Protestantische Minderheitenkirchen in Europa im 19. und 20. Jahrhundert
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Protestantische Minderheitenkirchen in Europa im 19. und 20. Jahrhundert

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Protestantische Minderheitenkirchen in Europa im 19. und 20. Jahrhundert

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Über dieses Buch

Dieser Band ist ein Beitrag zu einer historisch orientierten Konfessionskunde. Inhaltliche Kristallisationspunkte bilden die Manifestation politisch motivierter Toleranz am Ende des 18. Jahrhunderts, das Anwachsen des protestantischen Selbstbewusstseins um die Mitte des 19. Jahrhunderts, die Etablierung neuer Nationalstaaten und -kirchen am Ende des Ersten und Zweiten Weltkriegs und die Entwicklungen um das Jahr 1989. Insgesamt werden die Weite und Pluralität des protestantischen Spektrums im 19. Jahrhundert und die unterschiedlichen Antworten auf die politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen im 20. Jahrhundert besonders betont.

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Information

Kapitel 1 Der Protestantismus unter der Dominanz der katholischen Staatskirchen Westeuropas

Die Verhältnisse in den hier vorgestellten Ländern waren sehr unterschiedlich, hatten aber eines gemeinsam: Die protestantischen Kirchen – so klein oder groß sie auch waren – lebten im 19., teils noch im 20. Jahrhundert unter den Bedingungen eines katholischen Staatskirchentums oder wenigstens einer kulturellen und demographischen Dominanz des Katholizismus. Dies gilt für die Staaten, die unter dem Begriff „Italien“ zu subsumieren sind, ebenso für Spanien und Portugal. Hier blieben die Protestanten eine Marginalie, wenn auch die Waldenser fast wider Erwarten überlebten und sich der italienische Protestantismus im 19. Jahrhundert in einem gewissen Rahmen vitalisierte. In Frankreich waren die Verhältnisse andere, da der heftiger Verfolgung ausgesetzte reformierte Protestantismus durch das elsässische Luthertum Verstärkung erfuhr und sich schon im 19. Jahrhundert die Rechtsstellung der Protestanten entscheidend verbesserte. Dies kann auch von Österreich gesagt werden, wo das Josephinische Toleranzpatent von 1781 eines der Urdaten moderner Toleranzpolitik darstellt. Eigentümlich waren die Verhältnisse im von England beherrschten, genuin katholischen Irland, wo eine protestantische Staatskirche etabliert wurde. Ganz eigen sind die Verhältnisse dann in den weiterhin in diesem Kapitel behandelten Ländern.
Schon hier sollte, nicht zuletzt an den Beispielen Frankreich und Italien, deutlich werden, dass die protestantischen Minderheitenkirchen weithin vernetzt waren, und dies natürlich vor allem mit den protestantischen Mehrheitskirchen in der Schweiz, England und Deutschland. Frömmigkeit und Theologie, Vorstellungen zum Verhältnis von Staat und Kirche, Lieder und Traktate wurden über Ländergrenzen hinweg vermittelt, und Prediger, Pfarrer und Nichttheologen schlugen durch ihre Mobilität Brücken für den Transfer neuer Entwicklungen.

