Zu wandeln die Zeiten
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Zu wandeln die Zeiten

Erinnerungen

  1. 400 Seiten
  2. German
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Zu wandeln die Zeiten

Erinnerungen

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Über dieses Buch

Ein Akteur der deutschen Einheit erinnert sichMarkus Meckel ist bekannt als langjähriger SPD-Bundestagsabgeordneter und ein Außenpolitiker, der sich bis heute aktiv um eine europäisch orientierte Erinnerungskultur und die Aufarbeitung der Diktaturen des 20. Jahrhunderts bemüht. In besonderer Weise ist sein Name jedoch in der Öffentlichkeit mit der Oppositionsbewegung in der DDR verbunden, mit der Friedlichen Revolution von 1989 und dem Prozess der Deutschen Einheit.Mit Martin Gutzeit initiierte er die Gründung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR und saß als ihr Vertreter am Runden Tisch. Nach der freien Wahl in der DDR führte er zeitweise die Ost-SPD und verhandelte als Außenminister die deutsche Einheit. In seinen Erinnerungen beschreibt er seinen besonderen Weg in der DDR, der ihn, den Pfarrerssohn, zum Politiker werden ließ.Markus Meckel – Akteur und Beobachter des großen Zeitenwandels – legt mit seinen "Erinnerungen" ein unersetzliches Stück Zeitgeschichtsbertrachtung vor.

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Information

Jahr
2020
ISBN
9783374065776

VIERTER TEIL:

Die demokratische DDR und der
Prozess der deutschen Einheit (1990)

1. Kapitel: Die freie Wahl in der DDR –
der schwierige Weg zur Koalitionsregierung

Politik als Beruf

Es war mir nicht sofort bewusst, doch mit der freien Wahl in der DDR begann für mich eine neue Lebensphase. Natürlich: Wir hatten es geschafft! Nun galt es, eine Demokratie aufzubauen und zu gestalten. Danach hatten wir uns gesehnt, darauf hatten wir hingearbeitet. Zugleich hatte sich meine persönliche Lebenssituation verändert: Fast unmerklich, aber zwangsläufig hatte ich den Beruf gewechselt. Ich war zum Politiker geworden, ohne dies intendiert oder angestrebt zu haben. Zwar gab es in der DDR Menschen, die nur aus dem Grund, dass sie woanders keine Möglichkeit hatten, in der Kirche arbeiteten. Doch bei mir war das anders. Ich hatte mein Leben lang Pastor werden wollen, hatte mit Leidenschaft Theologie studiert und dann diesen Beruf ausgefüllt. Der Wechsel vom Gemeindepfarramt in die Aufgabe, eine ökumenische Begegnungs- und Bildungsstätte aufzubauen und zu leiten, war für mich ein jahrelang angestrebter Traum gewesen. Nun hatte ich diese Stelle – und verließ sie so schnell wieder. Meine Frau und die Familie waren mir gefolgt, obwohl es für sie nicht leicht gewesen war. Sie hatten alles mitgetragen und ihre eigenen Interessen zurückgestellt. Konrad musste umgeschult werden. Er hatte sich in Mecklenburg unter schwierigen Bedingungen gut eingelebt – und fand dann am neuen Ort keinen Anschluss mehr. Erst war er der Sohn des Mannes, vor dessen Tür ständig die Stasi stand, dann war er plötzlich der Sohn des Außenministers. Beides war für seine Integration in die Klassengemeinschaft nicht förderlich. Das alles war sehr schmerzlich – aber doch alternativlos in dieser Situation. Das politische Engagement war immer ein Element meines Christseins und kirchlichen Lebens gewesen. Nun aber war es zu meinem Beruf geworden. Dass es dabei bleiben würde, wusste ich damals noch nicht. Es war kein bewusster, dauerhafter Abschied von meiner kirchlichen Tätigkeit, es war schlicht die Konsequenz aus dem, was vorher geschehen war. Man kann in einer solchen Situation keine Partei gründen und dafür werben, politische Verantwortung zu übernehmen, und dann selbst abseitsstehen.
Mit dem Beginn meiner Zeit als Parlamentarier im März 1990 war ich nun ständig in Berlin. Als Christina erzählte, dass Tilman, unser jüngster Sohn, an den Fernseher ging, wenn ich dort auftauchte, um mich zu streicheln, hat mich das tief berührt. Als eine Rückkehr in den kirchlichen Dienst im Juli 1990 unmöglich wurde, entließ man mich aus dem Dienst der Kirche. Verbunden damit zog auch die Familie Mitte des Monats nach Berlin – und ein Mitarbeiter half, da ich an diesem Tag nach Washington flog. Da es noch keinen freien Wohnungsmarkt gab, wurde unser Haus am Rande Berlins von einer Regierungsstelle gesucht. Das griffen die Zeitungen gleich auf und ich wurde verdächtigt, nur meine Schäfchen ins Trockene bringen zu wollen.
Mit diesem »Berufswechsel« und der Tatsache, dass ich plötzlich zu einer öffentlichen Person geworden war, ergab sich die Notwendigkeit einer neuen Kleiderordnung. Damit hatte ich zunächst Schwierigkeiten und beobachtete, wie dies auch bei anderen Politikern der Fall war, die früher Dissidenten gewesen waren. Am Eindrücklichsten ist das von Václav Havel in einem wunderbaren Dokumentarfilm dokumentiert. In Deutschland ist ein solcher »Kulturbruch« bei Joschka Fischers Minister-Vereidigung in Turnschuhen im Gedächtnis geblieben. Ich hatte mich seit jeher gern leger gekleidet und es auch als Pastor weitgehend vermieden, einen Anzug zu tragen. Als Pastor in Mecklenburg trug ich unter dem Talar eine schwarze Cordhose und ein weißes Hemd, im Winter einen von meiner Mutter gestrickten schwarzen Pullover darüber. Im Herbst 1989 begann ich dann, das gebrauchte karierte Jackett meines verstorbenen Onkels zu tragen. Als ich im März 1990 meine erste Reise in die USA vorbereitete – gemeinsam mit Horst Ehmke und Dietrich Stobbe von der SPD-Bundestagsfraktion sowie Hans Misselwitz –, sprach mich Rolf Schmachtenberg an und meinte, ich sollte mir einen Anzug kaufen. Da ich mich etwas hilflos zeigte, ging er mit mir im Westen Berlins in ein Fachgeschäft und kaufte mir einen dunklen, gestreiften Anzug, der für einige Wochen mein einziger Anzug war und dann auch auf manchen Fotos als Außenminister zu sehen ist.

