Liturgie und Tanz im Spiegel künstlerischer Erfahrung
Manfred Schnelle: Ich will dir etwas vorlesen von Karl Bernhard Ritter: »Ein Christentum, das von Mißtrauen gegen die leibliche Natur des Menschen erfüllt ist und, statt die natürlichen Triebkräfte zu versöhnen, sie unterdrückt und verleugnet, wird dem Bilde in gar keiner Weise gerecht, das uns vom versöhnten, vom Geiste erfüllten Menschen im Neuen Testament vor Augen gestellt wird. Geist, Seele und Leib sind ein Ganzes, und glauben heißt darum: sich für das erlösende, an meiner Ganzheit handelnde Wirken Gottes offenhalten.« (Seelsorge am leibhaftigen Menschen, in: Kirche und Wirklichkeit, Kassel 1971, S. 133) So ist das, und darum gehören die Ausdrucksmittel meines Körpers und der Tanz für mich mitten hinein in meine Glaubenserfahrung.
Christian Lehnert: Ab wann hast du gewußt, daß du Tänzer bist?
Manfred Schnelle: Schon in der Grundschule merkte ich, dass ich großen Spaß am Bühnenspiel hatte. Ich entwickelte einen richtigen Rampendrang. Die Leute sagten: »Du musst zum Theater, du musst zum Theater!«
Nach meinem miserablen Schulabschluß begann ich mit gerade einmal vierzehn Jahren eine Lehre als Verkäufer in einem Konsum-Kaufhaus für Textilbedarf. Einmal plante der Konsum ein großes Fest und schickte alle Lehrlinge zu einer Tänzerin nach Halle, damit sie bei ihr Gesellschaftstänze erlernten und diese dann ordentlich aufführen konnten. Ich merkte dort, wie mir der Tanz als Ausdrucksform des Körpers lag. In Halle fand ich dann zu einer Tanzgruppe, deren Leiterin großen Wert auf Improvisation legte. Das war der entscheidende Punkt in meinem Leben. Da habe ich sozusagen Blut geleckt.
Ich wurde später nach Karl-Marx-Stadt geschickt, um dort Textilwirtschaft zu studieren. Zwar ging ich hin, nutzte aber jede freie Minute, um mich dem Theater zu widmen. Ich wollte an die Bühne!
So fuhr ich zum Vortanzen nach Berlin. Dort traf ich zum ersten Mal meine langjährige Lehrerin Marianne Vogelsang (1916 - 1973), die früher bei Gret Palucca und Mary Widmann zunächst Schülerin, später Mitarbeiterin war. Sie wurde von Otto Dix gemalt.
Tatsächlich wurde ich in Berlin angenommen. Ich habe sofort beim Konsum gekündigt und zog nach Berlin, um dort auf die Tanzschule zu gehen. Da war ich gerade einmal siebzehn Jahre alt.
Ich muß sagen, dass nicht immer alles toll und glatt ging in meinem Leben – aber ich hatte die besten Lehrer der Welt: erst Marianne Vogelsang, dann den Theologen Peter Heidrich in Rostock und später Enomiya Lassalle, den Jesuiten und Vermittler der Zen-Meditation nach Europa.
Christian Lehnert: Wie war dein Werdegang als Tänzer? Du bist ja schon sehr schnell in Konflikt mit dem sozialistischen Staat und seiner engen und ideologischen Kulturpolitik geraten.
Manfred Schnelle: Ich ging nach dem Abschluss der Tanzschule nach Dresden, das in der Tradition von Gret Palucca und des Ausdruckstanzes stand. Denn dafür interessierte ich mich vor allem, auch wenn ich die gesamte Ausbildung mit klassischer Schule absolvierte. Ich wurde Tänzer am Staatstheater.
Als Ausdruckstänzer gestaltete ich auch eigene Tanzabende – so wie es Schriftsteller mit ihren Lesungen tun. Damit begann ich in der Hochschule für Bildende Künste. Im Jahr 1965 gab es im Anschluss an einen meiner Auftritte eine Versammlung im Ballettsaal der Widmann-Schule mit Teilnehmern aus allen Bereichen des Tanzes und der Kultur, also mit Ballettmeistern, Angehörigen des Ministeriums etc. Und zu dieser Versammlung wurde ich das erste Mal öffentlich fertig gemacht, weil in meinen Tänzen angeblich die »ideologische Koexistenz mit dem Imperialismus« zum Ausdruck käme.
Christian Lehnert: Worin genau bestanden die Vorwürfe? Was soll das denn sein – ein systemkonformer Tanz oder ein systemkritischer?