A. FRANKREICH

1. Von der Unterdrückung bis zur bürgerlichen Toleranz

Nach einer Phase der Ausbreitung und Duldung im 16. Jahrhundert hatten die französischen Protestanten nicht erst mit dem Widerruf des Toleranzedikts von Nantes im Jahre 1685 Verfolgung und Unterdrückung zu erdulden. Dennoch wurde die Reformierte Kirche in Frankreich nicht zerschlagen, denn die häusliche Religiosität und Erziehung blieben ein wichtiger Sozialisationsfaktor. Gemeinden sammelten sich im Untergrund als „Kirche der Wüste“. In Paris konnten sich Protestanten, darunter auch Lutheraner, den Botschaftsgemeinden protestantischer Staaten anschließen. Nach dem Tod Ludwigs XIV. (1638–1715) im Jahre 1715 beruhigte sich die Lage etwas, doch machte Ludwig XV. (1710–1774) in einer Deklaration 1724 unmissverständlich klar, dass das Bekenntnis zum Protestantismus verboten blieb. Immerhin wurde in den folgenden Jahrzehnten die Unterdrückung der Protestanten weniger systematisch und brutal betrieben, und in unregelmäßigen Abständen konnten auch Nationalsynoden abgehalten werden. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts setzte sich eine pragmatische Toleranz durch, die durch aufgeklärte Vorstellungen gestützt wurde. Nun wurden auch naturrechtlich begründete Forderungen nach Gleichberechtigung laut. Dessen ungeachtet blieb der Rechtsstatus der Protestanten ungesichert, da ihre Existenz offiziell geleugnet wurde; so waren sie weiterhin Opfer von Benachteiligungen.
1787 gewährte König Ludwig XVI. (1754–1793) den Protestanten endlich bürgerliche Rechtsgleichheit. Die treibende Kraft dabei war der aus dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zurückgekehrte General Lafayette (1757–1834), der vom nord amerikanischen Vorbild konfessioneller Toleranz inspiriert war. Das Toleranzedikt von 17871 leugnete die bisherige brutale Unterdrückung und berief sich auf die Grundsätze der Vernunft, der Menschlichkeit und des Christentums, die Gewaltanwendung ausschlössen. Die Toleranz wurde ebenso mit dem Grundsatz der Gerechtigkeit, dem Naturrecht und nicht zuletzt mit dem Interesse des Königreiches begründet, dem die vielen Scheinkonversionen und Emigrationen entgegenständen. Personenstandsfälle von Protestanten wie Geburt, Eheschließung und Tod sollten nun offiziell durch Beamte oder katholische Pfarrer, die auch sonst als Standesbeamte fungierten, registriert werden. Diese Regelung galt auch rückwirkend. Letztlich vergab sich der König nichts, denn die Katholische Kirche behielt ihre bevorrechtigte Stellung und das alleinige Recht auf öffentliche Religionsausübung. Mit seiner Entscheidung lag Ludwig XVI. ungefähr auf der Linie des von Joseph II. in Österreich erlassenen Toleranzpatents (s. u. Kap. 1K1). Auch in rechtlicher Hinsicht blieben die Protestanten immer noch benachteiligt, da sie nicht zum Staatsdienst zugelassen waren. Immerhin wurde nun sichtbar, dass es noch eine hohe Zahl, nämlich ungefähr eine halbe Million Reformierter in Frankreich gab.
Innerhalb des reformierten Protestantismus waren mit der Aufklärung und dem Pietismus im 18. Jahrhundert zwei konkurrierende Strömungen wirksam geworden, die für die Folgezeit von nachhaltiger Bedeutung sein sollten, da sie sich in neuer Form immer wieder zu Wort meldeten. Dabei war der Pietismus in der schwächeren Position; er sollte sich erst im 19. Jahrhundert, nun als Erweckungsbewegung, durchsetzen. Unterdessen repräsentierten die Reformierten nicht mehr allein den französischen Protestantismus, da sich die konfessionellen Verhältnisse innerhalb des Protestantismus durch die Expansionspolitik Ludwigs XIV. geändert hatten: Der König hatte im Zuge der „Reunionen“ das Elsass Zug um Zug unter französische Herrschaft gebracht. Hier waren von den Protestanten, die etwa ein Drittel der elsässischen Bevölkerung ausmachten, die meisten Lutheraner, allerdings gab es auch einen kleineren reformierten Bevölkerungsteil. Formell hatte der König den Westfälischen Frieden mit seinen konfessionellen Garantien akzeptiert. Die evangelischen Gemeinden blieben also erhalten, ebenso konnten die Pastoren weiterhin in Straßburg studieren. Trotz der Rechtsgarantien wurde aber massiv die Rekatholisierung betrieben. Geeignete Mittel dazu waren die Übertragung von Kirchen an den katholischen Gottesdienst oder die Umwidmung zu Simultankirchen, in denen also evangelischer und katholischer Gottesdienst gehalten werden mussten. Damit war der Streit zwischen den Konfessionen vorprogrammiert, der zum Nachteil der evangelischen Seite und konkret zum Nachteil vor allem der Pfarrerschaft ausgehen musste. Trotz vieler Konversionen erwies sich das Elsass aber doch als ein Hort protestantischer Resistenz, was seit der Mitte des 18. Jahrhunderts eine Entspannung der Lage bewirkte. Auch unter den elsässischen Pastoren wuchs zu dieser Zeit der Einfluss der Aufklärung wie auch des Pietismus.
In einer ähnlichen Situation wie die Protestanten im Elsass waren die in der Grafschaft Montbéliard, die als Mömpelgard seit dem Mittelalter zu Württemberg gehörte und von Angehörigen des dortigen Herrscherhauses regiert wurde. Ludwig XIV. hatte auch dieses Territorium unter seine Herrschaft zu bringen versucht, doch mussten die französischen Truppen wieder abziehen. Erst mit dem Vorstoß der revolutionären französischen Armeen an den Rhein seit dem Jahr 1790 wurde das Gebiet von Frankreich vereinnahmt und gehörte dann zur Tauschmasse, die Württemberg einbrachte, um sich dafür im Zuge des Reichsdeputationshauptschlusses rechts des Rheines schadlos zu halten.

