Der Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland (1945-2005)
eBook - ePub

Der Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland (1945-2005)

  1. 248 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Der Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland (1945-2005)

Angaben zum Buch
Buchvorschau
Inhaltsverzeichnis
Quellenangaben

Über dieses Buch

60 Jahre sind in der Geschichte der Kirche eine kurze Zeit. Aber wenn man auf Deutschland blickt und insbesondere auf die Bundesrepublik, bietet die Zeitspanne von 1945 bis 2005 dem Betrachter ein Bild rasanter Veränderungen. Die evangelische Kirche und der Protestantismus waren in diese radikalen Umbrüche nicht nur verwickelt und eingebunden, sondern sie agierten von Anfang an gestaltend und prägend mit. Diesen Prozess in seinen Zusammenhängen zu entfalten und seine Kontexte zu erhellen, das ist Greschats Anliegen. Insofern leistet das Buch, was die unübersichtlich gewordene Fülle digitaler Informationen zum Thema nicht kann: Es gibt Orientierung. Christen sollten wissen, woher sie kommen. Denn nur dann sind sie befähigt, verantwortlich zu entscheiden, wohin sie gehen sollen.

Häufig gestellte Fragen

Gehe einfach zum Kontobereich in den Einstellungen und klicke auf „Abo kündigen“ – ganz einfach. Nachdem du gekündigt hast, bleibt deine Mitgliedschaft für den verbleibenden Abozeitraum, den du bereits bezahlt hast, aktiv. Mehr Informationen hier.
Derzeit stehen all unsere auf Mobilgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Mit beiden Aboplänen erhältst du vollen Zugang zur Bibliothek und allen Funktionen von Perlego. Die einzigen Unterschiede bestehen im Preis und dem Abozeitraum: Mit dem Jahresabo sparst du auf 12 Monate gerechnet im Vergleich zum Monatsabo rund 30 %.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja, du hast Zugang zu Der Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland (1945-2005) von Martin Greschat im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Theology & Religion & History of Christianity. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.

Information

Kapitel 1
Die Nachkriegszeit

1. DIE ZUSAMMENBRUCHGESELLSCHAFT
Keine andere Organisation besaß im zerstörten und besetzten Deutschland 1945 auch nur annähernd eine derart privilegierte Stellung wie die Kirchen.1 Sie durften ihre Gottesdienste und Gemeindeveranstaltungen unbehindert weiterführen. Ihr Personal und ihre Gebäude standen unter dem Schutz der jeweiligen Besatzungsmacht. Die von den Nationalsozialisten erlassenen antikirchlichen Gesetze wurden aufgehoben, die enteigneten Krankenhäuser, Schulen und Heime schrittweise zurückgegeben. Diese Regelungen basierten auf der Direktive Nr. 21 der im November 1944 in London gebildeten „Europäischen Beratungskommission“ (European Advisory Commission, EAC), der Vertreter aus Großbritannien, den USA und der Sowjetunion angehörten. Die Franzosen kamen erst später dazu. Obwohl die Sowjetunion, teilweise von Frankreich unterstützt, kein Verständnis für die Neubildung kirchlicher Jugend- und Sportvereine aufbrachte und darüber hinaus den Kirchen das Recht bestritt, die Kirchensteuern mit staatlicher Hilfe einzutreiben sowie die Weiterzahlung der Staatszuschüsse zu beanspruchen, bildete diese Direktive eine enorme Privilegierung der Kirchen und Religionsgemeinschaften, zumal die Alliierten sich trotz der unterschiedlichen Entwicklung in den eigenen Besatzungszonen im Wesentlichen an diese Abmachungen hielten. Die Kirchen hatten sich zwar auf den religiösen Bereich zu beschränken, unterlagen dabei jedoch lediglich einer indirekten Kontrolle durch die Besatzungsmacht und konnten im Übrigen ihre Belange selbstständig regeln. Sicherlich schloss das Spannungen und auch Konflikte mit der Militärregierung nicht aus. Dennoch besaßen die Kirchen eine herausgehobene Position in der deutschen Zusammenbruchgesellschaft, die sie befähigte, eine wichtige Rolle in der Öffentlichkeit der unmittelbaren Nachkriegszeit zu spielen.