Das Wahlergebnis am 18. März

Die Wahl am 18. März 1990 war eine zutiefst ambivalente Erfahrung. Wie lange hatten wir dafür gekämpft, in der DDR eine Demokratie zu errichten! Jetzt war es geschafft. Dass von nun an gewählte politische Kräfte den künftigen Weg gestalteten, war die Erfüllung einer tiefen Hoffnung, die ich die längste Zeit meines Lebens gehegt und an deren Verwirklichung ich nicht ge­glaubt hatte. Und ich hatte selber dazu beitragen. Das machte mich stolz. Zugleich bedeutete das Wahlergebnis aber auch das jähe Ende der hochfliegenden Träume, eine künftige Regierung führen zu können. Noch Anfang des Jahres hatte die Presse uns Sozialdemokraten als Wahlsieger hochgeschrieben. Es war sogar von absoluter Mehrheit die Rede, was ich schon damals als Wahlkampf gegen uns bezeichnet hatte, diente es doch dem Ziel, jegliche Mobilisierung zu verhindern und alles für gelaufen zu erklären. Ab Anfang März hatte die West-CDU mit einem hohen finanziellen Aufwand für die Allianz eine Materialschlacht in Gang gesetzt. Hinzu kam der strategische Vorteil, über den landesweiten Parteiapparat der Blockpartei zu verfügen, das Personal und die Zeitungen der Ost-CDU. Dem hatten wir als neu gegründete Partei ohne jede Infrastruktur und auch nur annähernd vergleichbare finanzielle Unterstützung wenig entgegenzusetzen. Zwar organisierte die West-SPD bei uns zahlreiche Rednereinsätze mit Willy Brandt, Hans-Jochen Vogel, Johannes Rau, Egon Bahr und vielen anderen. Doch hatten wir weder die Strukturen noch das Personal, um in der Fläche entsprechend präsent zu sein und die Veranstaltungen angemessen vorzubereiten. So war in den letzten zwei Wochen vor der Wahl die Stimmung mehr und mehr gekippt. Die von der Koalition in Bonn unterstützten Parteien fuhren mit 48 % einen haushohen Sieg ein. Natürlich galt dieser nicht den Blockparteien, die noch wenige Wochen zuvor die Trittbrettfahrer der SED gewesen waren und sich gerade mal seit wenigen Wochen von dieser vorsichtig distanziert hatten. Der Sieg galt den Koalitionsparteien der Bundesregierung und ihren Partnern, von der die DDR-Bürger in ihrer großen Mehrheit erwarteten, sie sollen die Einheit jetzt so schnell wie möglich vollziehen. Mir war kurz vor der Wahl erzählt worden, dass ein älteres Ehepaar bei einer der etwa 20 Wahlveranstaltungen, die Willy Brandt in der DDR machte, auf ihn zugegangen war und ihm gesagt habe: »Eigentlich wollen wir ja Sie wählen, denn Sie verehren wir! Doch diesmal müssen wir die CDU wählen, denn die haben das Geld!« Ähnliches konnte man immer wieder hören. Die Menschen folgten den Versprechungen des westdeutschen Kanzlers und handelten nach den Erkenntnissen, die sie in der DDR gelernt hatten: Die SED ist die Partei der Arbeiterklasse, die CDU dagegen die des Kapitals. Die SPD aber war die Verräterin der Arbeiterklasse. So wählte man die »echte Alternative«, zumal sie im Westen regierte und medial allgegenwärtig war. Dazu kamen die aggressiven und beleidigenden Diffamierungen gegenüber der SPD, von denen ich schon schrieb. Gerade in den »Tälern der Ahnungslosen«, wie die Regionen der DDR genannt wurden, in denen die westlichen Fernsehsender nicht gesehen werden konnten, ließen sich die Menschen in die Irre führen. Ihnen wurde glauben gemacht, Willy Brandt wäre wie Erich Honecker. In diesen Gebieten stiegen die Stimmen für die CDU sprunghaft um ca. 5 % an.
