1. Berufung hat
Konjunktur Einleitung
Anika Füser, Gunther Schendel, Jürgen Schönwitz
Keine Frage: Das Thema Berufung hat wieder Konjunktur. Und zwar nicht nur in religiösen Kreisen, wo die Frage nach der eigenen Berufung vor und nach Martin Luther eine lange Tradition hat; unlängst wurde sie in einer pietistisch-evangelikalen Publikation von einem prominenten Autor ganz direkt aufgegriffen: »Wozu hat [Gott] mich berufen?« Nein, das Thema Berufung spielt auch im säkularen Bereich eine Rolle, hat hier längst eine eigene Karriere gemacht. So wirbt eine Großbäckerei mit dem Slogan »Brotmeister aus Berufung«. Und ganz ähnlich operiert eine Rechtsanwalts- und Steuerkanzlei, die auf ihrer Homepage mit dem Motto wirbt: »Ihr Recht – unsere Berufung«. Diese Beispiele ließen sich fast beliebig vermehren; die Rede von der Berufung soll hier wohl signalisieren, dass die entsprechenden Anbieter und Betriebe mit Leidenschaft und im Dienst der Kunden dabei sind, dass sie nicht nur kommerziell ausgerichtet sind.
Natürlich kann man kritisch fragen, ob diese Rede von der Berufung die Tiefe des traditionellen Berufungsverständnisses erreicht, wo es ja um nicht weniger als um die Ausrichtung des ganzen Lebens geht. Aber auch diese Dimension findet sich im außerkirchlichen und säkularen Kontext längst mühelos wieder. Ein selbst ernannter »BerufungsBerater« bietet im Internet seine Dienste an und stellt den Besuchern seiner Homepage die klassischen Fragen: »Wofür brennst du? Wo singt dein Herz? Was interessiert dich wirklich? Wo liegen deine Neigungen?« Einer anderen »Berufungsberatung« geht es um »Ihre Einzigartigkeit – Ihr tatsächliches Sein«. Der unausgesprochene Anspruch ist hier: Bei der Berufung geht es um mehr als um den Beruf; hier geht es um eine bestimmte Passung zwischen Person und Tätigkeit, ob es sich nun um »Berufs- und Studienstarter«, den Weg in die Selbstständigkeit, eine berufliche Neuorientierung, die »Berufung 45+« oder die »Berufung statt Ruhestand« geht. In eine ähnliche Richtung argumentieren die zahlreichen gedruckten Berufungsratgeber, die der Soziologe Dirk Kaesler vor einigen Jahren einer eigenen Untersuchung unterzogen hat. Welche Verbreitung diese Ratgeberliteratur hat, ergibt sich schon daraus, dass eine Studentin Kaeslers bei einer Internetrecherche etwa 2.000 solcher Titel ermitteln konnte, die bei einer großen Verkaufsplattform gelistet sind.
Wahlmöglichkeiten und Sinnerwartungen
Woher dieses große Interesse am Thema Berufung? Kaesler bringt es mit einer »allgemein herrschenden Unsicherheit bei der Berufswahl« in Zusammenhang: Auf der einen Seite eröffnen sich (entsprechende formale Bildung einmal vorausgesetzt) viele Berufsmöglichkeiten, auf der anderen Seite ist deren Zukunftsträchtigkeit aber oft nur schwer abzuschätzen. Da erscheint der Blick auf die eigene Berufung, die »›endogenen‹ (internen, individuellen) […] Faktoren« eine erfolgsversprechende Entscheidungshilfe.
Klar ist: An die Berufswahl und die Berufstätigkeit sind heute vielfach bestimmte Sinnerwartungen geknüpft. Und zugleich sind es bestimmte Entwicklungen in der Arbeitswelt selbst, die dafür sorgen, dass der Zusammenhang zwischen Person und Berufstätigkeit enger wird, dass bei vielen Tätigkeiten die Entscheidungsspielräume steigen, die Arbeit den Menschen aber auch »näher rückt«.
