In Abwandlung einer These Ludwig Wittgensteins können wir sagen: »Die stillschweigenden Abmachungen zur Geltung und zum Verständnis biblischer Rede sind enorm kompliziert«.33 Es scheint so zu sein, dass wir uns mit unseren Erklärungen zur biblischen Schriftautorität so vor diese Schrift selbst bringen, dass das Verständnis der unausgesprochen wirksamen Abmachungen zu Auslegung und Wirksamkeit der Schrift teils eher verdunkelt als erhellt werden.34 Auch besteht die Gefahr, bei der Darstellung des Schriftprinzips zu begründen, was nicht zu begründen ist, sondern selbst dazu da ist, unserem Reden von Gott und uns einen Grund zu geben.
Dennoch kommen wir nicht umhin, nach der Art dieser Geltung zu fragen, wenn wir nicht einer unverstandenen und also willkürlichen Autorität folgen wollen. Denn wenn wir nicht wissen, auf welche Weise der Bibel Autorität zukommt, wie wollen wir ihr dann verstehend nachdenken und folgen?
Dabei kann die Frage nach der Geltung der Schrift so beantwortet werden, dass entweder gleichsam der Schriftbestand durch einen externen Faktor gesichert wird (durch die mündliche Tradition, die Autorität einer Institution oder einer Person) und ein entsprechendes Zusammenspiel dieser beiden Größen entsteht; oder aber die Autorität der Schrift wird so beschrieben, dass sie die sich auf diese Schrift beziehende Glaubensgemeinschaft sichert und begründet, ohne dass diese Schrift selbst einer weiteren Begründung oder Sicherung bedarf.
Im westlichen Christentum werden diese Ansätze auf der einen Seite durch die auf dem Konzil zu Trient formulierte Lehre von Schrift und Tradition entwickelt; auf der anderen Seite durch das so genannte Schriftprinzip, wie es die Reformatoren entwickelten.35
Dabei hat hier wie dort die Metaphorik mündlicher und schriftlicher Medialität eine normierende Funktion. Während Trient »geschriebene Bücher« und »ungeschriebene Traditionen« nebeneinander stellt als zwei sich bedingende Autoritäten,36 spricht Luther von der Mündlichkeit, die dem Schrift gewordenen Evangelium eigen ist.37 Worin bestand aber die Notwendigkeit, die Autorität der Schrift so oder so zu fassen?
Am Anfang der Auseinandersetzung um die Geltung der Bibel in der Zeit der Reformation steht die Frage, wie wir Gewissheit über den Grund des christlichen Glaubens erlangen. Luther selbst akzeptiert dabei das »von allen mündlich und schriftlich gebrauchte, aber nur von wenigen verstandene« Argument aus den Kanones der Päpste, dass die Schrift nicht nach eigenem Geist auszulegen sei.38 Er wirft jedoch seinen Gegnern vor, dass sie selbst diese Grundlage verlassen haben; schließlich haben sie »die Heiligen Schriften beiseite gelegt« und sich »allein in die Kommentare der Menschen versenkt, nicht indem sie dasjenige suchen, was die Heiligen Schriften meinen, so weit, dass sie einem einzigen Menschen, dem römischen Papst, der nur von den ungelehrtesten Sophisten umgeben ist, allein das Recht zuzugestehen, die Heiligen Schriften auszulegen«.39
Unabhängig von der Frage des historischen Abstands zwischen der biblischen Schrift und dem Ausleger ist damit die grundsätzliche Spannung zwischen Sache, Autor und Leser eines Textes benannt. Wie findet der Textsinn Eingang in den sensus proprius des Menschen?40 Welches Kriterium ist gegeben, um diese Verstehensleistung zu unterscheiden von der gegenläufigen: dass unser sensus proprius zum Sinn des Textes erklärt wird?
