1 Einleitung
Als C. Iulius Caesar an den Iden des März 44 ermordet wird, liegt seine letzte bedeutende militärische Leistung, die Schlacht von Munda, die den endgültigen Sieg über seine innenpolitischen Feinde im Bürgerkrieg bedeutet, beinahe auf den Tag genau ein Jahr zurück.1 Dass mit dieser Schlacht seine Karriere als Feldherr enden sollte, hat er hingegen nicht geplant. Der Feldzug gegen die Parther, den der dictator perpetuus vorbereitet hatte und den er in wenigen Tagen antreten wollte, findet jedoch nicht mehr statt. Caesars Lebenswerk bleibt unvollendet – nicht nur in politischer, sondern auch in militärischer Hinsicht.
Gleichzeitig bedeuten die Iden des März die Geburtsstunde einer Textsammlung, die ohne Caesars vorzeitigen Tod mit großer Wahrscheinlichkeit nicht existieren würde. Caesars Kanzlei, allen voran Aulus Hirtius, consul designatus für das Jahr 43, macht es sich zur Aufgabe, eine Darstellung aller Kriege „bis zu Caesars Lebensende“ (usque ad exitum … vitae Caesaris, Hirt. Gall. 8, praef. 2) herauszubringen. Zum Zeitpunkt von Caesars Tod sind lediglich sieben commentarii rerum gestarum publiziert; in ihnen hatte der Feldherr den Krieg in Gallien bis zur Unterwerfung des Vercingetorix dargestellt. In Caesars Nachlass findet sich darüber hinaus zwar noch weiteres Material: Auch über den Bürgerkrieg gegen Cn. Pompeius hat Caesar noch commentarii verfasst, ohne sie jedoch zu veröffentlichen – die heutigen drei Bücher de bello civili.2 Doch selbst in dieser Form weist das Projekt beträchtliche Lücken auf. So hat Caesar selbst seinen letzten commentarius nicht etwa mit dem Sieg über Pompeius bei Pharsalos oder dessen Tod in Ägypten enden lassen, sondern damit begonnen, auch die Thronstreitigkeiten im Ptolemäerreich, in die er nach dem (vorläufigen) Ende des Bürgerkriegs verwickelt wurde, darzustellen; doch blieb dieses Buch unvollendet. Mehr noch: Im Jahr 46, kurz bevor Caesar genötigt war, gegen die Pompeiussöhne erneut in den Krieg zu ziehen, hatte er in Rom nicht nur über Gallien und Ägypten, sondern auch über Pontos und Afrika triumphiert. Ein weiterer Triumphzug über Hispanien folgt kurz nach dem endgültigen Sieg. Caesar hat über diese Feldzüge selbst nie geschrieben, doch der Ruhm des Feldherrn als Sieger über die ganze Welt gründet auch auf ihnen. Dass dabei die Auffassung Caesars, gemäß der die gefeierten Siege mit dem Krieg gegen Pompeius Magnus nichts mehr zu tun haben sollten, längst nicht alle in Rom überzeugt,3 mag der Grund dafür sein, warum Caesars Kanzlei die Notwendigkeit einer Gesamtdarstellung dieser Kriege als so dringend empfindet.
Aus der Ergänzungsbedürftigkeit der caesarischen Schriften entsteht jetzt, nach dem Tod des Diktators, das Corpus Caesarianum: Es enthält Texte von unterschiedlicher Machart, mit denen Caesars commentarii zu einer solchen Gesamtdarstellung ausgebaut werden. Das Bellum Alexandrinum (Bell. Alex.), das Bellum Africum (Bell. Afr.) und das Bellum Hispaniense (Bell. Hisp.) behandeln alle Feldzüge Caesars nach Pharsalos. Hirtius selbst schreibt noch ein weiteres Buch über den gallischen Krieg, das die Zeit zwischen der Schlacht von Alesia und der Überschreitung des Rubikons abdeckt – das achte Buch des Bellum Gallicum (Bell. Gall.).