Bereits dieser erste Wahlkampf war für mich eine zwiespältige Erfahrung. Hier hatten differenzierende, sich um Erkenntnis bemühende Argumente keinen Platz. Die Menschen nicht zum Denken anzuregen, sondern zur platten Gefolgschaft aufzufordern – das war ich nicht gewohnt und es widerstrebte mir. Klare, kurze Botschaften zu geben, ohne Argumente, ohne Für und Wider, hatte ich nicht gelernt. Das zeigte sich besonders im für mich anfangs schwierigen Umgang mit Medien. Dazu kamen die öffentlichen Lügen und Diffamierungen durch die CDU und DSU – Unterstellungen, die uns in die Nähe der SED-PDS rückten, im Konkreten vor Ort vorgetragen von Leuten, die meist lange mit der SED im Bett gewesen waren. Ich hatte zwar Erfahrungen damit, mich von der Stasi nicht kaputtmachen zu lassen. Angesichts solcher schamlosen Attacken war ich jedoch fassungslos.
Viele waren von diesem Wahlergebnis entsetzt, auch Willy Brandt und Hans-Jochen Vogel. Die Führung der West-SPD hatte – wohl mehr noch als wir selbst – fest mit unserem Wahlsieg gerechnet und sich damit einen neuen Schub für die anstehende Bundestagswahl versprochen. Wir hatten das auch gehofft, doch hatten mich in den Tagen zuvor mehr und mehr Zweifel beschlichen. Am Wahlabend musste ich das Ergebnis vielfach kommentieren. Natürlich war auch ich enttäuscht, aber nicht wirklich existentiell betroffen. Zumindest war damit klar, dass Ibrahim Böhme nicht Ministerpräsident wird, was in meinen Augen absehbar in einer Katastrophe geendet hätte. Mit 21,8 % war die SPD die einzige aus der Opposition zur SED kommende politische Kraft, die ein nennenswertes Wahlergebnis vorweisen konnte. Die im »Bündnis 90« zusammengefassten demokratischen Initiativen kamen überhaupt nur ins Parlament, weil es keine Fünf-Prozent-Hürde gab. Nachträglich erwies es sich als wirklich wichtig, dass diese Hürde – entgegen unserer Absicht damals – nicht eingeführt worden war, denn es wäre nicht gut gewesen, wenn diese Mitstreiter in den Zeiten der Diktatur und in der Friedlichen Revolution nicht im Parlament gewesen wären. Der DA war völlig abgestürzt, nachdem in den Tagen vor der Wahl Wolfgang Schnur als Agent der Staatssicherheit entlarvt worden war.
Nach den enttäuschten Erwartungen bei der Wahl folgte für die SPD wenig später eine schwere Krise durch die öffentliche Enttarnung von Ibrahim Böhme als Stasiagent. Am Tag nach der Wahl hatte ihn der SPD-Vorstand noch als Fraktionsvorsitzenden nominiert, zu dem er am darauffolgenden Mittwoch von der Fraktion mit einer überwältigenden Mehrheit gewählt wurde. Seine Beliebtheit in der SPD und weit darüber hinaus war im Osten wie im Westen groß. Die Journalisten hingen an seinen Lippen und umringten ihn, wo immer er auftrat. Schon zur konstituierenden Fraktionssitzung, in der er gewählt wurde, kam er später, er begründete es in einem Brief an Martin, Stephan und mich mit seinem angeschlagenen Gesundheitszustand.125 Er wohnte in diesen Wochen nicht in seiner Wohnung in der Chodowieckistraße, wegen Drohbriefen, die er erhalten habe. Gerhard Hirschfeld, der Kontaktmann zu Hans-Jochen Vogel, hatte ihn in Westberlin im Hotel Seehof am Lietzensee untergebracht. Dort war er für uns meist nicht erreichbar, von Hirschfeld und der ebenfalls aus der Baracke geschickten Sekretärin Ulla Vollert, die später als Agentin der HVA enttarnt wurde, wurde er regelrecht abgeschirmt. Das war nun schon wochenlang so gegangen. Es schien sich fortzusetzen. Wie wir unter diesen Umständen politisch verbindlich arbeiten und Entscheidungen seriös vorbereiten und treffen sollten, war schleierhaft. Dabei gab es dringenden Gesprächsbedarf, denn wir waren in der zentralen Frage der Regierungsbildung unterschiedlicher Meinung. Nach der ersten Reaktion am Wahlabend mit der Aussage, dass Opposition nun unsere Rolle sei, war ich fest davon überzeugt, dass wir eine Koalition anstreben sollten. So wollte ich mit Richard Schröder, Martin Gutzeit und Reinhard Höppner auf die CDU zugehen, um Möglichkeiten einer Koalition auszuloten. Böhme war strikt dagegen, entzog sich aber dem Gespräch.