Manfred Schnelle: Aufgabe der Tänzerinnen und Tänzer war es, den frohen sozialistischen Menschen widerzuspiegeln, also junge Arbeiterinnen und Arbeiter auf dem Weg in die Zukunft – furchtbar! Ich war ideologisch nicht auf Linie. Ein weiterer Grund war, dass ich noch 1960/61 internationale Kurse in Westdeutschland, etwa in Krefeld und Köln besuchte, wo meine Lehrerin unterrichtete. Ja, und Tänzer, die eigene Choreographien auf die Bühne brachten, waren ohnehin verdächtig.
Dann geschah aber noch etwas anderes, und das war folgenreich: 1964 war ich bei Freunden in Erfurt zu Gast. Sie zeigten mir die Stadt. Unter anderem auch die Augustinerkirche, wo zwischen Altar und den ersten Sitzreihen ein riesiger freier Platz von mehr als zehn Metern Länge ist. Davon war ich begeistert. Gerade spielte der Organist und ich stieg zu ihm hoch, stellte mich vor, erzählte, womit ich mich beschäftigte und dass ich in dieser Kirche gern einmal tanzen würde. Er ermunterte mich, ein Programm zu entwerfen, und so trat ich 1965 tatsächlich das erste Mal in der Augustinerkirche in Erfurt auf.
Es kamen Texte aus den Confessiones des Augustinus, unterlegt mit der Orgelmesse von Max Reger, zur Aufführung. Eigentlich war es mein ursprünglicher Plan, die gesprochenen Texte zu vertanzen. Aber dafür, so kam es mir damals vor, wäre die Zusammenarbeit mit einem Schauspieler nötig gewesen. Ich kam auf die Idee, nicht im strengen Sinne zu tanzen, sondern mich im Raum zu verhalten, mich zu stellen, mit den Worten den Raum abzutasten und durch die Ausrichtungen meines Körpers den Text nachzuempfinden.
Christian Lehnert: War der Raum für dich damals auch schon etwas Besonderes im religiösen Sinn? War es bewusst eine Kirche, in der du tanzen wolltest?
Manfred Schnelle: Das ist sehr schwer zu sagen. Ich bin getauft und wurde 1949 mit dreizehn Jahren auch konfirmiert. Sehr wichtig für mich war meine Verbindung zur geistlichen Musik. Durch sie bin ich in die Spiritualität hineingewachsen. Ich bin dann seit Mitte der 1960er Jahre immer mehr in Kirchen aufgetreten, mit Programmen zu verschiedenen biblischen Texten – das hat mich verändert.
Dann verlor ich meine Lebensgrundlage. Sie entließen mich beim Staatstheater: »Herr Schnelle, in Ihren Tänzen kommt die Ideologie des Imperialismus zum Ausdruck.« Die evangelischen Bischöfe in der DDR beschlossen damals, dass es gottesdienstliches Handeln sei, wenn ich in Kirchen tanzte, und keine künstlerische Veranstaltung. So konnte mein Tanz in Kirchen damals vom Staat nicht verboten werden. Von da an habe ich vor allem in Kirchen getanzt.
Christian Lehnert: Womit hast du deinen Lebensunterhalt verdient?
Manfred Schnelle: Ich habe in Leipzig historischen Tanz unterrichtet. Bis heute mache ich das. Renaissance- und Barocktanz, den ich ebenfalls bei Marianne Vogelsang lernte. Der historische Tanz war mein Überleben.
Um 1970 traf ich mich nach längerer Zeit wieder einmal mit meiner Lehrerin, die mittlerweile in West-Berlin lebte und auf Besuch in der DDR war. Sie wusste, dass ich nicht mehr im Rahmen der Staatsoper Dresden tanzen durfte und schlug mir vor, gemeinsam an einer Choreographie zum »Wohltemperierten Klavier« zu arbeiten. Sie starb 1973, wenige Wochen bevor ich das Stück erstmals zur Aufführung brachte. Sehr bedeutend für mein Schaffen waren die Erfahrungen, die ich durch Marianne Vogelsang damals in und mit dem Bühnenraum machen konnte. Ich entdeckte die Bedeutung des Umgangs mit dem ganz elementaren, mich umgebenden Raum neu und es ging mir erst durch sie auf, welche Bedeutung er für den Tanz in Wirklichkeit hat. Personen können mit nur sehr wenigen Schritten, Bewegungen und Ausrichtungen im Raum viel darstellen und theoretisch ihr ganzes Leben erzählen.
Christian Lehnert: Sind diese Raumwahrnehmungen beim Tanz in Kirchen anders, als auf der Bühne?