2. Der Protestantismus in der Französischen Revolution und unter Napoleon

Die Katholische Kirche konnte in der Anfangsphase der Französischen Revolution ihre Stellung weithin behaupten. Auch wehrte man sich von katholischer Seite aus weiterhin gegen eine volle Gleichberechtigung des Protestantismus. In den Ständeversammlungen im Vorfeld der Revolution, deren Ergebnis die „Cahiers de doléances“ waren, erhob der Klerus immer wieder Protest gegen die 1787 gewährte Toleranz und forderte ihre Aufhebung im nationalen Interesse. Im Laufe der Revolution kam es auch noch zu Gewaltakten zwischen den Konfessionen, wobei Opfer auf beiden Seiten zu beklagen waren. Der französische Protestantismus konnte sich von den in Aussicht genommenen Reformen, die in die Revolution umschlugen, in jedem Falle eine Besserung seiner Lage erwarten. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ war insofern eine große Verheißung, nicht nur auf eine Tolerierung hin, sondern auch auf die Ausbreitung des Protestantismus in der französischen Gesellschaft. Seither zählten republikanische, antiklerikale, liberale und (meist gemäßigt) linke Anschauungen zum Erbe protestantischer Identität in Frankreich, und dementsprechend fiel es protestantischen Vertretern in der Revolution nicht schwer, Toleranz auch für das Judentum zu fordern. So engagierten sich Protestanten für die Revolution und waren überproportional in ihren Entscheidungs- und Vollzugsorganen vertreten, gaben sich dabei allerdings meistens nicht als Protestanten zu erkennen.
Auf protestantischer Seite stand zu Beginn der Revolution Jean-Paul Rabaut (1743–1793), genannt Rabaut Saint-Étienne, in der ersten Reihe. Er war Abgeordneter für Nîmes, wo sein Vater Paul Rabaut (1718–1794) seit 1744 als Pastor gewirkt hatte und wo auch er seit 1764 als Pastor tätig war. Lafayette hatte ihn 1785 überredet, nach Paris überzusiedeln, um dort den Protestantismus gegenüber dem Hof zu repräsentieren. Daraus ergab sich die gemeinsame Vorbereitung des Toleranzedikts von 1787. Er und andere politisch aktive Protestanten wie Antoine Barnave (1761–1793) traten dann also an die Spitze der revolutionären Bewegung. Rabaut Saint-Étienne gehörte zu denjenigen, die davon überzeugt waren, dass die protestantischen Ideale sich in den revolutionären verwirklichten. Er – noch im März 1790 zum Präsidenten der Verfassunggebenden Versammlung gewählt – starb unter der Guillotine, sein Vater im Gefängnis. Auch Barnave und andere wurden Opfer des revolutionären Terrors.
Rabaut Saint-Étienne und Lafayette verdankte sich die Aufnahme der Glaubens- und Gewissensfreiheit in die Erklärung der Menschenrechte vom 26. August 1789. Diese betraf aber nur das Individuum, stellte doch die gleiche Erklärung die Menschenrechte unter den Vorbehalt, sie dürften die öffentliche Ordnung nicht stören. Die Religionsfreiheit blieb also weiterhin auf die private Religionsausübung beschränkt. Am 24. Dezember 1789 wurde den Protestanten die volle bürgerliche Gleichberechtigung und der Zugang zu allen Ämtern zugesagt. Am 10. Juli 1790 beschloss die Nationalversammlung, den Nachfahren protestantischer Auswanderer, die nach Frankreich zurückkehren wollten, den einstmals beschlagnahmten Familienbesitz rückzuübertragen, und am 15. Dezember 1790 wurde beschlossen, den Rückkehrern die französische Nationalität wieder zuzuerkennen. Erst 1791 aber erhielten die Protestanten das Recht auf öffentliche