Die Netzwerkperspektive:
eine Einladung zur Horizonterweiterung
Felix Roleder und Birgit Weyel
Kirchengemeinde als Netzwerk
Überlegungen zur konkreten Kirchengestalt vor Ort auf der Basis der Gesamtnetzwerkerhebung der V. Kirchenmitgliedschaftserhebung der EKD (V. KMU)
Im Rahmen der V. KMU wurde der methodische Ansatz der Netzwerkforschung verwendet, um eine als modellhaft ausgewählte Kirchengemeinde näher in den Blick zu nehmen.1 Kirche kam bisher vor allem als Institution und als Organisation in den Blick. Mit dem Netzwerkansatz dagegen sollen gerade auch solche Strukturen innerhalb einer Kirchengemeinde sichtbar gemacht werden, die sich aus Interaktionen zwischen zwei oder mehr Personen aufbauen. Kirche als Netzwerk ist somit ein Konzept von Sozialität, das nicht etwa andere Konzepte ersetzen kann oder will. Auch bildet die Kirchengemeinde nicht ein Netzwerk, sondern – je nachdem, wie die Netzwerkfragen lauten – wird eine Vielzahl an Netzwerken innerhalb der Kirchengemeinde sichtbar. Neben den Netzwerken, die aus den Verbindungen zwischen den Personen – man spricht auch von Akteuren – entstehen, kann man auch die verschiedenen Gelegenheiten – die kirchengemeindlichen Gruppen und Kreise sowie die zivilgesellschaftlichen Vereine und Gruppen der Umgebung, bei denen die Menschen miteinander in Kontakt treten, als Netzwerk darstellen.
Im Folgenden stellen wir ausgewählte Perspektiven zu den Netzwerken der Kirchengemeinde vor. Eine eingehende Untersuchung und eine Diskussion zu den Konsequenzen für die Kirchentheorie sowie für die kirchliche Praxis unternehmen wir in unserem Auswertungsband, der Ende des Jahres 2018 bei der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig erscheint – unter dem Titel: Vernetzte Kirchengemeinde. Persönliche Beziehungen, religiöse Kommunikation, kirchliche Geselligkeit und zivilgesellschaftliche Beteiligung. Analysen zur Gesamtnetzwerkerhebung der V. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD. Die hier vorgestellten Darstellungen geben so zugleich einen Einblick in die ausführliche Untersuchung, die der zu erscheinende Auswertungsband bietet.
Um es konkret zu machen: Wir haben alle Mitglieder einer konkreten evangelischen Kirchengemeinde ab 14 Jahre2 danach gefragt, wer mit wem über den Sinn des Lebens spricht und wo dies geschieht. Auf diese Weise werden Verbindungen (= ties) zwischen den Gemeindegliedern sichtbar. Diese konnten näher qualifiziert werden, und zwar, ob der Austausch als religiös oder als nichtreligiös eingeschätzt wurde.
Die Übersicht3 (Abb. 1) zeigt, dass ein Austausch über den Sinn des Lebens keineswegs nur in der Kirche, sondern bei vielfältigen Gelegenheiten stattfindet: also auch zu Hause, in der Freizeit, auf der Arbeit bzw. in der Schule. Am häufigsten wird zu Hause über den Sinn des Lebens gesprochen. Der Austausch in der Kirche wird dabei als überwiegend religiös qualifiziert – und zwar zu 79%. Die Kommunikation bei den anderen Gelegenheiten ist weniger religiös. Zu bedenken ist, dass es sich jeweils um subjektive Einschätzungen der Befragten handelt.
Dieses Bild4 (Abb. 2) zoomt in die Kommunikation über den Sinn des Lebens, die in der Kirche stattfindet, hinein. Die blauen Knoten sind Kirchengemeindeglieder, kirchliche Mitarbeitende sind grün und die Pfarrerinnen/Pfarrer gelb eingefärbt. Blaue Kanten symbolisieren als religiös qualifizierte Kommunikation; gelbe Kanten als nicht religiös qualifizierten Austausch über den Sinn des Lebens.