Der Absturz Ibrahim Böhmes

Am 23. März erhielten wir einen Brief von Böhme, in welchem er erklärte, er müsse sich aus gesundheitlichen Gründen »an einen unbekannten und von mir nicht benannten Ort« zurückziehen. Gleichzeitig bezog er sich darauf, dass er von Journalisten erfahren habe, dass eine »Kampagne« gegen ihn zu erwarten sei mit der »Verleumdung«, er habe für die Staatssicherheit gearbeitet. Bis zur Klärung dieser Fragen, die einige Zeit beanspruche, wolle er seine Ämter ruhen lassen. Für die Fraktion bat er Richard Schröder darum, bis dahin den Vorsitz zu führen. Für die Partei benannte er Karl-August Kamilli. Erst später erfuhr ich, dass er vom »Spiegel« über die bevorstehende Veröffentlichung informiert und ihm die Möglichkeit eingeräumt worden war, dazu Stellung zu nehmen. Ich wusste ebenfalls nicht, dass am selben Tag in Bonn ein Gespräch zwischen Böhme und Hans-Jochen Vogel stattfand, zu dem ihn Hirschfeld gebracht hatte. Daran nahmen auch Richard Schröder und Karl-August Kamilli teil.126 In den Tagen darauf war Böhme wieder nicht erreichbar, erst Jahre später erfuhr ich durch Veröffentlichungen, dass Gerhard Hirschfeld ihn in sein Haus bei Bonn gebracht hatte. Erst am 1. April gelang es mir, durch Vermittlung von Hirschfeld mit Böhme zu telefonieren, der nach einem Nervenzusammenbruch in einem Westberliner Krankenhaus lag. Als ich am selben Tag dort auch persönlich mit ihm sprechen wollte, war er schon nicht mehr da. Zwei Tage später war in den Zeitungen von einem Selbstmordversuch die Rede. Gegen den Rat von Richard Schröder und mir hatten der Vorstand am 26. März und die Fraktion am Tag darauf, unmittelbar nach der Spiegelveröffentlichung, Böhme das Vertrauen ausgesprochen und gegen die »Verleumdung der Medien« protestiert. Wir dagegen hatten beide zur Zurückhaltung gemahnt. Beide Gremien erwarteten Böhmes Rückkehr nach kurzer Zeit. Ohne Schröder und mich zu informieren, organisierte Hirschfeld über den SPD-Vorstand in Bonn die Rechtsanwälte von Sell und Seibert. Mit diesen nahmen Böhme und Hirschfeld dann am 30. April beim »in Auflösung« befindlichen Amt für Nationale Sicherheit in der Normannenstraße Einsicht in Böhmes Akten. Außer den Genannten nahmen noch aus der SPD Karl-August Kamilli und Dankward Brinksmeier sowie Monsignore Ducke an der Einsicht teil. Anschließend informierte Hirschfeld uns beide über eine Reihe schwer durchschaubarer Details und erweckte den Eindruck, dass eine echte Stasi-Belastung nicht nachweisbar sei. Schröder und ich waren jedoch der Überzeugung, dass dieser Zustand nicht mehr haltbar sei und Böhme zurücktreten müsse. Am 1. April erreichte uns dann ein handschriftliches Schreiben von Böhme. Er erklärte, er sei »den ständigen Nachstellungen durch die Medien auch gesundheitlich nicht gewachsen«, er wolle sich der aufwendigen Aufklärung der Vorwürfe und seiner angeschlagenen Gesundheit widmen und lege deshalb die Ämter in Partei und Fraktion nieder. Nach wie vor behauptete er, das »Dossier« sei eine Unterstellung und solle ihn als Person und »auch unsere noch junge Demokratie« belasten.127