Religionsausübung. Nun konnten offiziell Gottesdienste gefeiert und auch Kirchen gebaut werden. Zwar war schon am 7. Juni 1789 der erste evangelische Gottesdienst in Paris abgehalten worden, doch war die öffentliche Religionsausübung erst mit der Übertragung der Kirche Saint-Louis-du-Louvre an die Protestanten institutionalisiert. In dieser Kirche wurden dann nicht nur die Zehn Gebote, sondern auch die Erklärung der Menschenrechte angebracht. Die sich rapide verstärkende antiklerikale, antikirchliche und antichristliche Entwicklung der Revolution stellte bald darauf die evangelischen Geistlichen vor die gleiche Herausforderung wie die katholischen. Einer Integration der Katholischen Kirche in den revolutionären Staat durch die „Zivilkonstitution des Klerus“ vom Juli 1790 hatten die Protestanten zugestimmt und sich teilweise auch wohl an der Volkswahl von Bischöfen beteiligt, doch waren dann auch sie in das Räderwerk der sich radikalisierenden Kirchenpolitik geraten. Pfarrer beider Konfessionen hatten zu wählen zwischen Anpassung – sei es aus Not oder aufgeklärter Überzeugung – und Widerstand. Etliche evangelische Pastoren ließen ihr Leben unter der Guillotine; von den 215 reformierten Pastoren legten aber auch 98 ihr Amt nieder und taten es hierin vielen katholischen Pfarrern und Bischöfen gleich. Manche vollzogen diesen Schritt aus der Überzeugung heraus, der Revolution so besser dienen zu können. Einige äußerten auch Genugtuung über die Bekämpfung des katholischen „Fanatismus“.2 Von den 98 traten nach dem Ende der antichristlichen Schreckenszeit 65 ihren Dienst wieder an. Das protestantische kirchliche Leben kam für eine Weile zum Erliegen; allerdings waren die Pastoren und Gemeinden es noch gewohnt, sich zu verbergen. Anders als die katholischen Kirchen hatten die protestantischen, „Temple“ genannt, auch keine Ausstattung, die sie der Revolution als Weihestätte opfern oder von Fanatikern zerstören lassen mussten. Mit der prinzipiellen Distanzierung des Staates von der Kirche – also zunächst einmal der Katholischen – waren die Protestanten weithin einverstanden.
Mit dem Ende der revolutionären Verfolgung nicht staatskonformer Geistlicher stellte sich wie auf katholischer Seite die Frage, wie diejenigen, die ins Exil gegangen waren oder Widerstand geleistet hatten, mit den anderen, die geblieben waren, wieder eine Kirche bilden sollten. Zum Politikum wurde diese Frage unter Napoleon, der mit dem Beginn seiner Herrschaft 1799 mit der politischen Reorganisation Frankreichs auch eine kirchliche ins Werk setzen wollte. Napoleons Interesse an der Integration der Kirche in den Staat – im Blick auf die Katholiken dokumentiert durch das Konkordat von 1801 und die Organischen Artikel von 1802 – richtete sich auch auf die Protestanten, die in ganz Frankreich ungefähr 500.000 Menschen ausmachten. Folglich wurden auch sie durch „Organische Artikel“ von Staats wegen reglementiert. Die Kontrolle erstreckte sich, anders als gegenüber dem Katholizismus, bis in die Lehre und Ordnung der Kirche hinein. Die Zielrichtung war aber die gleiche, nämlich die Schaffung eines staatskonformen Protestantismus. Angesprochen waren die „protestantischen Kirchen“ bzw. die „verschiedenen protestantischen Gemeinschaften“. Ausdrücklich unterschieden wurden die Reformierte und die Lutherische Kirche (Augsburgischer Konfession). Die wichtigste Organisationseinheit für die Reformierte Kirche waren künstliche