Hier gewinnen wir einen Einblick in ihre Strukturen: In der Mitte gibt es eine große Komponente mit vielen Verbindungen zwischen den beiden Pfarrern der Gemeinden und kirchlichen Mitarbeitenden sowie einigen wenigen engagierten Kirchenmitgliedern. Am Rande haben wir mehrere Dyaden und Triaden. Dazwischen gibt es strukturelle Löcher. Ein Austausch zwischen den einzelnen Komponenten findet nicht statt. Die Kommunikationen in den Dyaden und Triaden ist nicht angebunden an die zentrale Komponente. Und auch hier sieht man, dass die beiden Pfarrer untereinander nur mittelbar im Austausch stehen.
Ganz anders dagegen stellt sich das kommunikative Netzwerk zu Hause dar (Abb. 3).5 Grüne Kanten symbolisieren sehr religiöse und eher religiöse Kommunikation, rote Kanten zeigen Kommunikation, die als eher nicht religiös oder gar nicht religiös qualifiziert wurde. Wir sehen wenige Löcher. Die Reichweite der Verbindungen ist groß. Auch hier gibt es einige Dyaden und Triaden, aber die meisten Akteure sind Teil eines weitverzweigten kommunikativen Austausches.
Die Grafik6 unten (Abb. 4) verbindet die Frage nach dem Sinnaustausch mit der Frage danach, wie häufig die Akteure den Gottesdienst besuchen. Es ergeben sich interessante Befunde: Häufige Gottesdienstbesucher (gelb) werden offensichtlich als religiöse Experten von den Menschen in einen Austausch über den Sinn des Lebens verwickelt, die seltener (grün) in den Gottesdienst gehen. Wenn man voraussetzt, dass das, was im Gottesdienst stattgefunden hat – ein Austausch von Wissen, die Ausübung von religiösen Praktiken u.a.m. (im weitesten Sinne: gottesdienstliche Kultur) –, auch in die Gespräche über den Sinn des Lebens einfließt, dann wirkt der Gottesdienst weit über den Kreis derer, die ihn regelmäßig besuchen, hinaus.
Wie weit genau die möglichen Einflüsse des Gottesdienstes in privaten Gesprächen über den Sinn des Lebens reichen, zeigt die nächste Abbildung7, die dasselbe Netzwerk in einer anderen Form darstellt (Abb. 5).
Auf der linken Seite sind alle regelmäßigen Kirchgänger zu einem großen Kreis zusammengefasst. Unmittelbar rechts daneben stehen alle Kirchenmitglieder, die selten oder nie zum Gottesdienst kommen, aber doch mit einem regelmäßigen Kirchgänger im Privaten über den Sinn des Lebens sprechen. So kann man sehen, dass 98 weitere Personen von gottesdienstlichen Inhalten potentiell erreicht werden, obwohl diese Personen selbst nicht zum Gottesdienst kommen. In der Abbildung weiter rechts stehen allerdings weitere rund 850 Personen, die weder zum Gottesdienst kommen noch privat mit regelmäßigen Kirchgängern kommunizieren. Wieso gibt es nicht mehr kommunikativen Austausch zwischen den regelmäßigen Kirchgängern und den kirchlich distanzierten Individuen? Darüber kann man nur spekulieren, aber zwei Gründe liegen nahe. Erstens muss man einen regelmäßigen Kirchgänger überhaupt kennen, um mit ihm ins Gespräch zu kommen, und nicht jeder kirchlich distanzierte Mensch kennt einen regelmäßigen Kirchgänger persönlich. Zweitens ist religiöse Kommunikation für die meisten Menschen ein intimes Thema, das bei Gesprächen eine Vertrauensbeziehung voraussetzt und manchmal auch zu zwischenmenschlichem Streit und Konflikten führt. Entsprechend steuern die Akteure sehr bewusst, mit wem sie über Religion sprechen, und vermeiden es mitunter auch, das Thema im Gespräch mit Menschen aufkommen zu lassen, die eine andere Weltsicht als die eigene vertreten.8
Man kann nicht nur Netzwerke der Personen (der Kirchengemeinde weniger verbundene Akteure = blau; hoch verbundene = rot), sondern auch das Netzwerk der Gelegenheiten (= gelbe Quadrate) sichtbar machen, die miteinander verbunden sind. Die Verbindungen zwischen den Gelegenheiten, auch Institutionen genannt, entstehen durch die Akteure, die diese regelmäßig besuchen.
Wir sehen hier (Abb. 6) ein Netzwerk der religiösen, kirchlichen und kirchennahen Gel...