Das Ausmaß der Zerstörungen in Deutschland war enorm. Millionen Menschen lagen im wahrsten Sinn des Wortes auf den Straßen. Dazu gehörten die Überlebenden aus den Konzentrations- und Arbeitslagern, Fremdarbeiter und Verschleppte. Unterwegs waren ebenso viele der rund 10 Millionen Evakuierten, darunter zahlreiche Kinder und Jugendliche, die man seit den ständig zunehmenden alliierten Bombenangriffen in angeblich sichere Gebiete des Reiches verschickt hatte. Auf den Straßen bewegten sich sodann die Kolonnen deutscher Kriegsgefangener und die Gruppen der Entlassenen. Mit ihnen mischten sich die vielen, die Familienangehörige oder Verwandte suchten. Doch die mit Abstand drückendsten Probleme entstanden durch die Flüchtlinge und Vertriebenen. Mit dieser pauschalen Bezeichnung pflegt man das Schicksal von rund 12,5 Millionen Deutscher zusammenzufassen, von denen etwa 5 Millionen aus den alten deutschen Siedlungsgebieten in Mittel-, Ost- und Südeuropa stammten, während rund 7 Millionen innerhalb der deutschen Grenzen von 1937 gelebt hatten, also östlich der Oder -Neiße-Linie. Für das Überleben dieser Menschen engagierten sich viele, auch Christen in der Ökumene. So schrieb z.B. der anglikanische Bischof Bell von Chichester im August 1945 im „Spectator“: „Die Wahrheit besteht darin, dass die Not im Reich von Tag zu Tag steigt und dass eine fürchterliche Hungersnot ausbrechen muss, falls nicht schleunigst Hilfe einsetzt. [...] Man muss die Flüchtlinge gesehen haben, um beurteilen zu können, was über sie hereingebrochen ist. Es gibt keine Worte, um ihr Elend beschreiben zu können. Sie haben noch das, was sie am Körper tragen und besitzen weder physische noch geistige Kraft.“2
Diese Flüchtlinge und Vertriebenen kamen in ein weitgehend zerstörtes Land, in dem die große Mehrheit der Menschen ebenfalls um ihr Überleben kämpfte. Luftangriffe und Bodenkämpfe hatten nicht nur Industrieanlagen, sondern auch das Transport- und Verkehrswesen zerschlagen sowie in hohem Maße Wohnraum. In den meisten Städten spielte sich das Leben in Trümmern ab. Die Kriminalität stieg steil an. Zumeist ging es um Eigentumsdelikte, daneben um Prostitution. Die Zahl der Ehe Scheidungen verdoppelte sich gegenüber der Vorkriegszeit. Dasselbe gilt für die unehelichen Geburten.
Dass eine totale Katastrophe vermieden werden konnte, lag am Familienzusammenhalt, an der landwirtschaftlichen Nutzung jedes auch noch so kleinen Fleckchens Land, aber eben auch an Geschäften auf dem Schwarzen Markt, am Betteln und Hamstern und nicht zuletzt an dem, was man „besorgen“, „organisieren“ oder „fringsen“ nannte – nach den Worten des Kölner Erzbischofs Joseph Frings, der 1946 in seiner Silvesterpredigt gesagt hatte: „Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der Einzelne das wird sich nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise durch seine Arbeit oder Bitten nicht erlangen kann.“3
Zu den Folgen des Hungers und der Kälte gehörte das Nachlassen der körperlichen und geistigen Leistungskraft. Viele Erwachsene und insbesondere Kinder hatten erhebliches Untergewicht. Zehntausende litten unter Hungerödemen. Im harten Winter 1946/47 erfroren allein in Berlin 285 Menschen, 53.000 mussten sich in dieser Stadt wegen Frostschäden ärztlich behandeln lassen. Die Kirchen informierten wiederholt mit bewegenden Berichten den Vatikan und die Ökumene über diese Zustände.