Gemeinden, die aus 6.000 Mitgliedern bestehen sollten. Diese sollten von einem Vorstand, Konsistorium genannt, geleitet werden, der aus sechs bis zwölf Ältesten und dem Ortspastor bestand. Solche Konsistorien – es gab derer 81 – sollten jeweils zu fünft regionale Synoden bilden dürfen, doch wurde die dafür nötige Genehmigung regelmäßig vom Staat verweigert und somit wurde auch eine kirchliche Reorganisation von unten durch Synoden, gar durch eine Nationalsynode, unterbunden, und die bisherigen Presbyterien der Gemeinden wurden zerschlagen. Es gab dadurch auch keine übergreifende kirchliche Institution, die den Protestantismus gegenüber dem Staat hätte repräsentieren können. Das System der Konsistorien war künstlich und vereinigte ursprünglich selbständige Gemeinden mit eigenen Traditionen. Die Ältesten, die in den Konsistorien saßen, waren wohlhabende oder durch eine öffentliche Stellung hochrangige Notabeln aus dem protestantischen Bürgertum. Die Pastoren waren nun Staatsbeamte und mussten nach ihrer Wahl von Napoleon bestätigt werden.
Der Protestantismus erfuhr durch Napoleon also eine für das 19. Jahrhundert nachhaltige Einbindung in ein „konkordatäres“ System und zugleich eine Befreiung, und so wurde die Kaiserkrönung Napoleons im Jahre 1804 von protestantischer Seite aus sehr positiv gewürdigt. Außerdem förderte Napoleon den Kirchenbau und ließ nicht mehr benötigte katholische Kirchen – hierfür boten sich seit der Revolution leerstehende Klosterkirchen besonders an – an evangelische Gemeinden übertragen. Der Kaiser gestattete 1808 die Gründung einer lutherischen Gemeinde in Paris und übertrug ihr eine Kirche. Evangelische Geistliche genossen jetzt wie katholische öffentliches Ansehen. Andererseits ging nun auch die Reformierte Kirche den Weg der Staatskirche, wodurch sie in ihren Wirkungsmöglichkeiten beschränkt wurde, waren ihr doch Aktivitäten außerhalb des gottesdienstlichen Gebäudes weitgehend untersagt. Mit der rechtlichen Anerkennung des Protestantismus konnten endlich Pastoren auf französischem Boden ausgebildet werden. 1729 war im schweizerischen Lausanne ein Predigerseminar gegründet worden, an dem der größte Teil der französischen Pastorenschaft ausgebildet wurde. Sie kamen durch die Ausbildung in Lausanne und Genf intensiv mit der Aufklärung in Berührung. 1808 wurde in Montauban dann auf Napoleons Geheiß als Konkurrenz auf französischem Boden eine Theologische Fakultät gegründet. Eine Ansiedlung in der protestantischen Hochburg Nîmes hatte Napoleon verweigert. Die Fakultät von Montauban stand bald in dem Ruf, eine Hochburg der Aufklärung zu sein, was zu innerkirchlicher Kritik und 1813 zu einer Erklärung der Professoren führte, sie ständen in der rechtgläubigen Tradition der Reformierten Kirche. Schon 1816 aber geriet die Fakultät unter den Einfluss der Erweckung. Weiterhin erhalten blieb die Theologenausbildung in Straßburg, die vor allem für angehende lutherische Pastoren gedacht war.
In der Französischen Revolution und unter Napoleon waren auch die Lutheraner der üblichen staatlichen Kirchenpolitik unterworfen. In den für die Protestanten gedachten Organischen Artikeln waren die für die Reformierten geltenden Regelungen für sie teilweise abgewandelt worden. So hießen die Regionalsynoden für jeweils fünf Konsistorien hier Inspektionen. Für die Lutheraner wurden drei Generalkonsistorien eingerichtet, die ihren Sitz in Straßburg, Mainz und Köln haben sollten.