Luther löst diese Problematik, indem er voraussetzt, dass die Schrift per ipsa per sese certissima, facillima, apertissima, sui ipsius interpres sei.41 Diese Voraussetzung ist nicht aus der Erfahrung gewonnen, sondern aus der biblischen Schrift selbst, in der geschrieben steht, dass »der Eingang deiner Worte erleuchtet und gibt Erkenntnis den Kleinen«. Die Worte der Schrift sind die Worte Gottes und als solche das »erste Prinzip«, von dem aus alle anderen Worte zu beurteilen sind.42 Wenn dem so ist, wird die Frage jedoch umso dringlicher, wie der sich selbst interpretierende Textsinn zum Sinn des Lesers wird, und auf welche Weise beurteilt werden kann, dass dies der Fall ist. Luther hält es dabei nicht für einen dem Dogma von der sich selbst interpretierenden Schrift widersprechenden Unfall, dass der Textsinn sich dem Leser nicht zwangsläufig imponiert. Die Heilige Schrift biete den Hoffärtigen und Gottlosen »immer Gelegenheit zu größerer Blindheit.«43 Den Anderen jedoch, die nicht mit sich, sondern mit dem Wort Gottes anfangen, verleiht der Geist Erleuchtung, indem er »unseren Geist austreibt«. Es ist also der Geist, der sua sponte komme und dieses Geschehen an jenen wirke, die »sich mühen um die Worte Gottes.«44
Diese Bewegung vom geistgewirkten Wort, das uns in der Schrift überliefert ist, und sich durch eben diesen Geist dem Leser als fremdes Wort vermittelt, indem es den spiritus proprius austreibt, ist nicht umkehrbar: Sint ergo Christianorum prima principia, non nisi verba divina, omnium autem hominum verba, conclusiones hinc eductae et rursus illuc educendae. 45
Um diese geistliche Bewegung in Gang setzen zu können, bedarf es eines gesetzten Ausgangspunktes. Insofern hat die Schriftlichkeit und gewisse Umgrenztheit des Kanons theologisches Gewicht. Wäre der Kirche das göttliche Wort als allein mündliches (und durch sie weiter vermitteltes, dann aber auch nicht mehr jenseits der Kirche definiertes) gegeben, stünde sie in der Gefahr, nur noch mit sich im Gespräch zu sein.46 In seiner Erklärung zur Mündlichkeit des Evangeliums weist Luther ja zugleich dem Alten Testament eine bedeutungsvolle Schriftlichkeit zu, die die Kirche davor bewahren könne, sich den päpstlichen Dekretalen hinzugeben. Das Evangelium weist die Christen eben in die »Schrift« (also in diesem Zusammenhang in das Alte Testament im Gesamtzusammenhang der beiden Testamente), nicht in die menschliche Lehre, wie sie von Theologen oder dem kirchlichen Lehramt verkündet wird.47
Sache, Autor und Leser der Bibel bleiben so aufeinander verwiesen: der Text wird nicht Sache des Lesers oder einer auslegenden Institution; der Autor bleibt im Geschehen und bewahrt den Text davor, einzig »Schriftwort« zu sein, dessen Urheber uns nichts mehr angeht.
Denn »am Lichte« ist nach Luther durch die Bibel nicht eine Sache, die mehr oder weniger verständlich ist, sondern die jetzt noch gültige und wirksame Tatsache, dass Christus Gottes Sohn ist, der für uns gelitten hat und herrschen wird in Ewigkeit.48 Dieses Thema und dieser Inhalt geben vor, dass Leser, Autor und Sache der Schrift in einer Beziehung stehen, die die Existenz von Leser und Sache der Schrift vermitteln: der Leser versteht den Text, kein anderer für ihn. Er versteht ihn, insofern er wahrnimmt, dass der »Christus für uns« Inhalt der Bibel ist. Die Lektüre vermittelt ihm dies unabhängig von seiner Zustimmung oder Glaubenserfahrung. Jedem liegt dieser Inhalt der Schrift klar vor Augen. Sofern der Leser dieses Geschehen auf sich bezieht, wird ihm die Schrift durch den Geist Gottes auch »innerlich klar« – er weiß nicht allein, dass dieser Christus für uns gestorben ist, sondern erfährt dies an seiner eigenen Person. Darauf – also auf den Glauben des Lesers – zielt die Schrift. Der Autor der Schrift bleibt insofern »lebendig« – also aktueller Bezugspunkt für den Lesenden –, als der Leser durch den Bezug zur Sache in Gottes Wirkungsbereich hineingenommen wird.
Die protestantische Lösung dringt also darauf, dass nicht die Kirche zum sanktionierten Träger der rechten Auslegung werde, sondern allein Gott die »sanktionierende« und rechtfertigende Größe gegenüber dem einzelnen Menschen bleibe; die katholische Lösung hingegen läuft darauf hinaus, dass eine sanktionierte Gestalt von Kirche sichtbar wird, die dann den sensus Dei gegenüber ihren Gliedern vermittelt. Die evangelische Rede von der »Mündlichkeit der Schrift« setzt also voraus, dass der Autor der Schrift – Gottes Geist – bei der Lektüre der Bibel mitredet, bzw. die Lebendigkeit Gottes bei der Auslegung der Schrift methodisch zu bedenken ist.
2.Lesen, Hören, Verstehen. Die Diskussion um die Autorität der Schrift
2.1Autorität
Der in der Zeit der Reformation um die Geltung der Schrift ausgebrochene Konflikt hat die Erfahrung zur Grundlage, dass die biblische Autorität sich nicht widerspruchslos durchsetzt, und da, wo sie sich als Autorität imponiert, nicht von allen in gleicher Weise verstanden wird.49
Bereits Vinzenz von Lérins stellt in seinem Commonitorium (434 n. Chr.) fest, dass aus der Schriftlektüre verschiedene Auslegungen und auch Häresien erwachsen. Es bedürfe deshalb der ordnenden Autorität der Kirche und Tradition.50 Die Problematik konkurrierender Schriftauslegung wurde also schon in der frühen Kirche wahrgenommen.
Das Bewusstsein einer Distanz zwischen biblischem Text und kirchlicher Überlieferung bzw. biblischer Auslegung gewann aber mit der stärkeren Distribution zeitgenössischer Bücher im späten Mittel...