Manfred Schnelle: Eigentlich nicht. Anders ist natürlich die Aufteilung des Raumes. Die Positionen des Taufsteins, des Altars oder der Kanzel haben Auswirkung auf die Bewegungsmöglichkeiten. Der Raum ist ja nicht völlig frei. Generell aber ist das Empfinden ähnlich, denn Vorder- und Rückseite der »Bühne« bleiben gleich.
40 Manfred Schnelle als Pater Lorenzo in »Romeo und Julia«, 1983, Volkstheater Rostock
Etwas anders verhält es sich natürlich mit der Ausrichtung. Die meisten Kirchen weisen nach Osten, zum Sonnenaufgang, zeichenhaft zum neu beginnenden Leben. Dagegen ist der Westen der Ort des Sonnenuntergangs und des Todes. Und mit dieser geistlichen Bedeutung des Raumes als Tänzer umzugehen, das ist so etwas Fantastisches! Alles ist plötzlich auf diese Bewegung bezogen: Vom Tod zum Leben. Das veränderte mein Raumempfinden als Tänzer radikal.
Christian Lehnert: Du sagtest einmal, dass Kunst die Prophetie unserer Zeit sei. Dein Verständnis von Tanz nähert sich dem religiösen Ausdruck: Tanz wird zur Bewegungsikone, zur leiblichen Brücke in die Transzendenz. Empfandest du deinen Tanz als Gebet? Wie siehst du das Verhältnis zwischen Gebet und Kunst in deiner Arbeit?
Manfred Schnelle: Dass mir in der DDR die Möglichkeit genommen wurde, auf Theaterbühnen aufzutreten, war nur ein äußerer Grund, warum ich immer mehr in Kirchen tanzte. Daneben gab es noch einen inneren: Stück für Stück verstand ich mehr vom Christentum.
Den Kirchenraum erlebte ich als einen besonderen und aus dem Alltäglichen ausgesparten Raum von großer Prägnanz, in welchem ich Raumgefühl, Gebet, Sammlung, mich selbst und meinen Weg zu Gott erkennen und lernen konnte. Der Tanz erlangt beispielsweise vor einem Cranach-Altar oder unter einem gotischen Gewölbe größeres Gewicht, als dies im Theater mit einem eigens neu geschaffenen Bühnenbild der Fall sein kann. Das hat mich verändert. Für mich waren Tanz und Gebet nicht mehr voneinander zu trennen. Wenn ich gesammelt und konzentriert war, ob im Tanz oder im Gebet, befand ich mich in einer wunderbaren Einheit mit mir, meinem Körper und meiner unmittelbaren Umgebung. Körperempfinden, Raumerleben und Glauben verbanden sich miteinander.
Was ist denn Tanz? Was ist Gebet? Lebensvorgänge in Bewegung umsetzen, sich körperlich frei ausdrücken, so wie es kommt, improvisieren oder in einer Struktur einem Gedanken, einer Musik folgen, sich ganz einer künstlerischen Gestaltung hingeben – das ist Tanz. Tanzen – um frei zu werden, um Leben zu erspüren und zu fühlen.
Beten heißt, sich zu sammeln und still zu werden, um das Leben zu begreifen, das eigene Leben, das Leben der anderen, das Leben aller Kreaturen, und so seiner selbst gewiß zu werden im Licht Gottes. Ich werde durch das Gebet frei und handle mit Gespür und Verstand für alles Anstehende im Jetzt. Beten und Tanzen habe ich so immer mehr als zusammengehörig empfunden.
Der Leib ist das Tor zum Leben – das betrifft Tanz und Gebet. Jeder und jede Betende und alle künstlerisch Tätigen wissen gleichermaßen um das Heraustreten aus der normalen Alltagssituation in einen ungewöhnlichen Zustand, ein Kraftfeld, eine Verwandlung, die aus der Stille zur Transzendenz führt. Dieser Zustand ermöglicht schöpferische Kraft oder Kontemplation.
Der Tanz kann ein leiblicher Weg zur Glaubenserfahrung sein, ein spiritueller Übungsweg. Der Tanz als überhöhte, gesteigerte oder gestaltete Bewegung spielt mit Lebensmöglichkeiten. Es werden Formen der eigenen Leiblichkeit erfahren: Was ist eine Hand? Was ist das Begreifen – mit der Hand, mit dem Empfinden und dem Verstand? Wann wird das Sehen zum Schauen? Was ist unten, was ist Tiefe? Was bedeutet die Bodenberührung für unsere Reifung?
Für mich war vermutlich der entscheidende Augenblick, als ich erstmals Marianne Vogelsang das Es-Moll Präludium aus dem »Wohltemperierten Klavier« tanzen sah. Man kann es ...