Nun, damit waren wir wenigstens endlich handlungsfähig – so dachte ich. Neben Richard Schröder kandidierte auch Walter Romberg am 3. April für den Fraktionsvorsitz. Richard wurde mit überwältigender Mehrheit gewählt. Er hatte sich eine allseits geachtete Stellung erobert. Sehr viel komplizierter war es auf der Parteiebene. Im Vorstand hatte Böhme eine starke Gefolgschaft, man folgte ihm auch weitgehend in der Ablehnung der Beteiligung an einer künftigen Regierung. In der Sitzung des Vorstandes am 2. April lehnte Kamilli die Übernahme des amtierenden Vorsitzes ab. Ich kandidierte, erhielt aber in dieser Sitzung mit 9 Stimmen, 6 Gegenstimmen und 5 Enthaltungen nicht die nötige Mehrheit. Das geschah dann erst nach dem Parteirat in der Sitzung am 8. April. Trotzdem wurde schon am 2. April öffentlich verkündet, dass ich bis zu einem Sonderparteitag die Partei führen werde. Das war alles kein Vergnügen. Ich musste die Zähne zusammenbeißen, um das durchzustehen.
In den Wochen seit dem Parteitag im Februar war viel Kommunikation an mir vorbei gelaufen. Die klare hierarchische Struktur der West-SPD wurde auch auf uns übertragen und so konzentrierte sich alles auf Böhme – der zwar in diesen Wochen öffentlich geglänzt, aber nicht wirklich die Partei geführt hatte. Gemeinsame Entscheidungen hatte es nicht gegeben. Das sollte nun anders werden, war aber angesichts der Gemengelage ein schwieriges Unterfangen. Böhme blieb nach seinem Rückzug wieder für zwei Wochen verschwunden. Wieder war es Hirschfeld, der ihn mit in die Toskana nahm. Seine Art, die Kontakte zwischen Ost- und West-SPD zu gestalten, war nicht das, was wir brauchten. Glücklicherweise hatte Hans-Jochen Vogel inzwischen mit Dietrich Stobbe, dem früheren Berliner Regierenden Bürgermeister, einen Koordinator der Beziehungen benannt, den ich sehr schätzte. Er wurde zu einem Berater und Begleiter, wie man ihn sich nur wünschen konnte. Unter seiner und Walter Zöllers Ägide gab es eine Beziehung auf Augenhöhe. Angesichts der Fülle der Aufgaben wuchs der Mitarbeiterstab im Westberliner Kontaktbüro recht schnell beträchtlich an.
Aus heutiger Sicht ist kaum vorstellbar, vor welchen Aufgaben wir nach der ersten freien Wahl in der DDR standen, allein schon, um einen funktionierenden Parlamentsbetrieb zu etablieren. Die Volkskammer hatte vorher ja nicht als wirkliches Parlament gearbeitet. Als einzige der politischen Kräfte waren wir uns bewusst, dass alles neu geschaffen werden musste. Martin Gutzeit hatte mit Christoph Matschie, Susanne Seils und Rolf Schmachtenberg und mehrfacher Beratung durch Hans-Peter Schneider und Konrad Porzner Geschäftsordnungen entworfen sowie Vorarbeiten für Gesetzgebungspläne erstellt. Schon vor der Wahl hatten wir die Kandi...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Über den Autor
  4. Impressum
  5. Vorwort
  6. Inhalt
  7. Erster Teil: Jugend und Studienjahre in der DDR (1952–1980)
  8. Zweiter Teil: Pastor in der DDR – oppositionelle politische Arbeit – Ökumene (1980–1989)
  9. Dritter Teil: Friedliche Revolution und Runder Tisch (1989/90)
  10. Vierter Teil: Die demokratische DDR und der Prozess der deutschen Einheit (1990)
  11. Ausblick
  12. Danksagung
  13. Archive und Literatur
  14. Personenregister
  15. Endnoten
  16. Abbildungsnachweis
  17. Weitere Bücher