbeitsweise den wissenschaftlichen Kriterien (Bogdanow & Kauf‌feld, 2019). Zugleich möchten wir an dieser Stelle hervorheben, dass ein solches forschendes Lernen keinesfalls voraussetzungsfrei ist, weder fĂŒr die Studierenden noch fĂŒr die Dozierenden. Auf der Seite der Studierenden setzt das Konzept eine Experimentierlust voraus und den Mut, auch aus IrrtĂŒmern und Sackgassen Erkenntnisgewinne ableiten zu können – eine Neigung und FĂ€higkeit, die im hochgradig verschulten Bildungssystem nicht selbstverstĂ€ndlich ist. Als Dozierende mussten wir erkennen, dass dieser Ansatz auch uns erheblich mehr Zeit und MĂŒhe abverlangt hat als dies in den gewöhnlichen Seminaren der Fall ist. Insbesondere die Zeit und Muße fĂŒr regelmĂ€ĂŸiges, individuelles, bestĂ€rkendes Feedback fĂŒr die Zwischenschritte der Fallstudienentwicklung erwies sich als eine Herausforderung – schlussendlich stellten die Seminare jeweils nur einen kleinen Teil des professoralen Lehrdeputats an einer Hochschule dar.

1.4 Besonderheiten der im Buch versammelten Fallstudien

Das Ergebnis des von uns umgesetzten Ansatzes fĂŒr forschendes Lernen, ohne dass wir es als solches im Vorfeld betitelt haben, enthĂ€lt dieses Buch. Die Studierenden wurden gebeten, eine Situation oder einen Fall ausfĂŒhrlich zu beschreiben und aus der Perspektive einer eigens gewĂ€hlten Theorie zu analysieren, nach Möglichkeit auch Lösungen abzuleiten. Daraus gingen einige Besonderheiten der nachfolgend dargestellten Fallstudien hervor, die wir an dieser Stelle kurz reflektieren möchten.
Abgesehen von den Fallstudien zu UnfĂ€llen in Organisationen spiegeln die FĂ€lle hĂ€ufig die privaten Erfahrungen der Studierenden oder Erfahrungen aus ihrem Bekanntenkreis wider, die sie unter AnonymitĂ€tszusicherung aufarbeiten durften. Damit zeichnen sich die Fallstudien durch einen hohen Grad der ReflexivitĂ€t aus. Hier schauen die Studierenden auf die VorfĂ€lle aus einer theoretischen Distanz, versuchen, dem Leben einen theoretischen Sinn abzutrotzen und gar ĂŒber die möglichen Handlungswege in den teilweise schmerzhaften Situationen nachzudenken. Auf diese Art und Weise gewinnen die Studierenden nicht nur realitĂ€tsbezogene Einblicke in Organisationen und erleben buchstĂ€blich den heraufbeschworenen Praxisbezug, sondern werden darĂŒber gewahr, dass scheinbar triviale VorfĂ€lle sehr viel ĂŒber Organisationen aussagen können, wenn man genauer hinschaut.
Zum anderen stellen die Fallstudien eine fruchtbare Sammlung fĂŒr den Theorie-Praxis-Bezug dar. Gerade in den Wirtschaftswissenschaften, die als Disziplin seit ehedem durch Spannungen zwischen dem Anwendungs- und dem Grundlagenwissen gekennzeichnet ist, die sich auch in den Abgrenzungsversuchen zwischen den UniversitĂ€ten und den Hochschulen zeigen, begleitet teilweise von politisch schmerzhaften Auseinandersetzungen, wie beispielsweise dem Promotionsrecht fĂŒr Hochschulen ausgerechnet in Nordrhein-Westfalen. Hochschulen sollten allgemein als rein anwendungsorientierte Ausbildungsorte gelten, UniversitĂ€ten als ausschließlich am theoretischen Wissen ausgerichtete Institutionen. Der Theorie-Praxis-Bezug ist in den Wirtschaftswissenschaften kein triviales Thema. Umso weniger trivial ist es, dass die Studierenden an den Hochschulen (fĂŒr angewandte Wissenschaften) lernen, mit Hilfe der Theorien zu argumentieren. In jeder Fallstudie folgt auf die Beschreibung des Falles eine kurze Darstellung der Theorie, die die Autorin oder der Autor fĂŒr geeignet hielt, den geschilderten Fall zu erklĂ€ren. Warum dieses Beharren auf den Theorien? Weil unserer Meinung nach mit Hilfe der Theorien das Abstrahieren von den EinzelfĂ€llen auf generelle Tendenzen und Probleme in Organisationen am besten gelingt. Weil die Theorien das Leidvolle und das Individuelle der FĂ€lle zu reduzieren vermögen und sie statt einer persönlichen Niederlage eben wie einen Fall unter anderen erscheinen lassen und damit sowohl zur psychischen Milderung, aber auch der wissenschaftlichen Erkenntnis verhelfen.
Die Theorieanwendung ist in den Fallstudien verschieden gelungen, nicht selten stellt sich heraus, dass die gewĂ€hlte Theorie nur sehr partiell der gesamten KomplexitĂ€t des Falles gerecht werden kann. Und doch stellen diese umgesetzten Theorie-Praxis-BezĂŒge mutige und geeignete Beispiele dafĂŒr dar, wie die oft von den Studierenden an den UniversitĂ€ten wie Hochschulen befĂŒrchtete Verbindung zwischen der Theorie und Praxis „geht“. Auch bieten die Fallstudien damit einen anregenden Startpunkt fĂŒr weitere, differenziertere Analysen.
Eine weitere Besonderheit der hier versammelten Fallstudien besteht darin, dass sie alle in irgendeiner Art „kritisch“ sind. „Kritische“ im Sinne von „problematische“ FĂ€lle zu suchen – das war der Auftrag an die Studierenden, um die Praxis in Organisationen nicht nur von ihrer glĂ€nzenden Seite zu betrachten, wie oft in den LehrbĂŒchern der Fall ist, sondern auch die Schattenseiten zu beleuchten. Diese umfassen solche Bereiche, wie Unzufriedenheit der Mitarbeitenden sowie Konflikte und Spannungen jeglicher Art. So haben wir die Studierenden darin bestĂ€rkt, Sachverhalte oder Informationen zu thematisieren, die ĂŒblicherweise unbeachtet, unbekannt oder auch nur ungern angesprochen b...

Inhaltsverzeichnis

  1. Title Page
  2. Copyright
  3. Contents
  4. 1 Verhalten in Organisationen und kritische Fallstudien: eine Einleitung
  5. Teil I Arbeits- und Aufgabengestaltung
  6. Teil II Ungerechtigkeit und Benachteiligung am Arbeitsplatz
  7. Teil III Sexuelle BelĂ€stigung
  8. Teil IV Destruktive FĂŒhrung
  9. Teil V UnfĂ€lle in Organisationen
  10. Stichwortverzeichnis