Was die Sinnerwartungen angeht, so sind die Ergebnisse der aktuellen Shell-Jugendstudie von Interesse. Schon die Studie von 2006 hat gezeigt: »Die meisten Jugendlichen, vielleicht mit Ausnahme der ›Materialisten‹, heute gehen mehrheitlich nicht mit einer finanziellen Motivation an ihren Beruf heran, sondern im Gegenteil eher mit einer anspruchsvollen Vorstellung von Selbstverwirklichung, Kreativität und Sinnerfüllung.« Diese Ergebnisse werden durch die aktuelle Studie von 2015 bestätigt: 90 Prozent der befragten Jugendlichen zwischen 12 und 25 Jahren erwarten von der Berufstätigkeit »Möglichkeiten, etwas zu tun, das ich sinnvoll finde«, und 85 Prozent hoffen auf »Möglichkeiten, etwas Nützliches für die Gesellschaft zu tun«. Damit liegen diese Erwartungen bei Jugendlichen immerhin an dritter bzw. fünfter Stelle, während gute Aufstiegsmöglichkeiten und ein hohes Einkommen erst an siebter bzw. achter Stelle stehen (78 bzw. 77 %). Am wichtigsten sind den Jugendlichen ein sicherer Arbeitsplatz und die Möglichkeit, eigene Ideen einzubringen (95 bzw. 93 %), sehr wichtig ist auch »genügend Freizeit neben der Berufstätigkeit« (88 %).
Allerdings unterscheidet sich die Bedeutung dieser Faktoren je nach sozialer und regionaler Herkunft und nach Geschlecht: Jugendlichen aus »unteren sozialen Herkunftsschichten« sind »ein hohes Einkommen und gute Aufstiegsmöglichkeiten wichtig«. Eine solche Nutzenorientierung ist bei Jugendlichen aus Ostdeutschland besonders ausgeprägt. Im Geschlechtervergleich fallen die jungen Frauen auf: Sie erwarten von der Berufstätigkeit überdurchschnittlich häufig Erfüllung, indem sie eigene Ideen einbringen wollen und sich eine sinnvolle Tätigkeit wünschen. Zugleich kombinieren viele von ihnen »idealistische[.] und materialistische[.] Ansprüche an den Beruf« und wünschen sich ausreichend Zeit und Möglichkeit zum Familienleben.
Diese Ergebnisse belegen die Bedeutung von Sinnerwartungen an den Beruf, sie belegen aber auch den Versuch (gerade von jungen Frauen), die Berufstätigkeit nicht zum alleinigen Sinnlieferanten werden zu lassen. Zugleich erinnern die Ergebnisse zur sozialen und regionalen Herkunft an die Frage von Dirk Kaesler, ob Berufung etwas ist, das man sich erst »leisten« können muss. Eine wesentliche Voraussetzung dafür sind Bildung und die damit verbundenen Wahlmöglichkeiten auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt.
Entgrenzung und »Subjektivierung« –
die Arbeit rückt näher an den Menschen
Aber schauen wir auf die Seite der Arbeitsbedingungen, der Arbeitswelt. Auch hier zeigen sich Entwicklungen, die direkt oder indirekt mit der Berufungsthematik zu tun haben. Die zurückgehende Verbreitung des sogenannten »Normalarbeitsverhältnisses«, das Anwachsen befristeter Beschäftigungsverhältnisse sorgt dafür, dass sich die Einzelnen in ihrer Erwerbsbiografie tendenziell häufiger vor die Entscheidung nach dem »richtigen« Beruf gestellt finden. Die Berufsentscheidung ist nicht mehr zwingend eine Entscheidung für das ganze Leben. Zugleich kann von dieser Entscheidung in Zeiten, da die individuellen Risiken zunehmend privatisiert sind, besonders viel abhängen.
Dazu kommen die Entgrenzungstendenzen in der Arbeitswelt, die dafür sorgen, dass sich viele Arbeitnehmer die Arbeit immer weniger »vom Leib halten« können – und dies zum Teil auch nicht wollen. Die Entgrenzung von Ort und Zeit der Arbeit ist ein Thema, das die Arbeitnehmer einerseits nach der Work-Life-Balance fragen lässt – die angesprochenen jungen Frauen aus der Shell-Jugendstudie sind ein gutes Beispiel dafür. Andererseits geht es mobilen Arbeitnehmern eher um eine »Work-Life-Integration«, um eine optimale Verbindung, vielleicht auch Fusion von Arbeit und Freizeit: »Wieso sollten wir Arbeit und Leben überhaupt trennen?«, fragt die Europa-Chefin eines Internetunternehmens in einem Hochglanzmagazin mit der Hauptzielgruppe junge Akademiker. Es geht darum, »die Arbeitsaufgaben in den Lebensrhythmus einzutakten«, wenn nötig und gewünscht auch 24 / 7. Die Arbeit ist hier nicht mehr die ungeliebte Zeit am fest definierten Arbeitsplatz, nach der das eigentliche Leben beginnt, sondern sie ist selbstverständlicher und möglicherweise auch lustvoll erlebter Teil des Lebens.