Alle diese Realitäten betrafen auch die kirchlich führenden evangelischen Kreise und die Pfarrer in den Gemeinden. Aber für sie galten darüber hinaus besondere Anforderungen, die sich aus ihrer Stellung ergaben. Speziell im Dorf und in der Kleinstadt zählten sie zu den Honoratioren, deren Wort und Beispiel galten. Bei der Übergabe ihrer Orte an die alliierten Truppen hatten Pfarrer oftmals unter Lebensgefahr daran mitgewirkt, die weiße Fahne zu hissen. Das Entgegenkommen oder die höfliche Respektierung der Geistlichen durch Offiziere und Soldaten aller vier Alliierten hoben das Ansehen der Pfarrer in der Bevölkerung, zumal sich nicht selten die Möglichkeit bot, Gespräche mit lokalen Vertretern der Militärregierung zu führen und innerhalb gewisser Grenzen zwischen Besatzungsmacht und Bevölkerung zu vermitteln.
Eine wesentliche Rolle spielte sodann das Pfarrhaus. Oft hatten Menschen, vor allem Frauen und Mädchen, während und in den Tagen nach der Besetzung hier Zuflucht gesucht. Darüber hinaus diente es als Notunterkunft, als Auskunftsbüro und Anlauf stelle für die vielfältigen Nöte und Probleme der Bevölkerung. Dabei teilten die Pfarrer und ihre Familien das Schicksal der Menschen um sie herum. Auch sie hungerten und froren, saßen im Dunkel ohne Licht, versuchten die miserable Ernährung aufzubessern. In der Einladung zur ersten Synode der Berlin-Brandenburgischen Kirche nach dem Krieg im Oktober 1945 hieß es: „Sollte jemand von Ihnen, was ich kaum zu hoffen wage, es möglich machen können, etwas Gemüse oder Kartoffeln für die Verpflegung der Synodalen nach Berlin bringen oder schicken zu können“, wäre das vortrefflich.4 Und über seine Pfarrer im Thüringer Wald urteilte ihr Superintendent im März 1947: „Erschütternd, wie alt und abgezehrt die allermeisten aussehen!“5
Die Kirche schien wieder gefragt. Eindeutig waren es die Pastoren. Die vorhandenen Berichte belegen, dass sie nicht selten über ihre physischen und psychischen Kräfte hinaus beansprucht wurden. Allein die Amtshandlungen erforderten viel Zeit und Kraft. Die Wiedereintrittsgesuche in die Kirche schwollen in den ersten Monaten nach dem Zusammenbruch mächtig an. Sie waren nicht nur mit seelsorgerlichen Gesprächen, sondern oft auch mit kirchlichen Trauungen sowie Taufen für die Kinder verbunden. Dazu kamen in der unmittelbaren Nachkriegszeit besonders viele Beerdigungen, nicht nur im Osten, sondern auch im Westen Deutschlands.