Doch genauso schnell wie diese Gesamtausgabe der Kriege „unseres Caesar“ (Caesaris nostri, Hirt. Gall. 8 praef. 1) publiziert wird, gerät sie auch wieder in Vergessenheit. In der Folgezeit wird die commentarii-Sammlung nur wenig rezipiert.4 Dass sie in der Spätantike eventuell zusammen mit der Vita Divi Iulii Suetons überliefert wurde, könnte erklären, dass im 5. Jahrhundert Orosius kurzerhand letzteren zum Autor des Bell. Gall. macht (vgl. hist. 6,7,2).5 Sidonius Apollinaris hält Cornelius Balbus, den Adressaten der hirtianischen Briefvorrede zum achten Buch des Bell. Gall., für den Verfasser der commentarii (vgl. epist. 9,14,7).6 Seit der Lektüre des Bell. Gall. durch Iulius Celsus Constantinus zu Beginn des 6. Jahrhunderts, die in den subscriptiones der Handschriften dokumentiert ist,7 muss schließlich damit gerechnet werden, dass auch dieser für den Verfasser der Schriften gehalten werden konnte.8 Dies und der Umstand, dass auch die mittelalterliche Überlieferung nicht zwischen ‚echten‘ und ‚unechten‘ Schriften im Corpus unterschied, spricht dafür, dass über die multiple Autorschaft der Texte lange Zeit entweder wenig bekannt war oder dass diese von geringem Interesse war.9
Dies ändert sich in der frühen Neuzeit, als die Beschäftigung der Humanisten mit dem Corpus Caesarianum seine Heterogenität offenbar werden lässt.10 So berichtet Pier Candido Decembrio im Jahr 1423 in einem Brief an den Mailänder Erzbischof Bartolomeo della Capra von einem Handschriftenfund. Der Kodex, der das Corpus Caesarianum enthalte, sei jedoch voller Fehler: Die ersten sieben Bücher des Bell. Gall. würden Iulius Celsus oder Sueton zugeschrieben, das achte Sueton, das Bell. civ. wiederum Celsus oder Sueton. Mit Verweis auf Suetons Caesarvita (Iul. 56) kann Decembrio richtigstellen, dass Bell. Gall. 1–7 und Bell. civ. 1–3 von Caesar stammen, Bell. Gall. 8 von Hirtius und Bell. Alex., Bell. Afr. sowie Bell. Hisp. von unbekannten Autoren, möglicherweise von Oppius oder Hirtius.11 Unabhängig von Decembrio stellt Giuniforte Barzizza (1406–1463) bei seiner Lektüre des Corpus Caesarianum fest, dass Caesar das Bell. Afr. nicht geschrieben haben kann.12
Dass Decembrio zum ersten Mal seit langem den ‚großen‘ Caesar als Verfasser der Mehrzahl der im Corpus Caesarianum versammelten Schriften identifiziert, ist für die weitere Rezeption von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Werden jetzt die ‚unechten‘ Schriften im Corpus untersucht, so geschieht dies meist in vergleichender Perspektive. So schreibt etwa im 16. Jahrhundert Justus Lipsius (Elect. 2,22) zum Bell. Afr.:
Inter libellos qui adiuncti Commentariis Iulianis, unus est De bello Africo: qui, me iudice, non inter illos tantum eminet sed inter pleraque Romana scripta. Ita tersa in eo et ad Comicum morem pura dictio; simplex, cohaerens et candida narratio; nihil quaesiti coloris aut fuci: omnia denique illo ipso Caesare digniora (non tenebo veram vocem) quam Commentarii illi qui feruntur. At neglectus tamen iacuit, immo vix lectus is libellus (adeo hic quoque praeiudicia valent et traditae a magistellis opiniones).
Unter den Büchlein, die Caesars commentarii beigegeben sind, findet sich eines Über den Afrikanischen Krieg, das meines Erachtens nicht nur aus diesen hervorsticht, sondern aus dem Großteil römischer Schriften. So ist in ihm die Sprache geschliffen und nach Art der Komödie rein, die Erzählung einfach, zusammenhängend und klar. Es findet sich nichts von gesuchtem Kolorit oder Aufputz. All das ist schließlich Caesar selbst würdiger (ich werde die Wahrheit nicht verschweigen) als jene commentarii, die allgemein verbreitet sind. Aber dennoch lag es vernachlässigt da, ja dies Büchlein wurde kaum je gelesen (so viel gelten auch hier Vorurteile und die von Oberlehrern verbreiteten Meinungen).