Andere Entwicklungen gehen über den Kreis einer digitalen oder kreativen Boheme weit hinaus. Die Entscheidungsspielräume der Mitarbeitenden wachsen, nicht nur bei »qualifizierten Experten« und Leitungspersonen, sondern auch bei anderen Mitarbeitenden. Innerbetriebliche Hierarchien verlieren an Bedeutung, »werden durch horizontale und ›diagonale‹ Aushandlungs- und Abstimmungsbeziehungen ergänzt«. »Gruppen- und Teamarbeit, Projektgruppen, Zielvereinbarungen« gewinnen in der posttayloristischen Arbeitsorganisation und einer durch Jobenrichment geprägten Arbeitsphilosophie an Bedeutung, genauso wie die »Kontakte zu Kunden und anderen externen Akteuren« in der Dienstleistungsgesellschaft immer wichtiger werden. Die Forderungen an »Eigenverantwortung und Lernbereitschaft« steigen. Diese inzwischen gar nicht mehr so neue Arbeitswelt hat auch Folgen für die subjektive Einstellung: Gefordert, aber auch ermöglicht ist mehr persönliches Engagement; die Rede ist von einer »Subjektivierung der Arbeit«: »Man arbeitet nicht nur, um Geld zu verdienen, sondern auch, um eigene Ideen umzusetzen, mit anderen an spannenden Projekten zu arbeiten und seine eigenen Möglichkeiten auszunutzen und zu erweitern.«
Diese Entwicklungen müssen nicht bedeuten, dass alle Mitarbeitenden ihre Arbeit nun als Berufung verstehen. Aber die Subjektivierung der Arbeit verbessert die Chancen, dass Arbeitnehmer ihre Tätigkeit als sinnvoll erleben. Zugleich steigert diese Entwicklung auch die Gefahr der (Selbst-)Ausbeutung: Unternehmer »bekommen von ihren Angestellten mehr Leistung – ohne dafür mehr bezahlen zu müssen«.
Freiwilliges Engagement – ein wachsendes Feld für Sinnerfahrungen
Aber die Erwerbsarbeit ist längst nicht das einzige expandierende Feld, auf dem Sinnerfahrungen gemacht werden können. Auch das freiwillige Engagement ist ein Bereich, in dem nach den Worten des Deutschen Freiwilligensurveys 2014 aus subjektiver Perspektive Erfahrungen »des Findens von Lebensfreude und Lebenssinn« gemacht werden, der also auch offensteht für Erfahrungen von Berufung. Für das Ansteigen der Engagementquote, das in den letzten fünfzehn Jahren zu verzeichnen ist, gibt es mehrere Gründe: Dazu beigetragen haben die gewachsene Zahl der Angebote, ein verbessertes Freiwilligenmanagement, aber auch die »zunehmende Anzahl von Menschen mit hohem Bildungsabschluss«. Das heißt im Umkehrschluss, dass bestimmte soziale Gruppen am Aufwuchs des Engagements nicht in gleichem Maße teilnehmen; nach den Ergebnissen des Deutschen Freiwilligensurveys 2014 sind es neben Menschen mit starken gesundheitlichen Einschränkungen vor allem Menschen mit geringer formaler Bildung, bei denen die Engagementquote unterdurchschnittlich ausfällt. Gilt auch hier, dass man sich Berufung leisten können muss?
Unser Überblick macht deutlich: Es ist wohl kein Zufall, dass Berufung und Sinnerwartungen ein Thema sind, jedenfalls in bestimmten Milieus. Im bereits zitierten Hochglanzmagazin für die jungen Akademiker heißt es ziemlich anspruchsvoll: »Mit dem Job ist es wie mit der Liebe. Jeder sucht den Richtigen – ihn zu finden ist aber schwer.« Sind diese Sinnerwartungen, die auch im Ehrenamtsbereich eine Rolle spielen, ein Ergebnis des Wertewandels, der Entwicklung von »Pflichtwerten« hin zu »Werten der hedonistisch-materialistischen und der idealistischen Selbstentfaltung«?
Deutlich ist: Es lohnt sich, sich mit dem Thema Berufung und zugleich auch mit der Frage nach dem Berufsverständnis zu beschäftigen, denn für Martin Luther fiel vor fünfhundert Jahren beides zusammen. »Wie aktuell ist das reformatorische Berufsverständnis?« ist daher die Frage, der wir...