Zu den Erschwernissen der kirchlichen Arbeit gehörte sodann das Missverhältnis zwischen den durch die Flüchtlinge angewachsenen Gemeinden einerseits und einem empfindlichen Pfarrermangel andererseits. Dieses Problem existierte in fast allen Landeskirchen, vorrangig jedoch im Osten Deutschlands. Legt man die Zahlen von 1948 zu Grunde6, waren nach Kriegsende z.B. in der altpreußischen Kirchenprovinz Sachsen von 1718 Stellen nicht weniger als 696 unbesetzt. In der lutherischen Landeskirche Sachsens hatten von 1363 Gemeinden 274 keinen eigenen Pfarrer, in Thüringen fehlten246 Geistliche für die insgesamt 960 Pfarrstellen. So erstaunt die Feststellung nicht, dass diese Pfarrer durchweg überlastet und oft regelrecht ausgelaugt waren. Ein Zeitgenosse aus der pfälzischen Kirche notierte: „Wir Pfarrer sind vielfach körperlich überanstrengt, überarbeitet, leidend, geistig ermüdet, seelisch und geistig erschöpft, vom Kriege zermürbt.“7 Dieses Urteil lässt sich mitsamt der Feststellung generalisieren, dass auch in der kirchlichen Arbeit das Weitermachen überwog, das Weitergehen auf den gewohnten Wegen der traditionellen pfarramtlichen Tätigkeit. Treffend charakterisierte Martin Fischer, Pfarrer in Berlin und Dozent für Praktische Theologie an der dortigen Kirchlichen Hochschule, in einem Rundbrief im Januar 1946 die Lage: „Stille, treue Arbeit ihrer Diener, impotente Gesamthaltung. [...] Einmalige Chancen, erschöpfte Ideenlosigkeit und Mangel an Tatkraft. Erwachte Theologie, ewige Prolegomena und monotone Stilistik. Fragende Gemeinde, nicht erneuerte Predigt.“8
Über die Hinwendung der Menschen zur Kirche machten sich viele Gemeindepfarrer keine Illusionen. Die statistischen Daten bestätigen diese Skepsis.9 In den drei westlichen Besatzungszonen traten zwar 1947 rund 47.000 Menschen in die evangelische Kirche ein und 1946, auf dem Höhepunkt der Rückwanderung, waren es sogar ca. 75.000. Doch bereits 1949 standen den rund 43.000 Eintritten doppelt so viele Austritte gegenüber, ca. 86.000. Nüchtern konstatierte 1948 Helmut Thielicke, damals Professor für Systematische Theologie in Tübingen, dass sich „die weitaus meisten Menschen in Deutschland in einem Verhältnis mehr oder weniger großer Distanz zu den Kirchen befinden“.10
Die Alliierten hatten den Kirchen kein Schweigen auferlegt. Aber die immensen Anforderungen und Belastungen, mit denen sich die Pfarrer in der Zusammenbruchgesellschaft konfrontiert sahen, ließen ihnen faktisch weder Zeit noch Kraft zur Besinnung. So lief vieles weiter wie eh und je, zumal auch von den Kirchenleitungen keine inspirierenden Anregungen oder Anstöße ausgingen.
2. BESATZUNGSZONEN UND KIRCHENEINHEIT
Manche Pfarrer und erst recht die Gemeinden hatten in der unmittelbaren Nachkriegszeit den Eindruck, dass auch die evangelischen Landeskirchen vom allgemeinen Zusammenbruch betroffen wären. Ihre Fundamente schienen unterspült, sowohl durch die Auflösung der bestehenden rechtlichen Ordnungen als auch auf Grund der scheinbar halt- und ziellos auf den Straßen hin- und her wogenden Menschenmassen. Dabei beurteilten nicht wenige Theologen und Kirchenmänner die Auflösung der Landeskirchen positiv. So schrieb z. B. Martin Niemöller im November 1945: Ihre Grenzen, die nur hinderten und die „keinem kirchlichen Bedürfnis entsprungen sind, würden fortfallen [...], und dafür besteht ja gerade heute ein ganz großes Bedürfnis, wo ohnehin durch die großen Flüchtlingsströme und Umsiedelungen die Menschen wahllos durcheinandergewürfelt werden. Ich persönlich halte die ,Landeskirchen‘ ohnehin für abbruchsreif.“11 Doch es kam anders. Die Reorganisation der Landeskirchen erfolgte schnell. Bald waren sie wieder die beherrschenden Größen im deutschen Protestantismus, sodass sie auch den Aufbau und den weiteren Weg der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) entscheidend beeinflussten.