Der Kommentar des Lipsius zeigt, dass das Urteil seiner Zeitgenossen über das Bell. Afr. wenig wohlwollend gewesen zu sein scheint. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Es ist kein ‚echter‘ Caesar. Lipsius versucht sich zwar in einer Rechtfertigung und lobt Stil und Aufbau der Schrift, doch auch bei ihm ändert sich das Beurteilungskriterium nicht: Referenzpunkt für die Bewertung des Bell. Afr. ist und bleibt Caesars Schreiben (omnia denique illo ipso Caesare digniora). Bis ins 21. Jahrhundert sind viele Forschungsbeiträge zu den nicht-caesarischen Schriften im Corpus Caesarianum an die Frage gekoppelt, die sich bereits Lipsius gestellt hat: Ist die Sprache, ist die Stilistik, ist das, was in diesen Schriften zur Darstellung gebracht wird, Caesare dignum, eines Caesar würdig?13
Gegenstand der hier vorgelegten Studie ist die genaue Analyse und anschließende Interpretation aller nicht-caesarischen Schriften, ein Vorhaben, das trotz einiger richtungsweisender Arbeiten in jüngerer Zeit noch als Forschungsdesiderat gelten darf. Welche Darstellungsmittel verwenden die Autoren in ihren Berichten und in welchem Maß treten sie selbst als Erzählerfigur an die Leser heran? Welche Auswahl wird hinsichtlich der erzählten Ereignisse getroffen? Was wird besonders ausführlich oder knapp oder gar nicht erzählt? Wie werden einzelne Ereignisse zu einer Erzählung verknüpft? Und schließlich: Wie lässt sich auf der Basis dieser Beobachtungen die Intention der Texte und ihre Funktion im historischen Kontext rekonstruieren? Diese und ähnliche Fragen sind bisher nur in Ansätzen erforscht.14
Im Gegensatz zu den meisten anderen, auch den neuesten, Beiträgen zum Thema, besteht eine Grundannahme dieser Studie darin, dass eine Analyse der nichtcaesarischen Texte besonders dann einen Erkenntnisgewinn verspricht, wenn sie auf das alte Beurteilungskriterium des Caesare dignum verzichtet, weil das damit unweigerlich implizierte Urteil über die literarische Qualität den Blick auf die Texte eher zu verstellen als zu erhellen droht. Die Analyse sollte vielmehr unter einem Blickwinkel durchgeführt werden, der Abweichungen von den durch Caesar etablierten Schreibkonventionen nicht als Vorzug oder – in der Geschichte der Beschäftigung mit dem Corpus ungleich häufiger – als Defizit wertet, sondern eher als Beleg für die Eigenständigkeit und der sich daraus ergebenden Interpretationsbedürftigkeit der Schriften.15 Dass dieser hiermit postulierte Paradigmenwechsel keineswegs arbiträr, sondern durch die antiken Texte gedeckt ist, soll die hier vorgelegte Deutung jener Briefvorrede, die Hirtius dem achten Buch des Bell. Gall. vorangestellt hat, nachweisen, in der der Briefsprecher angibt, nicht mit Caesar konkurrieren zu wollen. Sie steht daher zu Beginn der Untersuchung (s. Kap. 2).
Wenn man es sich zur Aufgabe macht, die vier Supplemente im Corpus Caesarianum, unter denen sich auch das „schlechteste Stück lateinischer Literatur“16 befindet, als Texte aus eigenem Recht zu untersuchen, tut man gut daran, sich nicht auf eine Diskussion über etwaige literarische Mängel einzulassen. Dieser Anforderung sollte auch das gewählte Analyseinstrumentarium Rechnung tragen. Mit ihrer prinzipiell universalen, wertneutralen und präzisen Terminologie liefert die Narratologie für dieses Vorhaben die besten Voraussetzungen. Denn was etwa Stephan Busch zur Begründung für eine narratologische Analyse des Bell. Gall. vorbringt – „To avoid a premature historical judgement of the Bellum Gallicum, the old quarrel between adversaries and apologetes of Caesar will be left aside. Instead, we shall try the ‘neutral’ way of narratological analysis …“17 – kann für die nicht-caesarischen Schriften nur a fortiori gelten.
Nun zeigt schon die Verwendung der gnomischen Häkchen beim Wort „neutral“ in obigem Zitat, dass das mit der Entscheidung für die Narratologie verbundene Versprechen der Objektivität nur scheinbar eingelöst wird. Eine narratologische Analyse kann (vielleicht) objektiv sein, wenn sie sich ausschließlich auf die Textbeschreibung beschränkt, sie ist es jedoch sicher nicht, wenn die Textbeschreibung zur Grundlage einer Interpretation wird.18 Trotz dieser Einschränkung bleibt das Bemühen um eine ‚Verwissenschaftlichung‘ der Forschungsdebatte, die Busch anstrebt, ein legitimes Anliegen, dem sich auch diese Arbeit verpflichtet sieht und zu dem die Narratologie einen Beitrag leisten kann. Damit sie ihre Tauglichkeit für die Analyse der postcaesarischen Schriften unter Beweis stellen kann, sind zuvor einige methodische Probleme zu adressieren, die sich daraus...