1. Einleitung
Wir leben in einer Zeitenwende. Alle wesentlichen Probleme sind globaler Art und machen doch zugleich dem Einzelnen Angst. Wir fühlen uns bedroht von der Klimakatastrophe, von der Migration, vom Terror, vom Zerbrechen der Gesellschaft aufgrund zunehmender sozialer Ungleichheit, von der Digitalisierung, die die Arbeitsplätze bedroht und uns zugleich zu Sklaven der künstlichen Intelligenz zu machen scheint. Das Neuartige an dieser Bedrohungslage ist die Tatsache, dass sie zugleich den Einzelnen berührt wie auch, dass sie ein globales Phänomen ist.
Bisher konnten Probleme vor Ort, regional oder national gelöst werden. Für diese neuartige Problemlage haben wir jedoch keine institutionellen Lösungsmechanismen. Die Tendenzen zum Nationalismus weisen angesichts des globalen Ausmaßes in die vollkommen falsche Richtung. Sie vergrößern die Bedrohungslage eher noch, indem sich die Mächtigsten durchsetzen, ohne dass diese erkennen würden, dass sie sich damit langfristig selbst schädigen. Es fehlt daran, diese neue Problemlage in ihrer Dialektik, d. h. in ihrer Einheit von konkreter Berührung und abstrakter Erkenntnis, in ihrer Ganzheit zu begreifen. Wir benötigen ein „Verfahren“, das zugleich das Konkrete unserer Empfindungen und das Abstrakte unserer Begriffe fassen kann. Es geht um nicht weniger als die Einheit des Sagbaren und des Unsagbaren.
Die eigentliche Problemlage sind daher gar nicht einmal die Probleme selbst, sondern das Fehlen eines „Lösungsverfahrens“, das alle einbezieht und alle anerkennen können. Genau dies ist erforderlich! Hier steht weder auf politischer noch auf wissenschaftlicher Seite etwas „zur Verfügung“. Das, was es anzuerkennen gilt, kann uns jedoch gar nicht zur Verfügung stehen! Es sind die operationalen Strukturen, von denen wir vollkommen abhängig sind. Denn diese operationalen Strukturen machen Veränderungen erst möglich. In ihnen vollziehen sich erst Veränderungen. Dies lässt sich natürlich wiederum begrifflich beschreiben. Aber diese Beschreibung ist nicht der Vollzug der Veränderung selbst. Denn der ist operationaler Art und nicht begrifflicher bzw. kategorialer Art.
Niemals in der Menschheitsgeschichte haben Veränderungen in einer derartigen Geschwindigkeit und Intensität stattgefunden wie heute. Daher sind auch die operationalen Strukturen nie so recht in unser Bewusstsein gerückt. Bisher haben wir mit der Statik der kategorialen Strukturen selbst noch die Bewegung beschrieben. Mit ihnen alleine ist das, was sich heute in uns und um uns herum abspielt, aber nicht zu fassen. Und dieses Nicht-fassen-Können macht uns Angst. Denn wir sind gewohnt, mit unserem Intellekt das Umfeld zu beherrschen. Wir beherrschen aber unser Umfeld nicht mehr. Im Gegenteil, das, was uns bisher geholfen hat, scheint uns zugleich zu bedrohen. Die künstliche Intelligenz ist hierbei nur die zurzeit letzte Bedrohung. Aktuell dominiert jedoch die Corona-Pandemie alles andere. Was sie mit uns macht, ist sprachlich alleine nicht zu fassen. Sie wird allerdings vorübergehen. Jedoch wird sie den Prozess, den ich in diesem Buch beschreibe, beschleunigen. Sie wird uns zeigen und vor allem spüren lassen, dass das, was wir mit dem Begriff Solidarität nur beschreiben, uns alleine helfen kann, diese Krise zu bewältigen. Solidarität ist eine operationale Struktur, sie ist ein körperliches Handeln, nicht nur eine sprachliche Handlung.
Die Lösung kann daher nur von den operationalen Strukturen kommen, die uns jedoch nicht zur Verfügung stehen. In unserer intellektualistisch geprägten Welt ist dies ein Paradoxon und daher nicht lösbar. Wir stehen also aus der Sicht unserer so geprägten Welt vor einem unlösbaren Problem.
Es ist eine global wirkende und zugleich existentielle Angst, die durch die Veränderung entsteht. Etwas Fundamentaleres kann es nicht geben. Es betrifft uns alle, die Menschheit insgesamt. Wir alle empfinden diese Hilflosigkeit, weil wir das Geschehen nicht fassen können. Begrifflich ist dies auch unmöglich. Dies ist es, was es anzuerkennen gilt.
Es geht nicht nur darum, den Anderen anzuerkennen. Es geht um etwas viel Tieferes. Es geht darum etwas anzuerkennen, was uns nicht zur Verfügung steht, von dem wir jedoch vollkommen abhängig sind. Dies sind unsere operationalen Strukturen, die alleine Veränderungen ermöglichen. Mit noch so ausgefeilter Begrifflichkeit können wir nichts verändern. Denn Veränderung ist ein Prozess, der sich vollzieht. Nur der Vollzug selbst ist Wirklichkeit. Wirklichkeit ist etwas, das mich innerlich berührt und damit operationaler Art. Ich kann zwar mein inneres Berührtsein beschreiben, aber das ist nicht mein Gefühl selbst.
Das, was für mein subjektives Empfinden gilt, gilt auch für das Soziale. Wir können die sozialen Beziehungen in der Gesellschaft beschreiben, aber das sind nicht die sozialen Beziehungen selbst, die sind operationaler Art und lebendig. Die Begrifflichkeit und damit die kategorialen Strukturen, also Sprache und Schrift, sind etwas ganz Anderes. Mit ihnen kann ich weder meine subjektiven Empfindungen noch meine sozialen Beziehungen fassen. Es ist schlicht unmöglich. Sie operieren in einem anderen Modus.
Unser reflexives Denken ist eine sehr junge Errungenschaft der Menschheitsgeschichte. Erst seit etwa zweieinhalbtausend Jahren besitzen wir diese kulturelle Fähigkeit. Mit seinen kategorialen Strukturen, seinem begrifflichen Denken, hat es uns theoriefähig gemacht. Philosophie, Wissenschaft und Technik konnten damit entstehen. Seine Basis sind jedoch operationale Strukturen. Alles in unserem Kosmos ist operationaler Art! Unsere kategorialen Strukturen sind aus ihnen erst hervorgegangen. Ohne operationale Strukturen würden wir keinen Gedanken und keinen Begriff hervorbringen können.
Hinzu kommt, dass wir mit unserer definitorischen Begrifflichkeit die Zeit still stellen. Was wir benötigen, ist eine zweite Reflexion, die Reflexion auf unseren Ursprung, auf die operationale Struktur. Diese Reflexion ist eine Integration des eigenen Ursprungs und zugleich seine Anerkennung. Diese Anerkennung erst macht uns frei und damit zukunftsfähig. Es ist die Anerkennung des uns Unverfügbaren, die uns zur Freiheit führt. Wir benötigen auch weiterhin Begriffe und damit die kategorialen Strukturen. Wir müssen sie nur durch eine zweite Reflexion, also durch Integration der operationalen Strukturen, erweitern. Dies ist etwas fundamental Neues in der ...