Die Auseinandersetzungen mit den Deutschen Christen und der nationalsozialistischen Kirchenpolitik hatten sich seit 1936 zunehmend auf der Ebene der Landeskirchen vollzogen. Dabei spielte im Lager der kirchlichen Opposition der Unterschied zwischen den mehrheitlich „zerstörten“, also von den Deutschen Christen regierten Kirchen, und den „intakten“, wo diese nicht die Mehrheit besaßen, eine wesentliche Rolle. Zu den Letzteren gehörten die Landeskirchen von Bayern, Württemberg und Hannover. Hier sah man oft nicht, was sich andernorts abspielte, vor allem in der großen Evangelischen Kirche der Altpreußischen Union (APU). Umgekehrt betrachteten die „Dahlemiten“ in dieser bruderrätlich organisierten Bekennenden Kirche – die also für die Durchsetzung des auf der 2. Bekenntnissynode in Berlin-Dahlem im Oktober 1934 verkündeten „kirchlichen Notrechts“ eintraten, womit sie den eigenen kirchenleitenden Anspruch gegenüber den Deutschen Christen verfochten – oft misstrauisch den kompromissbereiten kirchenpolitischen Kurs der „Intakten“. Dass die Kreise der Bekennenden Kirche dann 1945 überall in den „zerstörten“ Kirchen Leitungsfunktionen übernahmen, liegt auf der Hand. Denn nur durch den Zugriff auf die vorhandenen Führungspositionen und mit Hilfe des landeskirchlichen Apparats konnte man hoffen, die gewaltigen Herausforderungen zu bewältigen, mit denen sich die Kirche konfrontiert sah.
Die Grenzen der verschiedenen Landeskirchen stimmten natürlich nicht mit den Grenzen der Besatzungszonen überein. Aber sie wichen in aller Regel auch nicht allzu sehr davon ab. Erheblich komplexer waren die konfessionellen und wirtschaftlichen Unterschiede, die Differenzen im Blick auf Traditionen, soziale Strukturen sowie die Größe der Landeskirchen. Alles das lässt sich an den nicht weniger als 13 evangelischen Landeskirchen studieren, die auf dem Territorium der britischen Besatzungszone lagen. Doch trotz aller Unterschiede vollzog sich die kirchliche Neuordnung stets nach demselben Muster: Überkommene Gewohnheiten mitsamt der Beharrungskraft der Institutionen dominierten. Die Mitglieder der Bekennenden Kirche konnten nirgends allein die Leitung übernehmen.
Auf dem Gebiet der amerikanischen Besatzungszone lagen die Verhältnisse insofern etwas anders, als in ihrem Gebiet außer drei „zerstörten“ Kirchen auch die beiden „intakten“ Landeskirchen von Bayern und Württemberg existierten. Deshalb erschien hier eine Neuordnung nicht nötig, sodass beide Bischöfe Zeit und Kraft fanden, sich – in der Fortsetzung früherer kirchenpolitischer Ziele – der Organisation des gesamtdeutschen Protestantismus zu widmen. Das zäh und unbeirrbar seit den dreißiger Jahren angestrebte Ideal des bayerischen Landesbischofs Hans Meiser war eine große lutherische Kirche in Deutschland. Daneben sollten die sehr kleine reformierte und eine ebenfalls nicht allzu große unierte Kirche stehen. Denn die Unionskirchen würden sich, allen voran die Evangelische Kirche der APU, nach der keineswegs nur von Meiser vertretenen Auffassung im Wesentlichen in reformierte und vor allem lutherische Bekenntniskirchen auflösen. Der württembergische Landesbischof Theophil Wurm dagegen wollte seine 1941 begonnenen Bemühungen um die Einigung der zerstrittenen evangelischen Landeskirchen fortsetzen. Auf Grund seiner Eingaben gegen die nationalsozialistischen Verbrechen war er über seine Landeskirche hinaus bekannt geworden. Wurms Zielsetzungen verdichteten sich schließlich 1943 in 13 Sätzen über „Auftrag und Dienst der Kirche“, die vor dem Hintergrund der Niederlage von Stalingrad besondere Aktualität erlangten. Selbstverständlich fehlten die Kritiker nicht. Doch es gelang Wurm noch vor Kriegsende, die Zustimmung von Vertretern sämtlicher kirchenpolitischer Richtungen – mit Ausnahme der Deutschen Christen – zu seinem Einigungswerk zu gewinnen.