3. Der Protestantismus bis zu seiner inneren Spaltung im Jahre 1872

Institutionell profitierten die protestantischen Kirchen von den Organischen Artikeln, die bis zur Trennung von Staat und Kirche im Jahre 1905 in Kraft blieben. Die staatliche Alimentierung brachte eine rasche Erhöhung der Zahl der Pastoren mit sich: Waren es 1806 noch 170, so wurden daraus 214 im Jahre 1814 und 324 im Jahre 1830. Das Selbstrekrutierungspotential unter der Pastorenschaft war hoch, und so gab es geradezu Pastorendynastien. Die Zahl der Bewerber überwog allerdings bei Weitem die Zahl der Stellen. Auch der Bau neuer Kirchen, gehalten im schlichten reformierten Stil, wurde weiterhin vom Staat mitfinanziert. Nicht ungewöhnlich war an Kirchen auch in nachnapoleonischer Zeit die Inschrift „Liberté, Égalité, Fraternité“. Es gab in Frankreich weiterhin ungefähr 500.000 Reformierte und ungefähr 220.000 Lutheraner.
Das endgültige Ende der Herrschaft Napoleons stellte die Rechtsstellung der Protestanten noch einmal in Frage. Mit der „Charte constitutionnelle“ von 1814 wurde der Katholizismus wieder Staatsreligion, doch blieben die Glaubens- und Gewissensfreiheit und auch die Organischen Artikel Napoleons erhalten. Der Protestantismus geriet damit in die prekäre Stellung einer Art Staatskirche minderen Rechtes, die vor allem den Nachteilen einer staatlichen Kontrolle ausgesetzt war. In Südfrankreich sahen Fanatiker mit dem Zusammenbruch der Herrschaft Napoleons die Stunde gekommen, gegen die Protestanten vorzugehen, denen in der royalistischen Propaganda die Schuld an der Revolution gegeben wurde. Man hielt die wenigen, aber sehr aktiven Revolutionäre evangelischer Konfession für die Rädelsführer. Noch 1815 wurde Nîmes vom bürgerkriegsähnlichen „Weißen Terror“ erschüttert. Nur mühsam gelang es, die öffentliche Ordnung wiederherzustellen und die bedrängten Protestanten zu schützen. In den folgenden Jahren war der Protestantismus vor solchen pogromartigen Übergriffen sicher, doch wurde durch die Könige Ludwig XVIII. (1755–1824) und Karl X. (1757–1836) der Katholizismus deutlich bevorzugt. Schon die Rückkehr der Jesuiten war ein Affront. Untergeordnete Behörden konnten genehmigungspflichtige kirchliche Veranstaltungen unter Berufung auf das restriktive Versammlungsrecht untersagen. Das Zusammenleben der Konfessionen verlief zwar an vielen Orten reibungslos, doch kam es auch zu Konflikten, nicht zuletzt, wenn Protestanten katholischen Prozessionen nicht ehrerbietig begegneten. Katholische Intellektuelle sahen den Protestantismus immer noch als geistlosen Irrweg und Ausdruck individualistischen Vernunftdenkens an. Immerhin aber gab es protestantische Prominenz: Benjamin Constant (1767–1830) zum Beispiel war ein prominenter Liberaler. Germaine de Staël (1766–1817), in enger persönlicher Verbindung mit Benjamin Constant stehend, war die Tochter des unter Ludwig XVI. amtierenden und aus der Schweiz stammenden Finanzministers Jacques Necker (1732–1804). Sie war von unbeugsamer republikanischer Gesinnung und ertrug die Verbannung durch Napoleon, die sie zu Reisen nach Deutschland und in andere europäische Länder nutzte. Als Schriftstellerin trug sie zur Verbreitung der Romantik bei.
Mit der Neuorganisation der protestantischen Kirchen durch die Organischen Artikel bekamen diese einen Rahmen vorgegeben, innerhalb dessen sie ihr inneres Leben gestalten mussten. Der Gottesdienst wurde nach einer neuen Ordnung gefeiert, bei der natürlich die Predigt im Mittelpunkt stand. Die Feier des Abendmahles blieb hohen Festen vorbehalten. Weiterhin spielte die häusliche, auf der Lektüre der Bibel basierende Frömmigkeit eine große Rolle.
Die innere Entwicklung des Protestantismus war von zeittypischen Faktoren geprägt: Die Erweckungsbewegung in ihrer französischen Form des „Réveil“ beeinflusste viele Pastoren und Gemeinden, die, wie sie meinten, einer aufklärerischen Verzeichnung des evangelischen Glaubens wehren mussten. Hinzu kamen die Abkehr von der „Welt“ und die Besinnung auf die Innerlichkeit. Dies war ein pietistisches Erbe, entsprach aber auch der Tendenz der Romantik und hatte einen Sachgrund in der Abgrenzung von der Selbstinszenierung eines neuen Besitzbürgertums. Der Konflikt zwischen den Erweckten auf der einen und den vom Geist der Aufklärung geprägten Liberalen auf der anderen Seite war letztlich der um den Weg in die Moderne. W...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Quellen- und Literaturverzeichnis
  6. Einführung
  7. Kapitel 1: Der Protestantismus unter der Dominanz der katholischen Staatskirchen Westeuropas
  8. Kapitel 2: Protestantische Minderheiten in Osteuropa unter katholischer Dominanz
  9. Kapitel 3: Protestantische Minderheiten in Osteuropa unter orthodoxer Dominanz
  10. Personenregister
  11. Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen (KGE)
  12. Endnoten