In der französischen Zone lag lediglich das Gebiet der pfälzischen Landeskirche ausschließlich im Bereich dieser Zone. Nicht zuletzt auf Grund der politischen Pläne, die die Franzosen anfangs mit dem neu gegründeten Land Rheinland-Pfalz verfolgten, verfügten sie die Absetzung der im Oktober 1945 gebildeten Kirchenleitung und setzten die Wahl eines ihnen genehmen Kirchenpräsidenten durch.
In den acht evangelischen Kirchen, die auf dem Territorium der sowjetischen Besatzungszone lagen, ging die Neuordnung in prinzipiell derselben Weise wie in der britischen und amerikanischen Zone vor sich. In Berlin übernahm der 1933 zwangspensionierte Generalsuperintendent Otto Dibelius unmittelbar nach der Eroberung der Stadt schnell und zielbewusst die Leitung sowohl der Evangelischen Kirche der APU als auch der zu ihr gehörenden Kirchenprovinz Berlin-Brandenburg. Allerdings musste er dann hinnehmen, dass sich die beiden westlichen Kirchenprovinzen Rheinland und Westfalen von der APU lösten und sich als selbständige Kirchen konstituierten.
Viele Gemeinsamkeiten und jedenfalls kein radikaler Bruch lassen sich, mannigfachen Unterschieden zum Trotz, im Blick auf alle 27 Landeskirchen konstatieren, die 1945 in den vier Besatzungszonen Deutschlands existierten. Der kirchliche Neuanfang hatte sich dort durchweg seit den ausgehenden dreißiger Jahren angebahnt. Die stärksten Veränderungen gab es im personellen Bereich. Aber auch da betraten keine wirklich neuen Persönlichkeiten die Bühne. Sicherlich spielten Mitglieder der Bekennenden Kirche jetzt in sämtlichen Kirchenleitungen eine Rolle. Doch zum einen trat dabei sehr deutlich zu Tage, dass es sich bei der Bekenntnisfront um eine ausgesprochen heterogene Größe gehandelt hatte. Und zum andern gab es keine Kirchenleitung, in der ausschließlich Vertreter der Bekennenden Kirche saßen.
Trotz der chaotischen Zustände in Deutschland kamen aber auch die Bemühungen um eine gemeinsame Organisation aller evangelischen Landeskirchen zügig voran. Hier begegneten sich vor allem drei Konzeptionen: Die eine bildete, wie erwähnt, Wurms Kirchliches Einigungswerk. Auch von der anderen, nämlich Meisers Zielsetzung, war die Rede. Und schließlich existierte der Reichsbruderrat, geführt von Martin Niemöller, in dem starke Gruppen am bruderrätlichen kirchenleitenden Anspruch festhielten mitsamt der Forderung des Neubaus der Kirche von unten, von den Gemeinden her. Dass zumindest die beiden letztgenannten Leitbilder einander diametral widersprachen, liegt auf der Hand. Die allgemein ak...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Über den Autor
  4. Impressum
  5. Vorwort
  6. Inhaltsverzeichnis
  7. Kapitel 1: Die Nachkriegszeit
  8. Kapitel 2: Die Ära Adenauer
  9. Kapitel 3: Ein Jahrzehnt der Umbrüche
  10. Kapitel 4: Unruhige Beruhigungen
  11. Kapitel 5: Im vereinten Deutschland
  12. Abkürzungen
  13. Quellen- und Literaturverzeichnis
  14. Personenregister
  15. Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen (KGE)
  16. Endnoten